Roman

B.6

Ein Spiel?

Neulich, als ich anlässlich meines Geburtstages mit Freunden in einem Cafe beim Frühstück saß – ein paar Wochen bevor die Corona-Pandemie eine weltweite Zivilisationskrise auslöste –, wurde mir die Frage gestellt, wann es endlich in Schells Bureau etwas neues gäbe. Worauf ich mich zu meiner Überraschung sagen hörte, dass ich im Zweifel sei, ob es überhaupt so weitergehen kann; dass es mir so, wie ich bisher erzähle, viel zu langsam vorwärts geht; dass ich meine Erzählweise wohl würde ändern müssen; dass ich aber die drei Erzählungen, die da laufen, noch zu einem gewissen Punkt führen wolle, und dann
Und dann?, frage ich mich jetzt: Wieso eigentlich und dann? Auf was warte ich denn? Was hindert mich, jetzt gleich mein Vorgehen zu ändern?

Ich empfehle ja der Leserschaft, sich bei jedem Eintritt in Schells Bureau aufs neue zu fragen: Wo sind wir hier? Um sich auf die Aufmerksamkeit aufmerksam zu machen. Bemerken, dass ich bemerke: nichts anderes heisst ja bewusst zu sein.
Aber frage ich mich selbst eigentlich noch, wenn ich hier eintrete, wo ich bin? Nein, ehrlich gesagt. Und nun, da ich mir diese Frage wieder einmal stelle, muss ich zugeben, wo ich hier bin, weiss ich im Moment tatsächlich nicht. Mir ist wie in einem Gespräch, wenn man an einen Punkt kommt, wo man bemerkt, dass man den Faden verloren hat und sich fragt: Wie sind wir denn jetzt darauf gekommen?, und von da aus rückwärts den Gesprächsverlauf zu rekonstruieren beginnt.

Aufgewacht mit der Vorstellung, dass die Kopfschmerzen, die ich morgens hin und wieder habe, von dem Ding herrühren, das in mir ist; einem winzigen Apparat, einer Art Mini-Chip. – Wie bitte? Schwachsinn! – Na gut, nicht in mir direkt, sondern in H-Schell, als der ich in Frankfurt eine Art Leben als Taxifahrer führe. – Okay, fiktiv also. Du bist fiktiv irgendwie gechipt. Hast du geträumt. – Wahrscheinlich ja: geträumt; bin jedenfalls damit aufgewacht. – Hast dich in deine Romanfigur, in diesen H-Schell, so eingelebt, dass du auch seine Träume kennst, wenn nicht sie sogar selber träumst. Und offenbar ist dieser H-Schell Paranoiker. Fragt sich: Kann man paranoid träumen, ohne Paranoiker zu sein? – So kann man fragen, klar; oder auch gleich den Verdacht äussern: Du fühlst dich wohl verfolgt? Doch das führt zu nichts gutem, denn Paranoia, als Verfolgungswahn verstanden, ist ein Kampfbegriff, den als Argument jeder gegen jeden ins Feld führen kann.
Fragen wir anders: Wie teilst du etwas mit, das deshalb geheim ist und auch geheim bleiben muss, weil es im Klartext auf jeden Fall nur missverstanden werden kann? – Indem ich für das Geheime eine Form der Mitteilung wähle, mittels derer das Geheimnis gewahrt bleibt.
So hat es zum Beispiel Stanley Kubrick dazumal mit seinem letzten Film Eyes Wide Shut gemacht. Er konnte sicher sein, dass alle, die von Berufs wegen dem Publikum solche Werke erklären, etwas darüber sagen können; dass niemand aber vermag, oder es wagt, in akzeptabler Weise auszusprechen, was uns da – wide shut verschlüsselt – wirklich mitgeteilt wird. Diese Methode, Geheimes durch das Offensichtliche gleichzeitig zu verbergen und mitzuteilen, Steganografie genannt, ist die bewährteste und daher weitest verbreitete Art von Verschlüsselung, nehme ich an.

Hier, in der Abteilung „Bureau“, hat unser H-Schell es zuletzt mit einem Gangster namens Habib zu tun bekommen und lange genug habe ich nun schon darüber gerätselt, was der wohl von ihm will …
Wir sehen Schell in jener Spielothek am einen Ende des Tresens sitzen, am anderen den jungen Araber, der ihn vorhin hierher beordert hat. Niemand sonst da, wie Schell bemerkt, sobald sich seine Augen an die dunkelviolette Schummerbeleuchtung gewöhnt haben. Die Automaten ringsum blinken und zwitschern monoton vor sich hin.

Neulich war dieser Habib zu ihm ins Taxi gestiegen mit den Worten: „Du bist Schell, richtig?“ Worauf Schell nickte, nur darauf bedacht, weder Erstaunen noch Neugier zu zeigen. „Du bist auch im Spiel, hab ich gehört.“ „Keine Ahnung, was Sie meinen. Wohin soll ich Sie fahren?“ „Egal. Fahr los. Du hast vor ‘ner Zeit doch am Bahnhof mal so’n Ding aus ‘nem Schliessfach geholt.“ „So’n Ding?“ „’ne kleine Comic-Figur. Azuma. Den König.“ „Ist schon eine Weile her. Wieso wissen Sie das?“ „Ich bin Habib. Das Spiel läuft schon lange, und ich bin schon lange dabei. Irgendwie haben sich aber die Regeln verändert. Man kapiert sie nicht mehr.“
Schell war losgefahren. „Habib. Okay. Was habe ich mit den Regeln eines Spiels zu tun, das ich gar nicht kenne?“ „Wir haben recherchiert. Was nicht leicht war. Und das Ergebnis wurde gründlich überprüft. Demnach steht fest, dass die Regeln sich geändert haben, seitdem du das Ding aus dem Schliessfach geholt hast.“ „Aha. Und ist das gut? Oder nicht so gut?“ „Die Regeln nicht mehr zu kapieren, finden wir nicht so gut. Das ganze Spiel ist undurchschaubar geworden.“ „Warum es dann nicht einfach aufgeben?“ „So ein Spiel ist das nicht, Mann.“
Und dann hatte ihn Habib über folgendes aufgeklärt: Sein Informant (er nannte ihn den IT) war auf jenes Weblog namens Schells Bureau gestoßen; hatte sich daraufhin in die Videoüberwachung des Hauptbahnhofs gehackt und tatsächlich die im Blog geschilderte Sequenz bei den Schliessfächern gefunden.
Man wusste also – wer man auch immer war –, dass das, was darüber in Schells Bureau geschrieben stand, real stattgefunden hatte. Seitdem glaubte man, dass Schell in besagtem Spiel eine Schlüsselrolle inne hatte.
Ausserdem wusste man aus diesem Blog genug über Schell, um ihn aufspüren und observieren zu können. Und nachdem man das lange genug getan hatte, war man zu dem Schluss gekommen, dass Schell offenbar ahnungslos war, was das Spiel, und erst recht was seine Schlüsselrolle darin anging.
Da hatte Schell schon das Taxi angehalten; hatte noch höflich zugehört; und nun stellte er klar, dass er nichts mit alledem zu tun haben wollte, und forderte diesen Habib freundlich auf, doch bitte auszusteigen.
Natürlich aber hatte ihn die Sache aufgewühlt. Da hatte er sich doch gerade erst wieder so schön stabil gefühlt, und nun ging das alles wieder los …
Inzwischen allerdings hatte er seine Gedanken schon soweit unter Kontrolle, dass er ihnen rechtzeitig, bevor der innere Tumult ausbrach, einen Punkt setzen konnte (wie, wissen wir ja schon: indem er sich das Machtwort sagte). Und so wirkte es geradezu beiläufig, wie er dann Manne von der Begegnung mit Habib erzählte.
„Habe ich das nicht immer wieder gesagt? Dass dieses Spiel realer ist als wir’s uns vorstellen?“ Manne meinte damit ein Online-Spiel, über das er seit geraumer Zeit Nachforschungen anstellte; welches seiner Ansicht nach eine Art Metapher sei beziehungsweise ein Programm zur Einübung eines ganz anderen Spiels, Flysh genannt, das in der Realität ablaufe. Das nämlich war Mannes Theorie, die das Ereignis erklärte und die ihm inzwischen zur Überzeugung geworden war – an die Schell allerdings immer noch nicht glauben mochte –: dass jener Ort im Internet, Schells Bureau, die Plattform sei zur Koordination dieses in der Realität laufenden Spiels. Viele spielen es, so vermutete er, aber nur ein paar wenige machen es.
„Das Spiel, von dem dieser Habib redet, ist also dein ominöse Flysh-Ding, meinst du?“ „So ist es. Nur dass es nicht so sehr mein, sondern eher unser, genauer: dein ominöses Flysh-Ding ist.“
Und als gleich tags darauf Habib erneut zu ihm ins Taxi stieg, sagte sich Schell: Nun gut, wenn’s sein muss – spielen wir.
„Zur Bibliothek.“ „Gibt davon eine Menge in Frankfurt.“ „Zu der, wo du immer rumhängst.“ „Soll heissen, Sie wissen was über mich.“ „Alles. Nicht nur, wo du liest; auch wo du dein Croissant frisst. Mit wem du telefonierst; sogar, mit wem du nicht telefonierst. Und dass du kein Smartphone hast. Und wir kennen auch dein Geheimnis.“ „Ach so, ich hab nur ein Geheimnis?“ „Wir haben dich komplett gehackt.“
Sie waren bereits in Fahrt …
I’m a stranger in your town, I’d like to dance with you … Schell drehte die Musik lauter und tat, als müsse er sich auf den Verkehr konzentrieren. Plötzlich, mit einem Ruck, starrte er aus dem rechten Seitenfenster und trat voll auf die Bremse, sodass es Habib heftig nach vorn gegen die Sitzlehne warf. Dann gab er Gas, Vollgas, und bog scharf in die nächste Seitenstraße ab, und gleich darauf wieder scharf in die nächste, mit quietschenden Reifen, und unvermindert rasant um eine dritte Ecke, und da fragte der hin und her geworfene Habib: „Spinnst du?“
Schell verlangsamte und fuhr normal weiter.
I have no fancy shoes but I’m still dancing,
dancing to the mu-u-sic, sweet Reggae mu-u-sic
„Was sollte denn das, hey?“
„Haben Sie die halbe Aprikose nicht gesehen?“ Er zwinkerte Habib im Rückspiegel zu; der ihn aber nur finster anstarrte. „Halbe Aprikose – sagt Ihnen nichts? Dass man da schleunigst in Deckung gehen sollte? In der Eile, wenn man nicht aufpasst, kann’s passieren, dass man dann irgendwo rauskommt, wo man sich null auskennt.“ Er schaute nach draussen. „Diesmal ging’s jedenfalls gut, wir sind noch in Frankfurt, wie’s aussieht.“
„Du bist ja richtig durchgeknallt.“
„Oder auch nicht.“ Er lenkte den Wagen in eine Parklücke. „Hören Sie, Habib. Mag sein, Sie sind im Spiel, ich glaub’s Ihnen. Nur interessiert mich das Level, auf dem Sie spielen, kein bisschen.“ Er öffnete das Handschuhfach, tastete darin herum, brachte die kleine Azuma-Figur zum Vorschein. „Wollen Sie das haben? Hat auf Ihrem Level vielleicht ‘ne Bedeutung.“ „O nein, Mann! Das symbolisiert den König, und das hast du bekommen.“ Er schaute Schell durchdringend an. „Du hast wirklich keine Ahnung.“ „So sieht’s aus. Und Sie wissen nicht, was ‘ne halbe Aprikose bedeutet.“ „Verarschung – wenn das nicht klar ist.“ „Was wollen Sie also?“ „Zusammenarbeiten.“ „Arbeit habe ich schon mehr als genug. Wollen Sie immernoch zur Bibliothek?“ „Fahr uns zu deinem Cafe. Ist kurz vor zwölf; Zeit, dass du zum Frühstück kommst.“
Fünf Minuten darauf waren sie schon da. „Macht fuffzehn Euro, bitte.“ Habib gab ihm zwanzig und sagte: „Okay, du traust mir nicht. Verstehe ich. Werde dir also was zeigen.“ „Nicht nötig. Bei allem Respekt.“ Habib zuckte die Achseln,„Na gut“, dann deutete er auf die Spielothek neben dem Cafe: „Das ist mein Laden. Wenn du’s dir überlegt hast, da findest du mich, klar?“ Schell reagierte nicht darauf. Habib hielt im Aussteigen inne: „Hey, das mit der halben Aprikose – war doch Verarschung, oder?“
Ja und nein. Schell blickte ihm in die Augen und kam zu dem Ergebnis: Die Antwort würde ihn nicht zufriedenstellen. Also schwieg er. Habib lachte. „Sehr mutig oder sehr dumm. Rate mal, wer darüber entscheidet!“ Schell hob die Augenbrauen. „Sie, Habib?“ „Genau. Sei also lieber ein kluger Mann!“ Damit stieg er aus dem Wagen.
Als Schell abends Manne gegenüber diese Spielothek erwähnte, wusste der sofort, um welchen Habib es sich handelte. „Der gehört zu einem Gangster-Clan.“ Worauf Schell erschrak. „Wenn sich so einer verarscht fühlt …“ „Nicht gut.“
„Weisst du, was ‘ne halbe Aprikose bedeutet?“ Manne überlegte. „Hab bei dir irgendwo mal was darüber gelesen. Ein Zeichen, dass man sich schnellstens verpissen sollte.“ „Weil in der Nähe eine Bombe oder sowas kurz davor ist, hochzugehen. Habe da heute die halbe Aprikose zwar nicht wirklich gesehen, aber irgendwas an Habib liess mich daran denken; und das reichte mir in diesem Falle schon, um entsprechend zu reagieren.“ „O je, mit quietschenden Reifen im Zickzack, nehme ich an.“ „Mit allem, was aus der Karre noch rauszuholen ist.“ „Verstehe. Damit Habib dich für bekloppt hält; allerdings zu recht. Denn im Ernst, Schell, weisst du, was du bist? Ein Psycho. Und daher meine ich immernoch, und mehr denn je – und Uschi ist sehr stark derselben Meinung –, dass du endlich in Urlaub gehen, ich meine: verreisen solltest.“ „Und ich, immernoch, stimme dem zu. Wenn ich nur wüsste, wohin.“ „Egal! Du musst hier raus. Merkst ja gar nicht, wie isoliert du eigentlich lebst, und wie dich das fertig macht.“
„Interessiert dich gar nicht, was Habib von mir will?“ „Kann ich mir schon denken. Er braucht dich für sein Team.“ „Das denkst du dir einfach so?“ „Ich weiss es. Ihm fehlt zur Zeit für ein Team der Dritte. Man kann nur als Dreier-Team spielen, das ist auf diesem Level eine der unumgänglichen Regeln. Frag nicht, warum, ist nun mal so.“ „Dann bist du also …?“ „Klar, auch im Spiel.“ „Und mit wem im Team?“ „Jetzt reg dich bloß nicht auf, Schell – mit Sciffi und dir.“ Da glotzte Schell. Dass ich auf diesem Level auch mitspiele – „Okay, ich reg mich mal nicht auf, aber – wieso weiss ich davon nichts? Sowas muss man mir doch sagen!“ „Ach, wie oft ich das versucht habe – aber du hörst ja nie zu. Immer wenn’s um das Ereignis geht, driftest du ab und fängst von der Realität an, vom Unerklärlichen, von Formen des Denkens, den Grenzen der Logik, deinem komischen Tautoloid und so weiter.“ „Nennt sich Meta-Ebene.“ „Und ist ja auch gut und schön, nur bist du da dermaßen fixiert, dass du gar nicht mitkriegst, was konkret um dich herum passiert.“ „Dann hättest du dich einfach anders, sagen wir interessanter darüber äussern sollen.“ Da war Manne kurz sprachlos. „Jetzt muss ich mich echt zurückhalten. Aber warum eigentlich? Denn vielleicht brauchst du wirklich nur mal kräftig was auf die Glocke. Weil du’s anders einfach nicht merkst.“ „Was nicht merke? Dass alle mich verarschen?“ „Was für ein Monster an Arroganz du bist. Dass du alle verarscht. Inklusive dich selbst.“
Sie schwiegen eine Weile. Bis Schell sagte: „Also nicht mehr Herr des Flyshwerks und Allwissender Kreator, sondern inzwischen die Kehrseite: Psycho und Monster. Danke für diese sehr interessante Lektion. Werde ich mir zu Herzen nehmen. Was sollte ich noch über das Spiel und unser Teamplay wissen?“
„Dass dieses Level noch ans Internet gebunden ist. Dass hier das Virtuelle noch neben dem Realen läuft, parallel zwar, aber immernoch getrennt. Man könnte auch sagen, das Spiel ist halb real, halb virtuell. Aber es gibt hier schon Hinweise darauf, dass das ab dem nächst höheren Level nicht mehr so ist. Da deckt sich dann das künstlich Gemachte quasi eins zu eins mit der Wirklichkeit. Geht dann darum, trotzdem noch irgendwie unterscheiden zu können. Sonst sitzt man da in der Falle, Stichwort Endlosschleife. Und damit einem das nicht passiert, damit man auch von da weiterkommt, geht’s auch auf diesem Level schon darum, zwischen virtuell und real unterscheiden zu lernen. Was hier so einfach erscheint, ist dort, nach den Gerüchten, die man hört, verdammt schwierig.“
„Siehst du, Manne? Deshalb ist mir die Meta-Ebene so wichtig. Im übrigen glaube ich das Prinzip in etwa verstanden zu haben: Wie jedes Level eigentlich nur Vorbereitung fürs nächste ist, so auch dieses. Was aber wird aus den Dreier-Teams?“ „Die lösen sich auf, heisst es; spielen auf dem nächsten Level keine Rolle mehr. So wie unser Team für dich ja offenbar jetzt schon keine Rolle mehr spielt. Weshalb ich auch glaube, dass du schon auf dem nächsten Level bist. Das nur noch nicht begriffen hast. Oder deine Ahnungslosigkeit ist nur gespielt. Dann spielst du ziemlich gut.“ „Glaube, was du willst, mein Freund. Manchmal spiele ich, meistens aber nicht. Das entscheide ich von Fall zu Fall, ohne Strategie.“
„Hast du mal in letzter Zeit versucht, Schells Bureau zu öffnen?“ „Schon lange nicht mehr. Du?“ „Ich hab’s irgendwann aufgegeben. Ist was für Hacker. Aber Sciffi hat es ständig weiterversucht; der ist im Hacken ganz gut. Und vor kurzem hat er’s geschafft, plötzlich war er drin. Ein Zufallstreffer, denke ich, doch er meint, der Rasta Spirit habe ihn gelenkt. Egal. Wir haben alles ausgedruckt; kannst du mal lesen, wenn’s dich interessiert.“ Schell winkte ab. „Das brächte mich nur wieder durcheinander. Bin doch zur Zeit so schön stabil.“ „Ach ja … Weshalb du auch nicht wahrhaben willst, wie dringend du Urlaub bräuchtest.“ „Manne! Ich werde verreisen. Bald. Versprochen.“

Plötzlich zu sich kommend, fragt er sich: Was rotiert da eigentlich so?, und bemerkt, dass er die ganze Zeit in ein gleichförmiges Kreisen aus Rot und Schwarz und lauter Zahlen starrt, nämlich auf den Bildschirm eines Spielautomaten, der eine Roulette-Scheibe simuliert. Die immer mal stoppt, bis eine Stimme „Rien ne va plus“ sagt und dann sich wieder dreht.
Schell blickt auf die Uhr: zehn Minuten erst vergangen, und erneut versenkt er sich in das hypnotische Gekreise auf dem Bildschirm.

Dass Schell sich selbst nicht wie ein Psycho-Monster vorkommt, ist klar; doch dass Manne ihn so nennt, gibt ihm immerhin zu denken; zumal ihm diese Einschätzung nicht neu ist, so ähnlich hatte ja auch Ingrun sich schon über ihn geäussert. Und wenn Manne und Uschi so sehr darauf dringen, dass er endlich mal Urlaub macht, meinen sie eigentlich – auch das ist ihm klar –: dass er unbedingt sein Leben ändern sollte. Welches derzeit doch aber gut, ja wenn nicht sogar ideal läuft, wie er findet: Die Arbeit, nämlich sein allmorgendliches Schreiben, erscheint ihm hinreichend produktiv. Der Taxi-Job macht ihm noch Spaß; ebenso, sich fitzuhalten mit Boxtraining und Joggen. In einer der großen Bibliotheken versorgt er sich mit Philosophie-Stoff. Hinzu kommen die unterhaltsamen Abende in der Gemeinschaftsküche und neuerdings auch noch die Teestündchen bei Lady Rainbow. Und er schläft gut und hat interessante Träume. Sogar Sex gibt’s ab und zu. Denn seit er überzeugt ist, er habe sich in der Normalität wieder solide untergebracht, erlaubt er sich, was er sich lange Zeit verboten hatte, nämlich gelegentlich Frau Doktor aufzusuchen.
Er denkt: Wenn ich so resümiere – was will ich mehr? Es fehlt mir nichts.
Denkt er. Doch wir, die wir ihn von aussen bedenken, fragen uns, was zum Beispiel sich auch Uschi fragt: Liebt er eigentlich?
Die Scheibe stoppt; dann wieder: „Rien ne va plus“, und rotiert weiter.

Eines Tages ging vorn die Tür des Taxis auf und jemand, der sagte: „Gruß von Habib“, setzte sich auf den Beifahrersitz, mit einem Laptop, den er sogleich aufklappte, um Schell etwas zu zeigen. Schells Bureau.
Schell nickte. „Sie haben’s geknackt. Habib erwähnte es schon. Demnach sind Sie sein IT.“ „Nicht seiner. Einfach I.T., wie Ingo Terz. So heisse ich. Bin mit Habib nur auf diesem Level ein Team. Und Schell, hey, es wäre ziemlich cool, wenn Sie mit uns, ich meine …“, er nickte in Richtung Laptop, „wie Sie sehen, haben wir’s drauf. Wir können da rein und raus wie wir wollen. Die ganze Verschlüsselung des Spiels – haben wir im Griff.“ „Stark, wirklich stark. Aber wie ich zu Habib schon sagte: Interessiert mich nicht.“
Es sah nur so aus, als ob IT ihn anstarrte; tatsächlich starrte er knapp an Schell’s Gesicht vorbei. Ein knochiger, recht blasshäutiger, ansonsten unauffälliger Mensch um die Dreissig; der leider etwas unangenehm aus dem Mund roch. „Sehr schade“, sagte er. „Weil Habib, der regt sich immer so auf, wenn er nicht kriegt, was er will.“ „Verstehe. Trotzdem. Fahre ich Sie noch irgendwohin?“ „Nicht nötig.“ IT klappte seinen Rechner zu und stieg aus.
Tags darauf, als Schell zur üblichen Stunde im Cafe beim Frühstück saß, setzte sich Habib zu ihm. „Hast mich noch gar nicht in meinem Laden besucht.“ „Mir war bisher nicht langweilig genug.“ Habib lachte. „Wen du hier provozierst, ist dir doch klar, oder? Du hast dich umgehört und jeder sagt dir, ich bin Gangster. Also solltest du eigentlich verstehen – “ „Sie brauchen einen Dritten für Ihr Team, habe ich verstanden. Und habe auch verstanden, dass ich bereits zu einem Team gehöre. War mir neu.“ „Dass du zu deinem Team stehst, find ich gut. Loyalität – super Sache. Aber solche Kiffer wie Manne und Sciffi, glaubst du, die stehen auch loyal zu dir?“ „Bitte, Habib, begreifen Sie doch, dass mir das Team völlig egal ist; ob dieses oder jenes Team – egal; so wie mir dieses ganze Level egal ist.“ „Jetzt hör endlich auf mich zu siezen! Wie sollen wir da Freunde werden?“ Er seufzte, und wirkte dabei so aufrichtig enttäuscht und traurig, dass Schell einen ersten Anflug von Sympathie für ihn verspürte. „Scheint Ihnen ja – ich meine dir – wirklich am Herzen zu liegen, dieses komische Spiel.“ „Ja, Mann! Ist so irre, das Ding. Ein so gigantisches – ja wie soll man sagen? Mechanismus – ein gigantischer Mechanismus. Wie so’n Uhrwerk. Wo bis ins kleinste Detail alles genauestens ineinandergreift, pausenlos, und einfach irre kompliziert.“ „Du meinst das Internet?“ Habib überlegte; schüttelte den Kopf. „Das ist nur Teil davon; vielleicht ‘ne Art Modell. Was ich meine, ist noch viel größer.“ „Fühlt sich etwa so an?“ Und Schell legte seine Handflächen auf die imaginäre Weltkugel – Beppo’s Gebärde –, bis sie zu vibrieren begannen. „Genau, genau! Das wächst und wächst, quillt irgendwie immer weiter auf.“ „Wow, Habib, da bist du ja echt mit was beschäftigt.“ „Hey, und wenn du wüsstest, was wir vorhaben.“ „Da muss ich jetzt aber lachen – wie kann man mit so einem Ding was vorhaben?“ „Nicht mit dem Ding – in dem Ding. Das ist ja das Spiel. Aber jetzt verarscht du mich wieder. Weil das alles weisst du ja längst. Deshalb brauch ich dich in meinem Team. Natürlich kann ich dir unseren Plan nicht verraten, ich sag dir nur, würdest du ihn kennen, wärest du auf jeden Fall dabei.“ „Verrate ihn mir bitte nie!“
Habib seufzte erneut; resigniert. Doch da bemerkte Schell das Listige in seinen Augen und er dachte: Show. Das hier gehört zu seinem Plan. Kann sein, er braucht mich, aber nicht für sein Team. Sonst würde er andere Geschütze auffahren; und sich keine Frechheiten von mir gefallen lassen. Vorsicht, Schell, da zieht sich irgendwie ein Netz um dich zusammen.
„Aber du kannst mir mal was verraten, Schell: Warum du eigentlich kein Smartphone hast.“ „Hm. Brauch’s nicht.“ „Quatsch. Raus mit der Sprache!“ „Ich sehe, wieviel Aufmerksamkeit die Leute auf das Ding richten, und da ich auch nur Otto Normal bin, wäre das aller Wahrscheinlichkeit nach bei mir nicht anders. Aber Aufmerksamkeit ist nun mal die stärkste Kraft im Universum, sehr kostbar, verstehst du?, und das Bisschen, was mir davon zuteil ist, will ich nicht auf so ein Gerät verschwenden.“ „Wenn du dich mit dieser Einstellung für Otto Normal hältst, bist du wirklich nicht von dieser Welt.“ „Man kann doch wohl Otto Normal sein, ohne sich auch wie ein solcher zu verhalten.“ „Das ist Philosophie; mir zu hoch. Mach’s gut, ich muss los.“

Und der Boss lässt weiter auf sich warten. Das violette Halbdunkel, das eintönige Gedudel der leerlaufenden Automaten, der Mief, der aus dem abgewetzten Teppichboden aufsteigt – allmählich muss er kämpfen, um es hier noch auszuhalten. Vor allem macht sich ein Druck im Kopf bemerkbar, und wird immer stärker.
Vor kurzem hatte er von Kopfschmerzen geträumt, und er fragt sich, als er nun daran zurückdenkt: Kann man überhaupt Schmerzen haben im Traum? Aber es war ein Traum, und ich hatte Schmerzen.
Es war ein wirklich unschöner, ja entsetzlicher Traum gewesen.
In einem Auto, nachts. Habib am Steuer; nahm ihn mit. Er hatte sich ihm aufgedrängt, glaubte paradoxerweise jedoch, entführt zu werden. Von Habib nur wie eine Formel immer wieder „Du musst doch nicht … Du musst doch nicht“, was ihn aber nur immer panischer machte. Dabei vergaß er, dass er eigentlich nur unterwegs war, um ein Mittel gegen seine Kopfschmerzen aufzutreiben. Dann bei plötzlich hellichtem Tag irgendwo im Westend. Er folgt Habib in eine große Villa, von der irgendwie klar ist, dass sie den von Erblitz-Leuen gehört; weshalb er sich darauf gefasst macht, gleich Ingrun wiederzusehen. Doch landet er in einer Halle voller Menschen; sieht wie am Bahnhof aus. Habib ist weg. Aber Ingrun muss doch hier irgendwo sein; das hat auf einmal Priorität. Er hält angestrengt Ausschau, will eine der Rolltreppen nehmen, hinunter in die nächste Halle; trifft jedoch stattdessen Manne, der ihn offenbar erwartet hat, da er mit einem Zeichen, ihm zu folgen, sich gleich in Bewegung setzt. Klar nun, dass es hier nicht um Ingrun geht. Die Gänge, die sie durcheilen, kahl, sauber, weiss beleuchtet, sind plötzlich Krankenhausflure. Dann, in einem Wartebereich, hält Manne an und sagt: „Musst du entscheiden; ich halt mich da raus.“ Er nickt jemandem zu und setzt sich. Da steht eine Frau, nicht groß, aber sehr aufrecht, in weissem Kittel, mit Mundschutz und Haube. Frau Doktor etwa? Eindeutig nein; doch diese Augen? – kennt er irgendwoher. Er sagt zu ihr: „Ich bin entführt worden.“ In ihrem Blick ist alles milde. Nur ein leichtes Umfangen, denkt er, das ist das richtige Wort. Leichtes Umfangen. Mildert augenblicklich seine Kopfschmerzen. Als sie „Gehen wir“ sagt, kennt er auch irgendwoher ihre Stimme; und als sie dann „Erschrick nicht“ sagt, erkennt er sie: das alte Hippiemädchen, Lady Rainbow. Jetzt ist er ruhig, gefasst, in beinahe heiterer Stimmung. Die sich im nächsten Bereich sogleich verflüchtigt. Intensivstation; totale Techosphäre. Sie stehen still und schauen. Da liegt jemand gebettet, ein Mann um die vierzig, bewusstlos; mit Schläuchen und Kabeln an Apparate angeschlossen. Der –?, so fragt er – bin der etwa ich?, und ein Entsetzen baut sich auf. „Er sieht nur aus wie du, mehr nicht“, flüstert ihm Lady Rainbow zu. „Du träumst.“ Dann will ich aufwachen, sofort! „Bitte schau dir vorher aber dies noch an –“ sie nickt in Richtung einer Gruppe weiss bekittelter Gestalten, die murmelnd auf Bildschirme starren. Darauf sein Inneres per Scan. Und er weiss auf Anhieb, was Gegenstand der Analyse ist: das Ding in ihm; und erkennt sogar die fast unsichtbar winzigen Ziffern, die es trägt, eine Art Seriennummer: A2X27.

„Nett, dass du gekommen bist.“ Habib. Endlich. „Hast dich also entschieden?“ „Mich entschieden?“ „Bei mir mitzumachen.“ „Nee. Einer von deinen Jungs kam und hat mich hier rüberbeordert.“ „Ach so, ja. Weil ich dir Bescheid sagen wollte. Nämlich dass die Sache sich erledigt hat.“ „Das ist nett, mich zu informieren.“ „Der Fairness halber. Damit du dir nicht länger Sorgen machst, dass der böse Habib was von dir will.“ „Du gibst auf? Hm, jetzt, wo ich allmählich Angst vor dir habe …“ „Du hast Nerven, Mann. Das gefällt mir. Doch im Ernst: ich brauch dich nicht mehr.“ Durchaus schrillen da zwar die Alarmglocken bei Schell, dennoch, als er aus der schummrigen Spielothek wieder ans Tageslicht tritt, ist er ungemein erleichtert.

I.7

Chaos

Das Studierzimmer – ja, muss es sein, ist nur vor lauter Chaos kaum wiederzuerkennen. Und am wenigsten habe ich damit gerechnet, jemanden hier vorzufinden, schon gar nicht – Praktikanten! Erinnert mich daran, dass ich hier nicht der Boss bin.
Dass man hin und wieder Praktikanten zugeteilt bekommt, klar, ist prinzipiell in Ordnung. Dahinter steckt doch aber –. – Ja, dass sie dich wahrscheinlich überwachen sollen. Ist das etwa ein Problem für dich? Hast du, ausser dass du paranoid bist, etwas zu verbergen? – Allerdings! Das hier alles war verborgen. Bisher war das Studierzimmer nur mir zugänglich, war Chiffre für Refugium, für Schells Bureau, für alle sowas wie ein running gag, kaum wirklich existent. Und jetzt? Ist es entdeckt, konkret geworden, ist auf einmal ein so normales Büro, dass sogar Praktikanten hereinspaziert kommen. Das letzte Refugium für mich also – futsch!
Es ist nur irgendwie umcodiert worden, reg dich ab. Dass es chaotisch aussieht, zugegeben; ist dir doch aber immernoch als das Studierzimmer erkennbar. Geh davon aus, dass du an dem Chaos selber Schuld hast. Oder sieh es so: Eine Charade vielleicht, die notwendig war. Das Studierzimmer musste entborgen werden – verstehst du? Um es neu zu codieren. Also bitte keine Panik.
Ich blicke zwischen dem jungen Mann am Schreibtisch und der jungen Frau auf dem Sofa hin und her. Sie scheinen mich noch nicht bemerkt zu haben, starren immernoch in irgendein Unsichtbares.
Die junge Frau – sie trägt Dreadlocks und Piercings und ist stark tätowiert – kenne ich nicht, den jungen Lemm dafür umso besser, da man ihn mir schon zweimal als Praktikant angehängt hat. Eine Trantüte sondersgleichen. Das erste Mal wurde ich ihn los, indem ich verreiste und einfach nicht wiederkam, das zweite Mal, indem ich meine Stelle kündigte. Dass es ihm nicht zu blöd ist, es ein drittes Mal bei mir zu versuchen, passt zu ihm. Denn nichts ist Lemm zu blöd; und das regt mich so auf an ihm. Weil es mir gnadenlos in Erinnerung bringt, dass ich selber in seinem Alter so war.
Soll ich die beiden höflich grüßen? Das wäre reine Ironie. Ich betrachte sie als Eindringlinge. „Wie habt ihr hier hereingefunden? Ist doch kein x-beliebiges Büro.“
Jetzt schauen sie mich an, und von Lemm genuschelt: „Einer hat uns hergebracht.“
„Klar, Mann. Wer?“
„Keine Ahnung. Netter, schick gedresster Typ.“
„Wird doch irgendwas gesagt haben, der Typ.“
„No problem einfach nur, er sei ein Freund von Ihnen.“
Aha. Es gibt nur den einen in dieser Gegend – das heisst im Regierungspalast von Babaal –, der gerne mal no problem sagt und mich als seinen Freund bezeichnen würde: Rivera. Mein Gegenspieler hier.
Ich nicke also. „Und? Gibt’s hier für mich nur noch den Stehplatz?“ Denn auf allen übrigen Sitzgelegenheiten türmen sich Papiere, Bücher, Aktendeckel. Der Junge erhebt sich mühsam von meinem Schreibtisch und quetscht sich, lang und schlaksig wie er ist, umständlich neben die junge Frau aufs Sofa. Sie: „Dann bist du also Schell.“
Ich sage: „Ja. Und Sie?“
Der Name, den sie murmelt, gefällt mir. „Unarisa? Ein Lächeln – wie schön!“
Komisch, wie erzürnt sie mich da korrigiert, sehr laut und leider ohne jeden Charme: „MONALISA.“ „Auch schön“, sage ich beschwichtigend. „Sicher sind Sie keine Zicke, Fräulein Monalisa, sondern ganz bezaubernd, wenn man Sie nur näher kennt.“ „Was?“, knurrt sie, „du bist ja wohl –“ „Sie, bitte. Sie sind – und zwar?“ „Sowas von Arschloch!“
„Ach so“, ich blicke Lemm an, „dann seid ihr gar nicht wegen eines Praktikums hier?“
„Doch, ja … Aber eigentlich auch nicht, nee … Also das werden Sie nicht so gut finden, glaube ich.“ „Was denn, mein Junge?“ „Uns gefällt das auch nicht besonders. Dass wir insofern Praktikanten sind, als dass wir nicht bezahlt werden; andrerseits aber einen Auftrag haben, der einen Haufen Arbeit bedeutet.“ Und mit einem Handschlenkern in die Runde: „Das alles, äh … Wir sollen Ihnen helfen, das zu digitalisieren.“
Sei Maske!, befehle ich meinem Gesicht; kann aber nicht verbergen, dass ich sprachlos bin.
Dann: „Der war gut – digitalisieren. Freut mich, Lemm, dass du auch mal einen Witz zustande bringst.“ Und ich wende mich, um das Thema zu wechseln, wieder der Monalisa zu: „Bezaubernd ist bis jetzt natürlich nur eine Vermutung; dafür vielleicht tatsächlich eine Zicke. Denn Sie nannten mich – oder habe ich mich verhört?“ Sie reckt sich vor und faucht: „Hast richtig gehört – Arschloch.“ Dann springt sie auf, sagt zu Lemm: „Und du Lahmarsch kannst mich auch mal!“, ruft allgemein: „Ihr könnt mich alle mal!“ und ist im nächsten Augenblick, nicht ohne kräftig die Tür zuzuschlagen, abgedampft.
Lemm scheint meinen Blick als Frage zu deuten, er sagt: „Vorhin war die ganz nett. Ist sicher gerade auf irgendwas drauf. Kenne sie aber auch noch nicht lange.“
Monalisa Overdrive. Schon mal gehört, den Titel? Roman von William Gibson. Apropos, Lemm: Wenn’s dieses Mal was werden soll mit uns, wirst du lesen müssen. Einiges. Verstanden? Bücher.“ „Okaaay?“ „Und zieh dein Okay bitte nicht so blöde fragend in die Länge, das nervt mich.“ „Verstanden.“ „Und noch etwas: Immer wenn ich sage, mir reicht’s, verkrümelst du dich bitte; und zwar immer, wenn ich das sage.“
Er nickt; scheint darauf zu warten, dass ich weiterrede; bleibt jedenfalls da sitzen.
Ich schaue auf meine Armbanduhr. Punkt zwölf. Ich staune. Kaum dass ich mein Hiereintreten auch nur mitbekommen habe, schon habe ich mich völlig an diese Szenerie gewöhnt, kenne sie wie sozusagen meine Hosentasche. Und wie lange habe ich dagegen vor dieser Tür herumgestanden? Was mir wie ewig vorkam, war nur ein Moment, so kurz etwa wie zwischen Eben-noch-wach-sein und Fast-schon-eingeschlafen. So lang wie der Moment, in dem sich alles umdreht, in dem Zeit, plötzlich veraltet, neu zu Zeit wird. Wo, wie in diesem Falle, ein Real zuende war und mit dem Eintritt hier hinein ein neues anfing.
Worauf wartet der Junge? Hat er nicht gehört, was ich sagte? Wie soll ich ihn noch erwartungsvoller anschauen? „Schon gehst du mir wieder auf die Nerven, mein Lieber. Hast du nicht eben die Worte mir reicht’s gehört?“ „Ja, schon, aber, Sie meinen … Bei Ihnen ist immer alles so plötzlich.“ „Das ist die Gegenwart, Lemm, nichts weiter. Und jetzt mach’s gut. Bis morgen meinetwegen. Ich bin entweder hier oder nicht, und das meine ich so banal wie existentiell. Bitte mach dir Gedanken darüber: banal wie existentiell. Und vielleicht kann unsere Miss Overdrive auch was dazu beisteuern, falls du sie da draussen irgendwo aufgabelst – und du nicht etwa sauer auf sie bist, weil sie dich Lahmarsch genannt hat. Der du ja tatsächlich bist.“
Musst du ihn immerzu so rüde angehen? Nur weil man dich selber früher so behandelt hat? Damit er für seine Nachfolger auch mal so ein schlechtes Vorbild wird wie du? Ich nehme mir vor, das zu ändern; denke: Dieses blöde Schema muss doch irgendwann einmal durchbrochen werden. Übrigens, die Luft hier drinnen –. Ich reisse weit die Fensterflügel auf. Welch schöner Tag da draussen! Gezwitscher in den Bäumen, und da drüben in der Tamarinde, wen haben wir denn da? Ich nehme das für diesen Zweck bereitliegende Fernglas zur Hilfe: eine Turteltaube – und was für eine Schönheit! Wenn das kein gutes Zeichen ist.
Und jetzt mal an die Arbeit. Betrachte das Chaos, das hier vorliegt, genauer. Die Berge, die Türme, die Stapel, die Haufen, und was aus den Regalen, den Schränken, den Schubladen quillt – alles aus Papier, alles vollgeschrieben. Und wie wirkt so ein Durcheinander? Entmutigend. Abschreckend. Unbeherrschbar. Es spiegelt eine Arbeitsweise; sodass man nur sagen kann: Schell ist chaotisch. Das ist so offensichtlich. Und gerade deshalb könnte es auf jemanden, der genauer hinschaut, auch anders wirken, nämlich wie arrangiert: um genau diese Wirkung zu erzielen. Sodass womöglich der Verdacht aufkommt, da sei tatsächlich einer so naiv, dass er versucht, per Chaos sich der Digitalisierung zu entziehen – wo man doch gerade diese damit anzieht. Denn so wie ein jedes sein Gegenteil hervorruft, so weckt das Gefühl der Hilflosigkeit das Bedürfnis nach Kontrolle; und hat man es mit Chaos zu tun, ist man hilflos und sieht sich bedroht und strebt also, um sich zu helfen, eifrig nach Kontrolle; und obwohl man weiss, dass man das Chaos nie ganz beherrschen wird, versucht man, es wenigstens so gut wie möglich zu beherrschen; und zwar aktuell mit der Vorstellung, Chaos sei gar nicht Chaos, sondern eine Ordnung, die man als solche nicht überblickt, weil einem der Maßstab dazu fehlt. Diesem Mangel versucht man derzeit per Berechnung abzuhelfen; dadurch also das Chaos zu ordnen, wenn nicht gar: in Ordnung zu bringen, indem man es berechnet. Von daher doch der ganze komputative Aufwand, dieser ungeheure Einsatz von Ressourcen aller Art, und der tiefe Glaube, der all das motiviert, dieser Digitalismus mit seiner so extrem ordentlichen, ja totalitären Grundordnung: Nur dies, wenn nicht das – nur null oder eins – nur entweder oder.
Warum nicht einfach auch zu diesem Glauben konvertieren? Ich sehne mich doch auch nach Überblick; und es ist doch gar nicht zu leugnen: diese chaotische Masse an beschriebenem Papier ist nur durch den Versuch, Ordnung zu schaffen, überhaupt zustande gekommen.
Aber vielleicht ist das ja funktionierende Bürokratie. Vielleicht genügt Kontrolle schon, wenn sie nur scheinbar ist. Doch was weiss ich … Keine Ahnung, was nebenan vor sich geht; weiss nur, dass die meisten anderen Büros wunderbar aufgeräumt aussehen. Womöglich ist in denen wirklich alles unter Kontrolle. So wie womöglich im ganzen Regierungspalast tatsächlich Ordnung herrscht; mir nur als solche nicht erkennbar, weil ich sie nicht überschaue.
Nicht umsonst, nehme ich an, haben wir hier in Andria die Regierung übernommen, oder richtiger gesagt: uns mit der Regierung identisch gemacht. Wir, uns, nun ja; ich meine das Flyshwerk. Es hat sich schon soweit über die Länder ausgebreitet, dass man längst sein Zentrum nicht mehr kennt – hat es, braucht es überhaupt noch ein Zentrum? Und dass es sich zur Zeit hier, in Andrias Hauptstadt, so konzentriert, ausgerechnet hier, wo wegen der Anomalie die Funktechnik so schlecht funktioniert – – na klar – na klar!
Jetzt begreife ich: Dass sie gerade hier spielt, die Musik, flyshwerkmäßig, und warum sie gerade hier spielt, ist eben – wegen der Anomalie! Weil deretwegen das alte Babaal und das ganze Andrianische Archipel bisher nur so oberflächlich digitalisiert ist.
Moment – noch einmal langsam: Die instabilen Frequenzen Andrias zwingen das Flyshwerk, gerade hier die Musik spielen zu lassen, will heissen: innovativ zu sein. Weil dadurch der Chaoskontrolle vielleicht ein neuer Dreh gegeben werden kann. Klingt das plausibel?
Wohin diese Überlegungen führen, weiss ich zwar nicht, doch ich merke, mein Blick auf das Durcheinander in diesem Büro beginnt sich zu ändern.
Der überschauende Blick ist ein ordnender, ein kosmischer Blick. Seit der Mensch aufblickt zu den Sternen, das heisst sie als da draussen wahrnimmt, blickt er kosmologisch, und weiss im Grunde, dass er all das, was da auf ihn eindringt, nicht bändigen kann. Weil er als Teil des Bandes ja selbst daran gebunden ist; so wie er weiss, dass er nicht aufhören kann, sich davon ständig zu entbinden – und so weiter; irgendwas im Hintergrund versucht da schon die ganze Zeit zu mir nach vorne durchzudringen. Mehr aber als das Gefühl, da war doch was, erinner dich!, kommt da noch nicht zur Klarheit. Deshalb wohl, um dieses Gefühl zu ergründen, versuche ich das Thema Chaos endlich abzuhaken: Es hier soweit zu beseitigen, dass es nicht mehr wie Chaos aussieht, sondern wie Ordnung, würde völlig reichen. Mehr fordert die Flyshwerk-Bürokratie sowieso nicht von dir.
Und nun: Was war denn da? Woran soll ich mich erinnern?
Da klingelt das Telefon. Kann eigentlich nur Rivera sein. Der Blick aus den Fenstern seines Büros geht auf dieselben Bäume, nur von der andern Seite aus; und ich weiss, er hat da auch ein Fernglas zurhand. Ich hebe ab und sage: „Zur Zeit sind Turteltauben in der Tamarinde.“ „O wie erfreulich! Danke für den Hinweis. Was treibst du so?“ „Weiss vor lauter Arbeit nicht, wo anfangen, das kennst du ja. Überlege daher, ob ich nicht mal das Büro aufräumen sollte; hätte jetzt dafür ja sogar Helfer.“ „Die zwei jungen Leute. Sollen bei dir digitalisieren, wie ich hörte.“ „Das amüsiert dich, klar. Mich nicht. Diese Regierungsarbeit hier, was ist sie denn? Doch nur noch muffiges Büroleben! Nur noch durch Ironie erträglich. Irgendwann werden wir wie Paley, wie alle hier, gewitzt und herzlos; oder sind’s womöglich schon.“ „Mein Lieber, das klingt aber trübe!“ „Ich sehe nur, wie’s ist. Und da kommt mir die Idee: Ich lass die Praktikanten einfach machen und verreise.“ „Schon wieder? Du bist ja nur noch unterwegs. Weisst du, wie man dich intern in diesem Hause bereits nennt? Den Mann auf der Flucht.“ „Oh. War es das, was du mir mitteilen wolltest? Sei bedankt, Rivera.“

Da ich an dieses Chaos so gewöhnt bin, dass es mir normal vorkommt, ist das Überraschende also eigentlich, dass es mir überhaupt auffällt; und aufgefallen ist es mir nur deshalb, weil ich vorhin beim Hereinkommen etwas anderes erwartet hatte, nämlich das Studierzimmer hier vorzufinden; und das kenne ich nur aufgeräumt, und still, ein bisschen fast wie unberührt, sodass es immer auf mich wirkt wie eine Einladung zum Neuanfang. Davon, hier, nichts. Es könnte dem Erwarteten kaum krasser gegenteilig sein. Und dann hier auch noch auf Menschen zu stoßen, auf so eine Miss Overdrive zumal, das hat wie weggewischt, was vorher war, hat umgehend die Selbstverständlichkeit etabliert, dass das hier natürlich mein Büro ist. Und jetzt weiss ich, woran ich mich erinnern wollte: daran, wo ich bin.
Im Regierungspalast von Babaal, natürlich.
Doch war nicht die Tür dieselbe wie die ins Studierzimmer? Jawohl, genau dieselbe. Die Frage ist also –
Es klopft und Paley erscheint – und prallt entsetzt zurück: „Ist das ein Saustall!“ Dann tritt er vorsichtig näher, kopfschüttelnd: „Schell, Schell … Wie können Sie nur so arbeiten?“ „Es ist noch schlimmer als sonst, meinen Sie?“ „Ich meine: Räumen Sie auf! Entlabyrinthisieren Sie! Das ist doch ein Witz von Büro! Das Gegenteil von Büro!“ Ich halte ihm den berühmten alten Kaffeebecher entgegen, die Aufschrift: KEINE PANIK! „Ach Schell, leider ist es nicht damit getan, einfach nur Witze zu reissen.“ „Entschuldigung! Daran sehen wir, warum Sie hier der Vorgesetzte sind. Aber im Ernst: ist mir irgendwie lieb geworden, dieses Durcheinander; als Sinnbild des Ganzen, verstehen Sie? Ich, ein winziges Rädchen in uferloser Bürokratie – mein Mikrobetrieb analog sozusagen dem Makrogetriebe.“ „Der unverbesserliche Romantiker. Mir persönlich ja sympathisch. Aber wir haben nun mal auch unsere Arbeit zu tun, meinen Sie nicht?“ „Sehr richtig, Mister Paley, Sir. Ich bringe das hier alles baldigst in Ordnung.“ „Hm, wie immer, baldigst. Seit wann versprechen Sie mir das schon? Wir schreiben das Jahr 2014.“ „Tatsächlich? Kann doch schier nicht sein!“
Dass wir nun beide so tun, als würden wir ganz sachlich nachrechnen, gehört zu diesem kleinen Theaterstück, das der Büroleiter hier regelmäßig mit mir aufführt.
Als Chef dieses Gebäudetrakts ist er für die Kontinuität zuständig, und die scheint nach seinem Verständnis nur gewährleistet zu sein durch ständige Umstrukturierung von Grund auf; sodass intern inzwischen die Meinungen über den Zweck unserer Abteilung stark auseinandergehen und sogar darüber diskutiert wird, wie sie überhaupt heisst.
Paley ist einer Art Philosophie der Permanenz verfallen. Von Haus aus zutiefst konservativ gesonnen, fasziniert ihn die Idee „permanenter Fortschritt“ wie ein Skandal, und da ihm das Notwendige dieser Idee durchaus nicht einleuchten will, bleibt sie ihm merkwürdig, ja regelrecht exotisch, und so kommt er sich bei jeder Umstrukturierung wie der große Erneuerer vor, so als würde er „Grenzen überschreiten“, „neue Horizonte erschliessen“, ja gar „die Zukunft erobern“. Derlei bringt er natürlich nur in Festreden; an denen er aber, wie man weiss, wochenlang herumtüftelt; nur um dann tragischerweise nichts anderes von sich zu geben als das, was regelmäßig auch alle anderen nach den üblichen Vorlagen herunterleiern.
Hingegen gibt sich der alltägliche Paley gern zynisch, und er ist in seiner Rolle brillant, spielt den versnobten höheren Regierungsbeamten nämlich genau so, dass man meinen kann, er sei sich seines Spiels bewusst; sodass man ihm gegenüber niemals wirklich weiss, woran man ist. Ob er, wenn er vorm Spiegel steht, es selber weiss? Davon hängt ab, auf welcher Stufe er steht – ob er uns nur vorgesetzt oder uns tatsächlich überlegen ist.
Da stutze ich: „2014? Sie sagten – 14?“ Paley seufzt: „Ist ja auch egal; seit Jahren jedenfalls versprechen Sie’s mir immer wieder, wie soll ich also noch was darauf geben?“ „Bitte, Paley – nochmal: 2014? Wir haben zweitausendvierzehn?“ „Was sonst?“ „Zum Beispiel – zweitausendzwanzig?“ Er glaubt, ich scherze, und sagt grinsend: „Wir strukturieren zwar bisweilen um, aber so tiefgreifend nun auch wieder nicht.“ Dann räuspert er sich. „Oder muss ich mir irgendwelche Sorgen um Sie machen, Schell?“ „Bloß nicht!“ „Dann bringen Sie jetzt das Büro auf Vordermann. Einfach alles, was nicht in die Schränke und Regale passt, in den Schredder, und fertig. Ist doch so simpel!“ Er wendet sich zur Tür. „Ach ja – wo sind denn Ihre neuen Praktikanten? Lassen Sie die doch das erledigen!“ Und er ist schon fast hinaus, da fällt ihm ein: „Weshalb ich überhaupt vorbeikam – Brains. Dieser Superdetektiv, Sie wissen schon. Ist gerade vor Ort. Und ich dachte mir, da Sie ihn kennen, frag ich Sie mal, ob Sie so nett wären.“ „Ja.“ „Sich Zeit zu nehmen.“ „Klar.“ „In Erfahrung zu bringen, was er ausgerechnet in unserem verträumten, doch eher uninteressanten Babaal zu suchen hat.“ „Gern, Mister Paley. Ist schon so gut wie erledigt.“

Brains. Der Name hat es bei mir klingeln lassen. Hat mit dem zu tun, was mir die ganze Zeit solch Unruhe verursacht: dass da etwas ist, woran ich mich erinnern wollte. Dringend. Unbedingt. Doch solang mich das Gefühl beherrscht, es muss, wird es mir natürlich nicht einfallen, das kennt man ja. Es war etwas, bevor ich hier hereinkam, vor der Tür, und vielleicht hilft es, wenn ich nochmal rausgehe; und gar nicht daran denke, dass ich mich erinnern will …
Da fällt mir auf: Bin ich hier je hinausgegangen? Nein; bin hier bisher immer nur eingetreten. Das muss mit der Refugienstruktur zusammenhängen. Die bewirkt, dass ich dieses Refugium namens Studierzimmer immer durch ein anderes Refugium verlasse, nämlich durch eines der fünf alten Refugien …
Und jeder Übertritt von hier in ein anderes Refugium führt mich in Erinnerung; und jedesmal ist diese so real, dass ich mich darin wirklich glaube; sodass ich jedesmal den Übertritt sofort vergesse. Solch ein Überwechseln ins Erinnern ist gleichzeitig also – Vergessen. Merk dir das!, befehl ich mir. Und weil du denkst, das sei doch völlig klar, das sei unmöglich zu vergessen, sage ich dir: Da täuscht du dich! Schreib’s dir vorsichtshalber auf.
Hier spüre ich ein Deja-vu, weiss: das ist die xste Wiederholung, und stehe hilflos: muss mich damit abfinden. Denn ich hab ja immer aufgeschrieben, und zwar reichlich – so ist dieses Chaos aus Papier doch überhaupt entstanden. Und deckt jetzt alles zu; deckt so gründlich zu, dass auch die Zugänge zu den Refugien inzwischen nicht mehr aufzufinden sind. Denn ich kann sie hier nirgendwo entdecken, jene fünf Objekte, die mir im Studierzimmer sonst immer gleich ins Auge fallen:
das Wappen der Royalisten
der historische Säbel
die Daguerreotypie
die Maske
das Renaissance-Gemälde
Erinner dich: Was du im Anblick eines jeden dieser Objekte in dir als dessen Gegenbild erzeugst, ist dann Objekt woanders, in einem der Refugien, dem jeweiligen Raum nämlich, in dem du dich erinnerst.
Dann hab ich etwa dieses Chaos – dies Gegenbild zur Aufgeräumtheit des Studierzimmers – dazu angerichtet, mich am Besuchen der alten Refugien zu hindern? – Sofern du einen Sinn darin entdeckst: ja. Und weisst du, an was du dich eben noch konkret erinnern wolltest? – Was mir im Chaos hier drinnen nicht einfallen wird: von woher ich hereinkam. Ich wollte, um mich daran zu erinnern, nochmal raus, und da fiel mir auf, dass ich durch diese Tür noch nie –
Und so geh ich nun zum erstenmal durch diese Tür hinaus.

S.10

Die Schwarmmaschine

Wie oft ich diesen Hafengeruch schon eingesogen habe und ihn jedesmal, wo auch immer, so wie jetzt empfand: wie ohne Heimat überall zuhause. Wenn ich der Menschheit einen Geruch zuordnen müsste, ich glaube, es wäre dieser.
Die gesuchte Adresse ist ein ziemlich hohes und langes Geschäftsgebäude, völlig schmucklos, abgesehen von diversen großen Werbeschriften an der Fassade; und wie der nette Taxifahrer gesagt hatte, ist auf keinem der vielen Schilder an den verschiedenen Eingängen The Framing Company zu finden.
Man nehme nur nicht wörtlich, was auf der Visitenkarte eines professionellen Fälschers steht; schon gar nicht, wenn klar ist, dass dieser Fälscher, der sich Mek al-Möffi Merikanski nennt, nur der alte Murphy sein kann. Und also – typisch Service of Intelligence – dürfte diese falsche Adresse die richtige sein.
Im übrigen ist mir, als sei ich schon mal hier gewesen. War ich zwar nicht, ergibt aber Sinn, wenn ich bedenke, wie japanisch ich inzwischen aussehe; wie ich dem Anschein nach Kimura bin. Zumindest auch Kimura bin. Und hier also als Agent im Service of Intelligence auftrete. Und als solcher durchaus schon mal hier gewesen sein könnte.
Hey, ich weiss nicht: ob die Notfallnummer zu wählen eine so gute Idee war? – Zu spät; du hast mich aktiviert, und jetzt weisst du, wie das ist. Und ist es etwa schlimm, Kick Kimura zu sein? – Erst einmal nur ungewohnt. Ich stelle mir vor, äh – müsste ich nicht plötzlich eine ganze Menge wissen? – Müsstest du allerdings. Hast doch wohl nicht jahrelang umsonst in der Technik-Folgenabschätzung gearbeitet. Du weisst über den Service of Intelligence Bescheid, über Forty Operas, über Murphy und Co, über mich; und auch über die MoTech, nehme ich an. Und kanntest die Nummer des Hongkong-Telefons. – Tatsächlich, ja; hatte bis vor kurzem sogar einen Exoot zur Verfügung. Nur wie ich an den rangekommen bin, weiss ich nicht mehr. Gibt da so eine Art Gedächtnislücke. – Aha. Typisch. Und hast du schon eine Ahnung, was wir unter einem Body Job verstehen? – Hm. Vielleicht das, was hier gerade läuft? Mich wundert ja nur, wie offen du sprichst; dass du sogar die MoTech erwähnst … Wir sind doch online, oder? – Spielt für mich keine Rolle mehr. Ich kenne nicht den aktuellen Stand der Dinge; bin schon zulange draussen, persona non grata seit Jahren. Was online sein darf und was offline gehört: keine Ahnung. Und was auch immer das für ein Notfall sein soll, dem ich meine Aktivierung verdanke, er ist für mich ein Glücksfall. Ich bin endlich zurück im Service. Und habe nicht das geringste zu verlieren. – So also spricht der legendäre Spezialist für ausweglose Fälle. Was ich da leider am allerwenigsten heraushöre, ist Zuversicht. – Was hast du denn erwartet, Schell? – Bisher gar nichts. Ich war skeptisch, ob ein Notfallprogramm tatsächlich existiert. Kennst du Ladenheuser? Sachbearbeiter in der Technik-Folgenabschätzung; mein Operator. Jedesmal, wenn ich dachte, dass er mir irgendeinen Mist erzählt, stellte sich heraus, dass es mir entweder an Vorstellungskraft gefehlt oder ich ihn falsch verstanden hatte. Und letztens hörte ich von ihm die Formulierung: Solange Sie glauben, Schell zu sein. – Was dir nun ja nicht mehr allzu rätselhaft vorkommen dürfte. Und jetzt, mein Freund, vertraue. Alles ist normal hier, es droht von nirgendwo Gefahr, nicht jedenfalls akut. Und was dein Äusseres angeht, so kannst du ganz beruhigt sein: gewisse Veränderungen an dir, das Japanische zum Beispiel – den Kick Kimura –, bemerkst nur du. Und du selbst übrigens, falls du dir Sorgen um dein Ego machst, bist kein bisschen weniger vorhanden als zuvor. – Bezweifle ich das etwa? Wirke ich labil? Ich mag vielleicht ein Schwachkopf sein – aber hysterisch? – Schon gut. Bleib cool. Jetzt brauchen wir den Reisepass.
Entlang der Geschäfte vor dem Gebäude herrscht mäßiger Verkehr. Ich schaue mir die Leute an, die Läden, die Umgebung. Dass Murphy noch vor Ort ist, glaube ich nicht. Doch behalte ich einen der Eingänge besonders im Auge. Dort ist mir unter den Tafeln mit Firmennamen das Schild des International Maritime Bureau aufgefallen.
Was ist mit dieser alten Frau da? Ihr schlurfender Gang wirkt irgendwie gespielt. Jetzt dreht sie sich mir zu, schaut mich kurz an. Bedeutsam? Nein. Sie hat nur meinen Blick bemerkt. Sieht mongolisch aus; wahrscheinlich aber aus Taiwan. Und was steht da auf ihrer Baseball-Kappe? SMARTLESS.
Was mir zunächst skurril erscheint, erinnert mich gleich darauf an das brandneue Smartphone, das ich im Rucksack habe. – Das lässt du dir jetzt freischalten, und zwar gleich hier in diesem Handyladen.
Der dicke Junge, der müßig da im Eingang lehnt, nickt mir freundlich zu.
Nur er und ich im Laden; sehr günstig. Zusammen mit dem Gerät fische ich auch ein Bündel Lira-Scheine aus dem Rucksack und reiche ihm beides mit den Worten: „Um das Ding in Betrieb zu nehmen, braucht man sicherlich Papiere, oder?“
„Identität, klar. Unbedingt.“ Und schon hat er das Bakschisch überprüft, für ausreichend befunden und mir ein Formular vorgelegt. Beim Ausfüllen lasse ich Spezialagent Kimura freie Hand, und anschliessend, als mir der Junge mit der Aufforderung, ein Passwort einzugeben, das Gerät zurückreicht, fällt mir auf Anhieb SMARTLESS ein.
Da ich dann gleich denjenigen der Netzanbieter wähle, den mir der Junge empfiehlt, und aus dessen Angebot einfach die billigste Prepaid-Variante, ist die Prozedur in kaum zehn Minuten erledigt. Zuletzt bekomme ich noch die offizielle Rechnung ausgehändigt, mit der Bemerkung: „Nur dass Sie mich bitte nicht weiterempfehlen.“

Und nun? Wie komme ich an meinen neuen Pass? – Wir sind im Service of Intelligence, deshalb ist eher die Frage die, wie der Pass zu dir kommt. Bedenke, was du aus dem Bazar als Kompensation für den verlorenen Exoot mitgenommen hast. – Die Adresse eines Fälschers. Die falsch ist. Sowie ein Smartphone. Das ich nur deshalb brauche, weil ich ohne zu sehr auffallen würde. Und drittens die Zeitschrift, SubNews aus den 1990ern. In japanischer Sprache. – Die du inzwischen fliessend beherrscht, wie du bemerkt hast. Sodass wir jetzt zum Beispiel ein bisschen lesen könnten.
Durch jenen Eingang, an dem ich das Schild des International Maritime Bureau entdeckt hatte, trete ich in eine leere Halle ein. Im Hintergrund zeigt eine Uhr 16:05 an.
Lang nicht mehr gewischte Fliesen aus Pseudo-Marmor, fleckige Riesenspiegel an den Wänden, Geruch nach altem Rauch. Nichts hat sich geändert, genauso vergammelt hatte es hier damals schon ausgesehen.
In einer der verstaubten Sitzecken hole ich das alte SubNews-Heft aus dem Rucksack und nehme, tief einsinkend, in einem klobigen Kunstledersessel Platz.
Von diesen alten SubNews, die damals regelrecht wie aus der Zukunft wirkten, interessiert mich jetzt vor allem jene Reportage mit dem Titel Die Schwarm-Maschine; weil Kick Kimura darin auftritt, wie ich mich erinnere, und mir das vielleicht erklärt, warum ich schon mal in genau diesem Gebäude gewesen sein könnte, ohne jemals hier gewesen zu sein.

Der Blick der Wissenschaftler hatte gerade mittels eines neuartigen Mikroskops die bis dato letzte sichtbare Ebene der Materie durchstoßen und war in einen subnanometrischen Bereich eingedrungen. Was da erkannt wurde, stellte auf den Kopf, was bei allen bisherigen Theorien über die Natur Voraussetzung gewesen war: dass da entweder ein auf erkennbare Weise intelligentes Schöpferwesen sich eine Physis schuf oder dass sich lediglich nach dem Zufallsprinzip etwas hier verdichtete, das von den daraus hervorgehenden Menschengehirnen gemessen und unter dem Begriff Energiefeld auf sich selbst angewendet wurde. Das neue optische Gerät zeigte diese beiden konträren Sichtweisen in absoluter Übereinstimmung; aber nun nicht als eine alleinige Sichtweise, nicht also als eine Weise unter anderen, sondern als die Sicht an sich: das Sehen. Sodass alle durch das Gerät dasselbe sahen: sich selbst; nicht so jedoch, wie sie sich „Selbst“ bisher gedacht hatten – das war plötzlich gar nicht mehr vorhanden. Und das war eine einschneidende Erfahrung, denn auf einmal, schlagartig, war alles möglich. Jeder erkannte, was Erkenntnis ist, und damit, was im wahrsten Sinne Freiheit heisst. Was nicht etwa Begeisterung auslöste, sondern große Angst. Das Gerät verschwand, und damit auch die Möglichkeit für die, die hindurch geschaut hatten, das Geschaute glaubhaft mitzuteilen; und es brauchte, da es als bloße Erzählung nicht anders als eine beliebige Science Fiction aufzufassen war, keine Geheimhaltung darum betrieben zu werden.
Zur üblichen späten Stunde im Hafenviertel von Babaal in einem provisorischen Büro des Service of Intelligence: Hinterm leeren Schreibtisch Forty Operas, der Chef, und auf dem Besucherstuhl Agent Kimura, in einer Zeitung blätternd, der neuesten Ausgabe des Reichsboten, in der, alltagssprachlich aufbereitet, obige Geschichte stand. „Wieder mal ohne Quellenangabe“, murmelte er. „Was halten Sie davon?“
„Man irrt sich“, sagte Operas. „Das Gerät hat nicht die Natur des subnanometrischen Bereichs enthüllt, sondern nur den Blick auf eine spezielle Situation freigegeben, nämlich auf die Aktivität eines Schwarms biokybernetischer Organismen.“
„Oh – Sie meinen – ?“
„Künstlich und natürlich zu gleichen Teilen.“
„Kennen wir sowas schon?“
„Natural Computing. Bis dato noch informatisches Neuland; im Grunde jedoch eine ur-uralte Sache. Für die es aber heute eines besonderen Projektors bedarf.“
Kimura mit der Zeitung wedelnd: „Von dem hier die Rede ist. Nur dass das Ding als Mikroskop bezeichnet wird. Eine Irreführung?“
„Nicht nur das. Es ist ausserdem viel zu früh aufgetaucht.“
„Und deshalb auch gleich wieder verschwunden.“
„Nur scheinbar verschwunden. Es passt sich an.“
„Heisst das, es – lebt?“
„Darüber sollte man nachdenken, wenn man diesen Auftrag übernimmt.“ Mit diesen Worten zündete Forty Operas sich seine erloschene Zigarre wieder an und hüllte sich in Qualm.

Bei diesem Auftrag bin ich mir nie sicher gewesen, ob ich ihn wirklich verstanden hatte, und kann mich daher auch nicht erinnern, ihn je erledigt zu haben … Das heisst der Auftrag ist noch aktuell. Denn im Service of Intelligence gibt’s keine Aufträge, die sich von selbst erledigen, keine Missionen, die einfach irgendwie im Sande verlaufen … Ach, vielleicht ist das der Grund, warum man mich, obwohl ich disqualifiziert wurde, nicht gänzlich vom Service abgeschnitten hat … Dann verdanke ich es diesem noch unerledigten Auftrag, dass ich jetzt durch diesen Notfall a la Schell sogar in einem Body Job zum Einsatz komme!
Erstmal jedenfalls ist festzustellen, dass der SubNews-Schreiber diese Reportage ins Fiktive verschoben hat; eine altbewährte, wenn nicht überhaupt die älteste Vorgehensweise, um Information zu codieren. Für Istanbul aber ausgerechnet Babaal einzusetzen? War das klug? Zwar ist Babaal fiktiver als Istanbul, aber so fiktiv nun auch wieder nicht.
Was sagt uns die Phänomenologie? Vom griechisch-antiken Byzanz übers frühchristliche Konstantinopel zum moslemischen Istanbul; immer ging’s um Geistiges, um Religion. Während es in Babaal eher unreligiös immer nur um Eroberung, Freibeuterei und Welthandel ging. Babaal, soviel ich weiss, liegt auf einer schmalen Landzunge; Istanbul hingegen an einer Meerenge auf zwei Ufern. Hier ist also Land, wo dort Wasser ist, das heisst – ist die eine Stadt nicht geradezu das Gegenbild der anderen?
Das beweist natürlich nicht, dass der SubNews-Schreiber Babaal als Schauplatz der Projektor-Story wählte, um auf Istanbul hinzuweisen. Doch in diesem Spielraum des Vermutlichen, in der Unschärfe, liegt ja gerade die Stärke einer literarischen Verschlüsselung. Mir jedenfalls erklärt es, warum ich schon mal hier war, und dass ich mich nicht täusche, wenn mir diese Geschichte, die ich gerade gelesen habe, wie eine eigene Erinnerung vorkommt.
Die Story vom Projektor, der sogenannten Schwarmmaschine, betrifft also, wenn ich Kimura richtig verstehe, seinen alten, noch unerledigten Auftrag. Und mein Notfall-Alarm? Der ihn hierher geführt hat? Wie hängt der, wie hänge ich damit zusammen?
Ich denke an den Bazar zurück, an das Foto, das die Agenten dem Patron gezeigt hatten; und dann an das Kellergewölbe, in dem ich zuvor all die Kisten, Säcke und Kanister gesehen hatte, alle mit diesem komischen Siegel versehen … Hätte mir das genauer anschauen sollen.
Was lagert da? Sprengstoff? Chemikalien? Oder eine besondere Maschine in Einzelteilen? Wahrscheinlich nur Konsumramsch aus Fernost. Vielleicht Honig oder so. Gasmasken. Heroin. Oder auch nur Haschisch. Womöglich ist der Stempel das Entscheidende, das Siegel. Um das Gerücht über eine besonders brisante Lieferung in Umlauf zu bringen. Um die Agenten vor Ort so auf Trab zu halten, dass sie von dem eigentlich interessanten Geschäft, das hier gerade abgewickelt wird, nichts mitbekommen.
Geht’s vielleicht um MoTech? Ist da womöglich Geo Rey im Spiel?

B.7

Da war doch was

Von dem, was er letzte Nacht geträumt hatte, ist nicht viel übrig geblieben, doch das Wenige beschäftigt ihn noch: Eine Szene am Theater, nicht auf der Bühne, sondern irgendwo hinter den Kulissen. Sein verstorbener Vater – er war Schauspieler gewesen – hatte ihn dem „Meister“ vorgestellt und sich dann gleich zurückgezogen. Von der Gestalt erinnert er lediglich, dass sie schwarz gekleidet gewesen war, ansonsten ist ihm von diesem Meister kein konkreter Eindruck, nur dieser Rätselspruch zurückgeblieben:
Zwei sagen, sie kommen dir zur Rettung – in Wahrheit, um dich auszulöschen.
Einer sagt, er löscht dich aus – der wird dich retten.
Uns ist klar, dass das nicht ein Produkt des üblichen Traumlebens ist, sondern von einer Ebene stammt, die wir den Traumkanal nennen; und unserem Schell ist das ebenso klar. Er fasst den Spruch als eine Botschaft auf. Der Versuch sie zu entschlüsseln, war verlockend gewesen, doch allzu wahrscheinlich, so hatte er sich gesagt, würdest du sie nur missverstehen, und hatte sich also damit begnügt, sie bloß kommentarlos zu notieren.
Da war aber noch was anderes, denkt er, etwas, dass ich dringend durchdenken sollte. Nur was? Ich müsste systematisch rückwärts …
Der erste Fahrgast an diesem Tag, ein junger Mann, der zum Hauptbahnhof will, fragt, kaum ist er eingestiegen: „Was ist los? Ist der Cassettenrecorder kaputt?“
„Oh, ach ja …“ Dass er keine Musik laufen hat, ist ihm noch gar nicht aufgefallen.
you can pawn your watch and chain, but not that feel … „Tom Waits okay?“
„O ja, absolut. Danke.“

Nachdem er so lange schlecht geschlafen und so gut wie gar nicht mehr geträumt hatte, kann er sich, seit er wieder gut schläft, fast jeden Morgen an einen Traum erinnern. Und wie früher, gehören die meisten seiner Träume entweder dem „Labyrinth“ an oder der „Reise“. Beide Traumarten wirken wie gemacht, nämlich insofern sie ihm wie Fortsetzungen erscheinen; das heisst sie bilden, wenn er sie im Wachzustand in ihrer Gesamtheit überblickt, einen relativ sinnvollen Zusammenhang.
Schauplatz der Labyrinthträume ist ein riesiges Gebäude, mal ein Häuserblock oder ein Hochhaus voller Menschen, mal ein Palast, ein Schloss, ein alter Theaterbau, menschenleer; mal auch eine Art Bunkeranlage oder etwas, das wie das Innere eines Riesenschiffs wirkt; während in den Reiseträumen zwar alle Verkehrsmittel schon irgendwann vorkamen, meistens aber Eisenbahnzüge der Schauplatz sind. So wie er im Labyrinth jedesmal auf ihm neuen unbekannten Wegen herumirrt, dabei aber weiss, dass es immer dasselbe Gebäude ist, so weiss er auch über die Reise jedesmal, dass es in den wechselnden Gegenden immer dieselbe ist: die Reise, von der er nicht weiss, wohin sie geht.
Seit er begonnen hat, sich das jeweils Bemerkenswerte eines Traums in ein Notizbüchlein zu schreiben, ist ihm als eine allmähliche Veränderung seines Traumleben aufgefallen, dass es immer konkreter mit seinem Wachbewusstsein zusammenhängend erscheint. Weil er den Träumen gegenüber jetzt aufmerksamer ist? Und er fragt sich: Kann etwa meine Aufmerksamkeit bewirkt haben, dass ich neuerdings anders träume?

Da war doch was. Das fällt ihm ein, immer wieder: dass da etwas ist, über das er unbedingt nachdenken muss. Schon gestern war es so gewesen, und vorgestern: Entweder fiel ihm ein, dass da was war – dann wurde er unterbrochen und dachte nicht mehr daran; oder er hatte Gelegenheit, sich zu konzentrieren – dann aber kam er nicht darauf, dass da was war.
Jetzt, da ihm gerade wieder eingefallen ist: Da war doch was, fragt schon wieder ein Fahrgast: „Keine Musik heute?“
Mann, Schell, reiss dich zusammen! Deine Kunden wollen das Retro-Taxi wegen der alten Musik … „Reggae gefällig?“ „Na klar!“ Als er dann aber hört, was er da eingeschoben hat, murmelt er: „Maxie Priest, also das geht ja heute gar nicht“, und er greift erneut in die Reggae-Abteilung … Sly & Robby, The Adventures of a Bullet. „Das geht.“

Seit er in Schells Bureau das Kapitel Dem Machtwort auf der Spur gelesen hatte, liess sich dieser Ort nicht mehr betreten. Zunächst hiess es jedesmal, wenn er oder Freund Manne es versuchten: Vorübergehend nicht verfügbar. Sie probierten es täglich, vergebens. Dann hiess es nur noch: Zugang verweigert. Sie probierten es weiter, und weiterhin vergebens. Und schliesslich kam der Tag, von dem an jedesmal, wenn sie Schells Bureau eingaben, der Bildschirm schwarz wurde und darauf die kleine Zeile erschien: Hier ist das Internet zuende.
„Soll wohl ein Witz sein“, hatte er zu Manne gesagt.
„Ein Witz ohne Pointe? Ist doch kein Witz.“
„Weil wir ihn noch nicht kapieren. Oder weil er sich erst noch zum Witz entwickeln muss.“
„Wir haben es also mit einem Witz-Potential zu tun.“
„Aber ob man darüber auch schon lachen darf? Das wäre ziemlich unvorsichtig.“
„Doch unwiderstehlich. Wir lachen einfach unter Vorbehalt.“
„Genau, mit einer Klausel, die besagt, dass das, worüber wir heute lachen, sich eventuell einmal als völlig unwitzig erweisen könnte.“
„Was unter vorausschauendes Bereuen vielleicht mal in die Geschichte der Psychologie eingeht.“
„Aber erst, wenn aus der Psychologiegeschichte die Geschichte des Karma-Bewusstseins geworden ist.“
„Och, Schell, damit machst du uns jetzt das ganze schöne Witz-Potential kaputt.“
„Nur so wird Platz fürs nächste.“
Als er jetzt an dieses Gespräch zurückdenkt, fällt ihm ein, von wem er das hatte, was ihm damals bezüglich Karma-Bewusstsein an Stelle von Psychologie herausgerutscht war, von Mahmoud nämlich. Denn er sitzt gerade an einem Taxistand vorm Hauptbahnhof in seinem Wagen und hat plötzlich diesen sehr sympathischen iranischen Facharzt für Nierenheilkunde vor sich: in der einen Hand die Reisetasche, die andere am Hut, damit der starke Wind ihn nicht davonbläst, im Laufschritt die Straße überquerend und so offensichtlich in höchster Eile, dass leider eine auch nur flüchtigste Begrüßung hier unangebracht wäre.
So ein begeisterter Mensch, denkt Schell, wie gern ich mich mit dem mal wieder unterhalten würde … Woher er wohl was über Karma weiss?
Dass dieser einzige aus Ingruns Freundeskreis, den Schell tatsächlich vermisst, ein Wiedersehen mit ihm vielleicht absichtlich vermeidet, weil er inzwischen Schells Stelle als Ingruns Liebhaber eingenommen hat, auf diese Idee wäre er von sich aus nie gekommen. Und als er es erfährt – kaum zehn Minuten später nämlich –, wird er finden, dass es ja nur für Mahmoud spricht, wenn der bisher die Begegnung mit ihm deshalb vermieden hatte, um ihnen beiden eine Peinlichkeit zu ersparen. So etwas kann Schell gut nachvollziehen; auch wenn er selbst gar nichts daran peinlich findet. In solcher Hinsicht ist er pragmatisch eingestellt: Sollte Mahmoud besser zu Ingrun passen als er, umso besser doch für alle Beteiligten. Wobei ihm eigentlich solche Ökonomie verdächtig ist und ihm auch nicht entgeht, dass er insgeheim sich selbst für diese Art emotionaler Logistik sogar ein wenig verachtet.

Der Wind ist heftiger geworden, rüttelt jetzt regelrecht an seinem Taxi und treibt etlichen Abfall durchs Bild, Pappbecher, Tüten, ganze Müllsäcke …
Jedenfalls hatte er noch über längere Zeit besagtes Weblog zu öffnen versucht und doch immer wieder nur gelesen, dass hier das Internet zuende sei; dann immer seltener; dann nur noch alle paar Wochen. Schliesslich hatte er gedacht: Das war’s wohl, der Spuk ist vorbei; und er war froh darum gewesen.
Doch wie oft er sich das auch gesagt hatte: Schliessen wir dieses verstörende Kapitel, das Ereignis sei Vergangenheit!, so oft war ihm seitdem auch in den kleinsten, alltäglichsten Bezügen immer wieder klar geworden, dass es ihn in Wahrheit vollkommen beherrscht; dass das Ereignis, dieses große unlösbare Rätsel, zum Epizentrum seines Daseins geworden ist.
Er hat die Unlösbarkeit zu akzeptieren gelernt, und für dieses Ergebnis – wie vorläufig es auch sein mag – ist er dankbar, ja hat dabei gar ein Gefühl von Glück gehabt.
Das Unerklärliche irgendwann unerklärlich sein zu lassen, ohne darüber in Gleichgültigkeit zu verfallen; der Unlösbarkeit sich zu ergeben, ohne seinen Verstand aufzugeben, vielmehr sich selbst als denkendem Wesen gegenüber Nachsicht zu üben, ja diesen Blickwinkel, diesen eigentlich unmöglichen, weil unablässig sich bewegenden Standpunkt zu finden, das heisst als solchen überhaupt zu erkennen, und ihn, da man ihn ständig verliert, immer wiederzufinden – wer das vielleicht für ein Geringes hält, könnte es auch für überspannt halten, dass Schell sich manches Mal sogar zusammenreissen muss, damit er sich vor Euphorie nicht selber gratuliert, das heisst der Eitelkeit nicht nachgibt und irrtümlich meint, es sei allein sein Verdienst gewesen, dass er nicht den Verstand verloren hat; dass er so gut wie heil geblieben ist und sich nach alledem, ein wenig überspitzt gesagt, selber überhaupt noch wiedererkennt.
Denn das gründet sich ihm fortan unwiderleglich auf Erfahrung: Dass er, anders als er bisher gedacht hatte, gar nicht allein da draussen ist – mit da draussen meint er alles, was nicht er selbst ist, das ganze Universum –; vielmehr dass da Geist ist, guter Geist, aber auch nicht so guter, und auch unguter Geist – Geist jedenfalls, in dem und durch den er überhaupt existiert. Wenn er sich diese Einsicht auch immer wieder aufs neue vergegenwärtigen muss – da war doch was –, weil er sie immer wieder vergisst – zu groß ist sie für sein Alltagsbewusstsein –: dieses Hin und Her zwischen Erinnern und Vergessen gehört wohl, notwendig vielleicht, wie er sich sagt, zu den Bedingungen des Daseins.
Und dass sich nun auch die „Realität“ als ganz anders erweist, als er immer dachte – aber wie denn hatte er sie sich vorher eigentlich gedacht? Und wie denn, fragt er sich, denke ich sie mir jetzt? Und er horcht ganz genau hin und stellt verwundert fest – und zwar verwundert eigentlich nur aus alter Gewohnheit –: Der Gedanke Realität, in Ruhe gelassen so wie er ist, löst das in mir aus, was mir doch inzwischen längst vertraut ist als – da war doch – nein, da ist doch was. Raum der Vorstellung? Oder Raum in der Vorstellung? Vorgestellter Raum?
Hiermit ist Schell in seinem sogenannten Tautoloid, dem Ort im Raum, der zum Raum wird, in dem Orte sind. Wo der Raum, denkt er, den ich mir vorstelle, zum Raum der Vorstellung wird. Nenn es doch einfach: Stille.
Und jetzt ist er müde, sehr müde.
Er denkt: Säße ich in einem Zug und hätte einen Hut auf, würde ich mich nun zurücklehnen, mir diesen Hut über die Augen schieben und ein wenig ausruhen … Und als ihm einfällt, woher ihm gerade dieses Bild kommt, überfliegt ein Lächeln sein erschlafftes Gesicht.
Da pocht es auf der Beifahrerseite an die Scheibe und der schlanke, elegant gekleidete Herr mit dem schwarzen Schnurrbart, der da, seinen Hut in der Hand, mit zerzaustem Haar, fragend zu ihm hereinschaut, ist – Mahmoud.
Schell klopft auf den Beifahrersitz.
„Ich sah dich eben lächeln“, sagt der sympathische Nierenheilkundler, als sie sich erfreut die Hände schütteln, und mit Blick auf den Cassettenrecorder: „Vielleicht weil das grandiose Pathos von Mr. Ferry so hervorragend zu diesem Wetter passt?“
Schell drückt die Aus-Taste. „Eigentlich geht mir Roxy Music schon fast wieder auf die Nerven. Da aber alternativ gerade nur John Coltrane infrage käme … Nein. Worüber ich lächeln musste, war diese Stelle bei Proust: Wie Swann da das Vergehen seiner Liebe zu Odette erlebt; es bedauert, dass mal wieder die Wirklichkeit anders ist als er sie gern hätte; dass er auf das nicht mehr vorhandene Gefühl nicht genussvoll wehmütig zurückblicken kann wie ein Reisender vom Zug aus auf eine entschwindende Landschaft – wie aber der Autor, Proust selbst, genau das eben vermag, und sich sogar, in der Gestalt von Swann, und ach so müde als solcher, einen Hut über die Augen schieben kann, um sich bei einem Nickerchen in der imaginären Eisenbahn von den Anstrengungen des Beschreibens zu erholen.“
Mahmoud seufzt. „Unser Proust, o ja … Hat uns je einer die Komödie des Leidens so fein, so schön serviert? Jedenfalls habe ich mich völlig umsonst abgehetzt, mein Zug kommt, wenn überhaupt heute noch, mit Riesenverspätung, wegen Sturmschäden, und damit brauche ich gar nicht erst loszufahren; was für die Kollegen auf dem Kongress den großen Vorteil hat, dass mein Vortrag einfach ausfallen wird, und für mich, dass ich unverhofft zu etwas Freizeit komme.“
„Ist erst zehn Minuten her, da dachte ich, wie gern ich mich doch mit dem Mahmoud mal wieder unterhalten würde.“
„Das freut mich! Übrigens, die Nummer, die ich von dir habe …“
„Ist genauso falsch wie die, die ich von dir habe. Dacht ich mir schon, dass sie uns verarscht hat. Du glaubst mir nicht – verstehe. Warte – hier: das ist die Nummer, die sie mir gegeben hat, angeblich deine. Und die vergleiche mal mit der von mir, die du von ihr bekommen hast.“
Mahmoud, als er tat wie ihm geheissen, staunte: „Dieselbe. Das heisst … Sie hat sich vertan!“
„Jaja. Und dass die Kartons mit meinen Sachen bei dir deponiert sind, stimmt das etwa?“
„Äh, bei mir? Da ist nur immer noch das Büchlein, das du mir mal geliehen hast.“
„Ach ja, das von Cusanus, Von der wissenden Unwissenheit. Wieso gerade das?“
„Wir hatten’s damals vom Turing-Test. Wie man aus Texten herauslesen kann, ob sich da jeweils wirklich Geist oder nur simulierter Geist ausdrückt. Du kamst mit dem Beispiel, wie besonders angenehm der Geist sich zeigt, wenn er bei einem Denker wie Cusanus in Erscheinung tritt. Und du hattest recht, kann ich nur sagen. Selten dass ich etwas zweimal lese, dieses aber über die wissende Unwissenheit hatte ich schon dreimal mit im Urlaub.“
„Dann ist wenigstens dies eine meiner Bücher nicht verloren. Behalte es.“
Mahmoud streicht sich nachdenklich den Schurrbart. „Ingrun hat tatsächlich behauptet, deine Sachen seien bei mir deponiert?“
„Tja. Was erwarten wir von einer Person, die einerseits ein Schweinegeld mit Image-Beratung macht, sich andererseits mit gender studies profiliert und drittens extra nach Vancouver fliegt, um Eckart Tolle zu sehen? Ich meine, es dürfte doch für so jemanden völlig normal sein, zwei Deppen wie uns just for fun einen Scheiss zu erzählen.“
Da lacht Mahmoud. „Ein bisschen Groll ist da nicht ganz zu überhören.“ Dann wieder ernst, und sichtlich verlegen: „An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass, äh, Ingrun und ich …“
Schell glotzt ihn an. „Du? Mit Ingrun?“
„Ich sehe, jetzt rattert’s bei dir – hey, lohnt nicht; als es funkte zwischen ihr und mir, ward ihr schon längst nicht mehr zusammen.“
„Na schön, aber bei euch? – ist es noch nicht – vorbei?“
„Wie? O nein! Wir überlegen im Gegenteil sogar –“
„Zu heiraten! Das kenne ich! – Mann, Mahmoud, lieber Freund, du bist doch klug!“
„Danke. Du doch aber auch – nur kannst auch du nicht immer völlig objektiv sein.“
„Hm, hast recht, ich muss die Klappe halten. Nur überlege es dir bitte gut. Dass Ingrun power hat, weisst du – aber dass sie auch Nachtwandlerin ist? Du kannst nie wissen, ob sie gerade wach ist oder träumt.“
„Nun hör aber auf! Das ist Manipulation.“
„Zum Glück bist du Arzt, das wird den Notfall dann hoffentlich etwas abfedern.“
Worauf Mahmoud kichert, die Play-Taste drückt, sodass Bryan Ferry weitersingen kann, und befiehlt: „Bring uns hier raus. Kurs auf einen Laden, in dem wir anständig zu Mittag essen können.“

Schell hatte Uschi angerufen und gemeldet, es flögen inzwischen beträchtlich große Dinge durch die Gegend, auch Baumkronen zum Beispiel, daher habe er den guten alten Daimler in einem Parkhaus untergebracht und sich in ein Restaurant zurückgezogen.
Mahmoud kommt wieder auf Ingrun zu sprechen. „Das mit Vancouver, ist das wahr?“
„Na klar. Sie wollte unbedingt Herrn Eckart Tolle exklusiv. Klappte natürlich nicht; man braucht ihm ja nur zuzuhören, oder ihn zu lesen. Aber tatsächlich machte sie ihn quasi für den Fehlschlag verantwortlich; und fortan war er für sie gestorben.“
Mahmoud’s Versuch, das amüsant zu finden, fällt wenig überzeugend aus. „Ich denke, du übertreibst. Weil du noch immer sauer auf sie bist. Verständlich, da du glaubst, dass sie deine Sachen einfach hat verschwinden lassen.“
„Glaub ich nicht nur – hat sie. Aber deswegen grolle ich ihr gar nicht, bin ja sogar dankbar, den ganzen Krempel los zu sein. Höchstens vermisse ich mal das eine oder andere Buch, auch das ist aber halb so wild; was ich in meinem Gedächtnis nicht wiederfinde, war für mich wahrscheinlich sowieso nicht wichtig.“
„Aber sicher liest du noch. Wo bist du da gerade?“
„Bei Schelling. Lese zur Zeit nur noch in der Bibliothek. Ach ja, und suche gerade eine Reiselektüre. Freunde von mir finden, ich sei gestresst; von was, ist eine lange Geschichte, erspar ich uns lieber; ich müsse jedenfalls unbedingt mal ausspannen, verreisen; Problem ist: Wohin?“
„Das ist natürlich schwierig. Aber macht Spaß, hoffe ich doch.“
„Das Ziel richtet sich ganz nach der gesuchten Lektüre, diese jedoch hängt vom Ziel der Reise ab – komisch ist das irgendwie.“
„Wenn ich das auf Diagnose und Therapie übertragen würde, o je …“
Sie denken kurz darüber nach; schütteln dann beide den Kopf, und Mahmoud sagt: „Die Welt wäre eine völlig andere.“
„Man würde unsere Organe unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachten, die Nieren zum Beispiel … Gibt’s da übrigens irgendwas neues?“
„Darüber würde ich heute Nachmittag in Berlin sprechen, wenn ich jetzt im Intercity säße. Wie brennend interessiert dich, was an Rückschlüssen die klinische Forschung zur Zeit über das Treiben gewisser Moleküle zulässt?“
„Was an der Nierenforschung fürs Big Picture relevant ist, interessiert mich allemal, schliesslich trage ich selber ein Paar dieser Wunderwerke im Leib. Das heisst, was den Aspekt Mikrokosmos/Makrokosmos angeht – und der scheint mir doch gerade in puncto Medizin der wesentlichste zu sein –, Nierchen hier drinnen, Planeten da draussen –“
„Ach, Schell, du weisst genau, besonders dafür haben wir in der Uniklinik gar keine Zeit. Aber natürlich darfst du mich gern provozieren.“
„Du hast nur keine Lust, einen Laien ausserhalb der Sprechzeiten nephrologisch aufzuklären.“
„Oder bin jetzt dazu nicht in der Lage. Weil ich gerade nicht ganz bei der Sache bin. Weil ich mich frage, was ich da an dir wahrnehme – ich meine, Stress ist nicht das richtige Wort; eine lange Geschichte, sagtest du.“
Schell schaut aus dem Fenster. Das Restaurant ist voll besetzt und alle schauen hinaus. Der Sturm erzeugt ungeahnten Lärm, heult, braust, pfeift und lässt es krachen, und die Sirenen von Feuerwehr- und Rettungswägen schwellen unablässig an und ab.
„Und in wiefern Ingrun was damit zu tun hat, frag ich mich“, fährt Mahmoud fort.
Schell nickt gen Fenster. „Damit? Sie mag wohl mächtig sein, aber dass sie auch das Wetter so krass beeinflussen kann, glaube ich nicht.“
„Dass du wie eh und je zum Scherzen aufgelegt bist, beruhigt mich. Doch dass du kein anderes Problem hast als Wohin-in-Urlaub, das nehme ich dir nicht ab. Vielmehr möchte jetzt der Nephrologe gerne wissen, was dir tatsächlich so an die Nieren geht.“
Unmöglich. Wie das mal kurz erzählen? „Kennst du das Gefühl, gleich kommt’s? Ich meine, immerzu, ohne aber dass es dann kommt?“
„Du sprichst von der Erkenntnis.“
„Von der, genau. Nicht von irgendeiner, sondern von der für mich einzig wahrhaft wichtigen. Der Erkenntnis, was tatsächlich real ist.“
„Aber sie kommt nicht …“
„Doch. Sie kommt und kommt und kommt.“
„Hört nicht auf zu kommen … Au weia.“
Schell bemerkt da ein Vibrieren; holt das Handy aus der Hosentasche – kurze Nachricht von Frau Doktor: 17 Uhr, heute.

I.8

Allein im tiefen Staat

 

Das Vestibül vor meiner Tür ist Teil einer weitläufigen Galerie, die eine riesige Halle umrundet, aus der, hier und gegenüber, zwei breite Steintreppen heraufführen, in mattem, von hoch oben durch eine Glaskuppel einfallendem Tageslicht.
Nirgendwo jemand zu sehen. All die hohen alten Holztüren, die von der Galerie abgehen, sind geschlossen. Und nichts ist zu hören ausser, sehr gedämpft, von da und dort ein monotones Klappern. Mechanische Schreibmaschinen. Die werden hier noch viel benutzt, trotz all der Computer, die in jedem Büro zwar da sind, doch wegen der unzuverlässigen Stromversorgung allzu oft nicht funktionieren.
Die mangelhafte Elektrik, dieses Hauptproblem der Andrianen – das übrigens auf den entlegeneren Inseln des Archipels niemanden groß kümmert –, ist auch hier auf Andria, der Hauptinsel, bis heute ungelöst geblieben. Erschwerend kommt jene Anomalie hinzu, die das hiesige Schwingungsspektrum betrifft. Sie bewirkt, dass auch wenn es Strom gibt, dann noch keineswegs Gewähr ist für das Funktionieren der Drahtlos-Übertragung. Was Leuten von auswärts immer wieder Anlass ist, sich empört über die Rückständigkeit der Andrianer zu beklagen. Das gibt’s doch nicht!, so hört man dauernd. Die hiesigen Frequenzen nicht stabil genug für digitalisierte Funkverbindungen? Das kann doch nur ein Märchen sein!

Um mich zu sammeln, gehe ich kurz auf Abstand; zoome mich aus der unmittelbaren Umgebung heraus, bis ich den Schauplatz als Panorama vor mir habe: diesen sogenannten Regierungspalast, der, so wie das Nationalmuseum, ein ähnlicher Kasten vis-a-vis, riesig und düster, jener Ära entstammt, in der den Andrianen wechselweise von Spaniern, Franzosen und Briten europäische Kultur aufgeprägt wurde. Bis zur sogenannten Unabhängigkeit in den 1960ern, als im Verlauf des Kalten Krieges die Hauptinsel zu einem Stützpunkt der amerikanischen Kriegsflotte wurde. Während nun inzwischen „wir“ – nicht offiziell natürlich, de facto aber – die „Regierung“ übernommen haben.

Ich zoome zurück in das schummrige Vestibül, wo auch weiterhin nichts als das leise Geklapper der Schreibmaschinen zu hören ist.
Was fange ich mit den Praktikanten an? Wenn solche jungen Leute aus den Wohlstandsländern kommen, dann sind sie so an das permanente Auf-Linie- beziehungsweise Online-Sein gewöhnt, dass sie hier, wo sie höchstens stundenweise Netz haben, natürlich erstmal die Wände hochgehen.
Lemm steht das durch, nehme ich an. Doch diese Monalisa? Eher nicht. Denn ihr overdrive ist ganz klar eine Entzugserscheinung. Falls sie’s aber doch durchsteht, muss ich dafür sorgen, dass sie in eine andere Abteilung kommt; zum Beispiel denen drüben in der Counter-Intelligence das Leben schwer macht, genauer gesagt: dem Rivera in die Arbeit pfuscht. – O je, genau so würde Paley denken. So denkt man in diesem Hause. So denke nun auch ich schon –.
Ich muss hier raus!
Brains. Der Interpol-Detektiv. Dass man den nicht einfach wie eine x-beliebige Person suchen und finden kann, weiss Paley ganz genau. Entweder ist Brains – falls er wirklich in Babaal ist – wegen mir hier: dann wird er mich finden; oder er ist wegen etwas hier, das nichts mit mir zu tun hat: dann kann ich lange suchen, und das hiesse: nicht leisten können, was Paley von mir erwartet. Womit dieser einen Grund hätte, meine „Entwicklung zu fördern“, wie es im Jargon des Hauses heisst, oder auch: mir „Gelegenheit zu bieten, mich auf einem anderen Tätigkeitsfeld angemessener einzubringen“, kurz gesagt: mich kaltzustellen. Was mir ja egal sein könnte, da ich sowieso hier raus will, mir aber trotzdem zuwider wäre, weil ich doch stark das professionelle Ethos in mit vorhanden fühle.
Jedenfalls habe ich diese Sache als einen Test zu betrachten, besser gesagt: auch diese Sache, denn allmählich kommt mir hier alles wie ein Test vor. Dass ich demnächst Brains begegne, muss also sein; und falls er bis jetzt noch wegen etwas hier ist, das nichts mit mir zu tun hat, ist dafür zu sorgen, dass ich baldigst was damit zu tun bekomme. Sonst wird er mich nicht aufsuchen und also ich ihn auch nicht finden.
Wann immer ich an Brains denke, fällt mir unweigerlich Bangor ein, wo ich ihn einst kennengelernt habe; als er da anfing, in jenem Fall von Liebestod zu ermitteln. Weshalb ich ungern an Brains oder an Bangor denke; stets nämlich berührt mich das Thema Liebestod sehr unangenehm. Dass ich mit diesem alten, juristisch längst verjährten Fall etwas zu tun habe, ahne ich – sonst würde Brains nicht jedesmal, wenn sich unsere Wege kreuzen, die Rede darauf bringen –, doch was ich damit zu tun habe, will ich durchaus gar nicht erfahren. Insofern bin ich auf Begegnungen mit Brains nicht gerade scharf, auch wenn die mir in der Regel interessante, manchmal wegweisende Informationen bescheren. Gewöhnlich endet unser Austausch mit dem Deal, dass ich ihm irgend ein entscheidendes Detail verrate und er mich dafür mit gewissen Details verschont, solchen nämlich, die mir meine Rolle im Falle Liebestod erhellen würden.
Bangor … Bangor! Das Stichwort! Zu dem, an was ich mich unbedingt erinnern wollte … Von dort kam ich, als ich vorhin diese Treppe heraufkam …
Ich starre in die dämmrige Halle hinunter. Wenn ich dahin zurück müsste? Keine Chance; ein viel zu komplizierter Weg. Erinnere mich nur noch an diesen schönen stillen Innenhof, der mir so bekannt vorkam. Weil ich genau von dort aus einmal ins sogenannte Telesterion geraten bin.
Jedoch die Kellertreppe, die ich da heraufkam, war mir neu. So wie ich auch diese Gewölbe da unten nicht kannte, diese Untergrund-Verbindung zum alten Flyshwerk. Durch jene Eisentür, die früher so hochmysteriös, vorhin aber nur etwas schwergängig war; und dort wieder Treppen. Die hinauf, und schon wäre ich wieder wie auf der anderen Seite, in Bangor –
Moment! Nein! Sah nur so aus wie Bangor, war es aber nicht – dieses Bangor war Bangot!
Jetzt habe ich alles wieder vor mir: das ursprüngliche Flyshwerk als Museum, die seltsame Führung, das mir unsichtbare Virtuelle, die Leute, die mich so befremdeten, das Steampunk-Ambiente … Und Flyrie! Der nicht, wie verabredet, erschienen war.
Und da fällt mir auch die Japanerin wieder ein. Die mir dort im Carlton aus dem Labyrinth herausgeholfen hat. Genau das, so wird mir klar, habe ich für Flyrie zu leisten. Dass er mir zur Hilfe in Bangot sei, war mal wieder falsch gedacht. Und da klopft mir plötzlich arg das Herz. Ich muss ja befürchten, er hängt da noch fest und schlägt sich mit autonomen Systemen herum. Die ihn womöglich zu töten versuchen. Schnellstens, heisst das, muss ich wieder nach Bangot, um ihn da rauszuholen. Aber wie? Wie jenen unterirdischen Gang, wie jene spezielle Kellertreppe wiederfinden? Ich muss in jenen Patio, ins Telesterion zurück. Doch wenn ich diesen Patio auch kenne, so habe ich doch keine Ahnung, wo er ist, wie man hineinkommt. So etwas wie das Telesterion findet man ja nicht einfach auf dem Stadtplan. Man müsste jemanden kennen, der weiss, dass es hier in Babaal so etwas gibt, und was ein Telesterion überhaupt ist. Ob Rivera es weiss? Oder jemanden kennt, den man fragen könnte?

Ein wenig hoffe ich, als ich aus dem Vestibül erneut durch diese Tür eintrete, hier nicht das chaotische Büro wieder vorzufinden, sondern das Studierzimmer, das Gegenbild zum Chaos: gediegen, klar und aufgeräumt.
Leider hat sich nichts verändert.
Könnte es nicht aber, von diesem Chaos nur verdeckt, doch das Studierzimmer sein? Gerade weil das Gediegene und das Klare hier völlig fehlen …
Ich versuche das Chaos wie etwas mir ganz neues zu betrachten.
Zwar steht da eine alte Schreibmaschine, doch meine gute alte Tippa ist das nicht. Auch das Sofa ist nicht dasselbe wie im Studierzimmer; aber immerhin, es ist da. Sehe auch nirgends den Spiegel; auch nichts, was symbolisch für einen Spiegel stehen könnte. Und auch die steinerne Schale mit dem Zigarrenstummel fehlt. Ganz zu schweigen von den fünf Objekten: das Wappen der Royalisten, der historische Säbel, das Sitting Bull-Portrait, die Maske, das Renaissance-Gemälde – sie fehlen allesamt. Statt des Gemäldes hängt eine Karte des Andrianischen Archipels überm Sofa. Auch dieses Sofa übrigens wirkt einladend.
Die Regalwand, die im Studierzimmer aus Büchern besteht, ist hier bis auf die letzte Lücke mit Aktenordnern gefüllt. Was sich überall stapelt, sind Zeitschriften und Broschüren, Landkarten, Tabellen, Memoranden, Skripten, Notizblätter; und sämtliche Bücher erweisen sich bei näherem Hinsehen ausnahmslos als Nachschlagewerke, Lexika, Almanache und dergleichen. Ich staune. Keine sonstigen, keine literarischen Bücher? Keine. Da ist nicht einmal Livermore’s Standardwerk über Andria. Ich bräuchte ein Exemplar davon für Lemm …
Nicht mal ein Buch? Das gibt’s doch nicht! Ist eigentlich unmöglich.
Leider habe ich zum Weitersuchen nicht die Muße, die Zeit drängt.
2014 haben wir laut Paley, und das kann ich ihm ausnahmsweise glauben.
Dass ich hier nicht im Jahr 2020 bin, ist ja an sich nichts besonderes; doch dass wir 2014 schreiben, ausgerechnet das Jahr, das ist interessant. Das Jahr, in dem Schells Bureau im Internet erschien. Zu Weihnachten. Als ich auf Kuba war. In Havanna. Wo das Netz damals noch in den Anfängen steckte, so schwach entwickelt wie es zur Zeit auch hier in Babaal noch ist.
Wie ich ja sehe, herrschte also damals, 2014, dieses Chaos in meinem Büro; und das laut Paley schon seit Jahren. Da hat er einfach recht: hier muss endlich aufgeräumt werden. Doch erstens: wo anfangen? Zweitens: ist es sowieso nicht zu schaffen. Und drittens: zu nichts habe ich weniger Lust. Und da gähne ich schon und weiss, ohnehin wird sich in mir gleich der „Mann auf der Flucht“ durchsetzen und mich in Richtung Sofa dirigieren. Und nachher werde ich einfach Paley’s Ratschlag befolgen und mir einen Schredder besorgen. Das ist die einzig realistische Lösung. Das mache ich morgen mit Lemm, schreddern – und dann auch gleich den Inhalt all dieser Aktenordner. Damit er dieses ganze Zeug gar nicht erst zu digitalisieren braucht.
Den armen Lemm zum Bücherlesen zu verdonnern, welch ein Blödsinn! Lieber mache ich ihn erstmal mit Babaal bekannt. Da er ja nun schon mal hier ist, wäre es am sinnvollsten, ihn als meinen Nachfolger zu betrachten. Und dann kann’s doch nur noch ums Wesentliche gehen, denn uns bleibt nicht viel Zeit; und das Wesentliche ist, dass er die Real-Technik begreift. Im Prinzip wenigstens. Und sobald der Junge verlässlich auf seinen eigenen Beinen steht, lasse ich diesen Schauplatz hinter mir. Um weiter zu versuchen, auf die nächste Ebene zu kommen; es konsequenter zu versuchen als bisher: Das Reich zu begreifen.
Da höre ich vom Fenster her Geflatter. Eine Brieftaube ist hereingeflogen und auf dem Schreibtisch gelandet. Kann nur Rivera sein, von dem sie Botschaft bringt. Die Counter-Intelligence gibt sich traditionell altmodisch, und speziell Rivera nutzt gern die älteren Wege der Kommunikation.
Lower your profile!
Eine Warnung.

Wir sollen, auch wenn das nirgendwo geschrieben steht, zu den Kollegen der Counter-Intelligence möglichst Abstand halten; was begreiflich ist, arbeitet doch diese besondere Abteilung irgendwie gegen alle anderen Abteilungen; irgendwie, denn so recht weiss niemand, wie. Insofern stellt sie für uns Nichteingeweihten eine latente Bedrohung dar. Was im einzelnen die Counter-Leute treiben, wer bei ihnen das Sagen hat, ob die Mittel, die sie zur Verfügung haben, wirklich unbegrenzt sind, wie man munkelt, über all das lässt sich nur spekulieren. Worum sie jedenfalls beneidet werden, ist das Privileg, dass sie nichts erklären, nichts begründen müssen, da sie Rechenschaft anscheinend, wenn überhaupt, nur ganz oben abzulegen haben. Man kann so sagen: Was im Staat der „tiefe Staat“ ist, ist wiederum im tiefen Staat die Counter-Intelligence.
Weil ich aber nun einmal mit dem Counter-Mann Rivera schon seit vielen Jahren gut bekannt, ja befreundet bin und mein Spielraum, was die im Regierungspalast herrschenden Gepflogenheiten angeht, zwar eng, doch durchaus vorhanden ist, setze ich mich, wann immer es mir, oder ihm, angezeigt erscheint, über das Abstandsgebot hinweg, um mit ihm, wie wir es nennen, „eine Runde zu drehen“.
Stets hält Rivera, wenn wir unterwegs sind, Ausschau; nach Gesichtern, Konstellationen, Hinweisen auf die atmosphärischen Verhältnisse; Ausschau nach allem möglichen, nicht zuletzt auch in den Läden voller „Trödel“, die’s in Babaal so reichlich gibt: nach alten Büchern, seltenen Instrumenten, nach Kryptotabellen und Wegskizzen; nach Kram aus angeblicher Piratenbeute, Siegelringen und Münzen, Kultobjekten und Artefakten aus dem Outer-Space-Untergrund; sowie nach Trickvorrichtungen, Illusionsbrillen, Funkgeräten und anderem Low-Tech-Plunder. Ständig kauft und verkauft er solches Zeug, und klar geht’s ihm nicht eigentlich um diese Gegenstände, vielmehr ums Tauschgeschäft und die damit einhergehenden Schwätzchen mit all den dubiosen Händlern. Kurz, mit Rivera eine Runde zu drehen, macht Spaß.

Lower your profile! … Vor was will er mich warnen? Gibt’s vielleicht etwas, das ich ohne es zu bemerken ausgeplaudert habe? Oder das ich versehentlich noch ausplaudern könnte? Das System ist gelenkig und reagiert schnell. Jederzeit – in diesem Moment – kann sich die Gesetzeslage ändern, zum Beispiel dergestalt, dass der unverdächtigste Status plötzlich der verdächtigste ist. Und sich dann mit dem Argument zu rechtfertigen, dass man ja nun mal naiv sei, wäre einzig sinnvoll, wenn man nur noch in einem Schuldbekenntnis die Chance sieht, sich aus der Affäre zu ziehen. Wenn man allerdings glaubt, das Eingeständnis der Naivität müsse doch, wie die Naivität selbst, die Schuldfähigkeit mindern, ist man wirklich naiv. Und so wiederum könnte sich doch das naive Eingeständnis der Naivität als das blaue Auge erweisen, mit dem man eventuell davonkommt. Alles in allem hängt es letztlich davon ab, wie nachlässig oder human der entsprechende Algorithmus programmiert ist; genauer gesagt: wieviel an Spuren von Nachlässigkeit oder Humanität in der Selbstprogrammierung noch enthalten sind. Womit nur angedeutet sein soll, dass es nicht ganz leicht ist, im tiefen Staat auf Dauer zu bestehen.

Lower your profile … Hat sich etwa mein Profil in letzter Zeit erhöht? Könnte sein; denn dass ich davon nichts bemerkt habe, bedeutet gar nichts. Unwahrscheinlich jedenfalls, dass Rivera mich grundlos einfach nervös zu machen versucht. Er weiss, dass ich das low profile immer für eine gute Strategie gehalten habe.
Ich gähne – und finde, in speziell diesem Zusammenhang kann ein Schläfchen nicht schaden; und mache mich also low, indem ich mich auf dem Sofa ausstrecke.

Ich bin am Suchen, träume ich; suchend nach den Gegenständen, die zum Studierzimmer gehören, aber in verschiedenen Versionen auch in jedem der fünf alten Refugien vorhanden sind: Schreibmaschine, Spiegel, Aschenbecher. Denn dieses Chaos-Büro ist in Wahrheit, so scheine ich zu glauben, Refugium Nr. 6, das Studierzimmer, nur in unaufgeräumtem oder: getarntem Zustand.
Den Spiegel finde ich nicht, dafür, als ich am Schreibtisch eine Schublade aufziehe, von der ich bis dato gar nichts wusste, ein Buch, und zwar des Dante Alighieri Divina Commedia. – Oh. Ja das, das wollte ich immer schon mal lesen. Aber im Original? Italienisch kann ich leider nicht. Und sowieso habe ich mal wieder, wie immer, keine Zeit.
Sie drängt, die Zeit, immerzu. Das ist sie ja gerade: dass sie drängt. Aber auch im Traum? Denn ich träume doch … Ach so ein Traum ist das mal wieder, wo du weisst. Auch was Zeit ist. Und nachher weisst du nicht mehr, dass du weisst; wie blöd … Aber dass du’s jetzt wenigstens weisst, sei doch froh!
Ich suche weiter, und schaue endlich auch unterm Sofa nach, und da, mit stark eingestaubtem Deckel, ist sie ja: meine alte Tippa. Und dann, zur weiteren Bestätigung, dass das hier wirklich das Studierzimmer ist, entdecke ich, ganz simpel auf der Fensterbank, auch die kleine Steinschale mit dem Rest jener Zigarre, die nur von einem stammen kann, von Forty Operas. Dies unscheinbare Denkmal, denke ich, und schnuppere daran. Es stinkt genauso wie erwartet: nach Schamanen-Kraut. Konnte ihn nie wegschmeissen, diesen denkwürdigen Rest, weil ich fürchtete, dann etwas zu vergessen.
Wichtig war es, aber was nochmal? Jetzt hab ich’s doch vergessen. Dann kann’s ja nun auch endlich weg, dieses obskure Denkmal. Und damit beuge ich mich aus dem Fenster und puste den alten Stummel in den Wind.

B.8

Frau Doktor

Da jener strenge Imperator ja nun seit längerem schon nichts mehr sagte, das heisst seine Autorität im Innern Schells offenbar aufgegeben hatte, und ihn jetzt also niemand mehr an die Tugenden des weisen Lebens gemahnte, ging Schell gelegentlich wieder, wie neulich schon erwähnt, Frau Doktor besuchen.
Als er sich dazu entschloss, nach einigen Bedenken, hatte er zunächst so oft vergeblich bei ihr angerufen, dass er schon dachte, sie sei gar nicht mehr tätig als Frau Doktor. Wobei ihm gar nicht in den Sinn gekommen war, die gleiche Dienstleistung eventuell bei einer anderen zu suchen. Es musste, wenn schon, dann diese Frau Doktor sein.
Endlich kam ein Telefonat zustande; er sagte: „Samsa hier. Erinnern Sie sich?“ Sie erinnerte sich nicht. „Gregor Samsa“, wiederholte er. „Ist noch nicht so lange her.“ „Tja, hm, Samsa … Beim besten Willen, nein.“
Das traf. Er rang um Fassung. War das möglich? Dass seine Selbstoffenbarung für sie eine solche Lappalie gewesen – – oder hatte er sie unterschätzt? Vielleicht berechnete sie, wie sehr das sein Ego ankratzte; wie nichtig, wie billig, wie verachtet er sich dadurch fühlen musste, von ihr einfach vergessen worden zu sein.
Genau das erfüllte seine Sehnsucht nach Bestrafung. Er war begeistert. Dass Heilung einen solchen Weg nehmen würde, hätte er sich nicht vorstellen können.
Als er bei ihr eintrat, erkannte sie ihn dann doch wieder: „Ach ja, der angebliche Taxifahrer. Immernoch auf dem Kafka-Trip?“

Es war Ingrun, der er diese Geschichte mit Frau Doktor zu verdanken hatte. Als damals für sie feststand, er sei psychisch angeschlagen und bräuchte unbedingt professionelle Hilfe, liess sie solange nicht nach, ihn diesbezüglich zu bearbeiten, bis er seinen Widerstand endlich aufgab. Der Psychologe, den er aufsuchte, brauchte kaum zwanzig Minuten, um festzustellen, er sei bei einer Kollegin besser aufgehoben. Auf Schells Frage, warum, war die Antwort nur ein leeres Lächeln; der Mann war sichtlich völlig überlastet. Dann die Psychotherapeutin: auch sie hatte offenbar mehr Arbeit als genug. Nach der zweiten Sitzung befand sie, dass sie durch das, was therapeutisch nötig wäre, um ihm effektiv zu helfen, ihre Lizenz aufs Spiel setzen würde. Worauf er große Augen machte; denn ein Missverständnis war hier ganz ausgeschlossen: sie spielte mit diesem Hinweis klar auf seine Sexualität an. „Soll nicht heissen, dass ich Sie abwimmeln möchte. Sicher könnten wir sehr interessante Gespräche führen, nur brächte Sie das nicht weiter.“ Worauf er sich für ihre Aufrichtigkeit bedankte, doch auch wissen wollte: „Und nun?“ Da sagte sie, er könne es ja mal mit „Frau Doktor“ versuchen und schrieb ihm eine Telefonnummer auf.
Zu diesem Zeitpunkt hätte er den therapeutischen Weg einfach abbrechen können, denn mit Ingrun, deretwillen er ihn eingeschlagen hatte, war es da gerade zum endgültigen Bruch gekommen. Doch inzwischen hatte er das Gefühl, dass er tatsächlich professioneller Hilfe bedurfte.

An ihrer Haustürklingel stand Maya Maier. „Frau Doktor“ war quasi ihr Künstlername. Die Wohnung im obersten Stock eines Altbaus war nichtssagend, und obwohl das Zimmer, in dem sie ihn vor einem Schreibtisch Platz zu nehmen hiess, offensichtlich wie eine typische Arztpraxis wirken sollte, war doch auf Anhieb klar, dass hier nicht Schulmedizin praktiziert wurde. Sehr gut erinnerte er sich noch an diesen ersten Termin. „Was haben Sie mir zu bieten?“, hatte sie ihn gefragt. Worauf ihm nichts besseres als „Mein Geld“ eingefallen war.
Die Haltung, in der sie ihm schon damals begegnete: streng, abweisend und genervt, hatte sich nie geändert, höchstens dass sie sich mit der Zeit intensivierte.
„Ich bin an Sie, äh, überwiesen worden sozusagen. Aus der Psycho-Ecke.“
„Bringen Sie eine Diagnose mit? Irgendeinen pathologischen Befund?“
Er schaute sie nur groß an.
„Sehen Sie, ich komme da ins Spiel, wo einer soweit von der Bahn abgekommen ist, dass Psychotherapie nichts mehr bringt. Sind Sie zum Beispiel so etwas wie der Weltherrscher?“
„Der Weltherrscher? Aber ganz im Gegenteil! Ich bin eher der Käfer, oder genauer: die Schabe, die Kakerlake. Ich heisse quasi Gregor Samsa. Sicher kennen Sie diese berühmte Geschichte von Kafka.“
Die Verwandlung. Alles klar, Herr Samsa. Derselbe Komplex, Omnipotenz, nur die andere Seite: Impotenz. Nehmen wir das erstmal als Diagnose.“
„Das geht ja richtig schnell bei Ihnen!“
„Klar, kostet ja was. Oder spielen die Kosten für Sie keine Rolle? Dann könnten wir uns Zeit lassen. Was machen Sie beruflich?“
„Bin Taxifahrer.“
Eine ihrer Augenbrauen zuckte in die Höhe. „Glaube ich nicht. Aber egal. Auch Lügen sind für die Anamnese sehr informativ.“
„Ist aber keine Lüge.“
„Dann eben eine Halbwahrheit, noch schlimmer. Haben Sie ein Hobby?“
„Wenn ich jetzt sage: Schreiben –“
„Dann ist das die zweite Halbwahrheit. Denn garantiert ist Ihnen das Schreiben wichtiger als der Taxi-Job. Verplempern wir nicht Ihre Zeit, Herr Samsa. Konzentrieren wir uns auf die Wahrheit. Und damit wir uns nicht missverstehen: Ich bestrafe. Das heisst, es geht nicht lustig zu bei mir.“
Sie führte ihn ins Zimmer nebenan, und hier sah es so aus, wie man es sich bei einer Domina vorstellt. Ersparen wir uns Einzelheiten; der Gesamteindruck löste bei Schell jedenfalls den Impuls aus, sich umgehend zurückzuziehen.
„Der Strafraum?“, versuchte er zu scherzen.
„Wie gesagt, es geht nicht lustig zu bei mir; nicht geil, könnte ich auch sagen. Ziehen Sie sich aus, Samsa, und zwar ganz. Was jetzt kommt, nenne ich peinliche Befragung.“
So fand er sich auf den Knien wieder, splitternackt, die Augen verbunden, mit nach den Seiten ausgebreiteten Armen an ein Gerüst gekettet, und dachte nur: Unglaublich! Und jede Menge Schweiss rann ihm kalt an den Flanken herunter.
„Fühlen Sie sich wohl?“
„Nein! Nehmen Sie mir wenigstens diese Augenbinde wieder ab!“
„Erst wenn Sie in Panik geraten. Zuvor aber machen Sie sich bitte klar, dass Sie sich freiwillig in diese Situation begeben haben. Also nochmal: Fühlen Sie sich wohl?“
„Kein bisschen!“
„Warum ist dann Ihr Penis bis zum Geht-nicht-mehr erigiert?“
„Weiss ich nicht!“
„Das aber will ich von Ihnen wissen. Oder anders gefragt: Warum sind Sie hier?“
„Meine Ex, die hat mir das letztlich eingebrockt, die wollte unbedingt, dass ich in Therapie –“
„Ex? Seit wann Ex?“
„Seit sie mich neulich rausgeschmissen hat. Wir sind jetzt endgültig – fertig miteinander. Falls Sie mich fragen, ob ich froh darüber bin – nein.“ Plötzlich war ihm klar: ja, er wollte Bestrafung, und er war gerade dabei, sie sich zu verdienen; und hatte gar keine Skrupel, sich dazu diese Trennungsgeschichte zunutze zu machen. Das fände Ingrun sicherlich verzeihlich, dachte er. „Es hätte nämlich“, fuhr er fort, „gut laufen können mit uns, wenn ich nur etwas mehr – oder weniger – ach, egal, habe da jedenfalls noch Gewissensbisse irgendwie –“
„Und so weiter und so fort. Dass Ihnen diese Trennung tatsächlich zu schaffen macht, mag sein, nur bin ich nicht für das Kurieren von Gewissensbissen zuständig; ich kann Ihnen höchstens Gründe für neue Gewissensbisse verschaffen.“
Jetzt rechnete er mit Aktion; damit, dass sie zuschlug oder so etwas, und lauschte angestrengt. Doch sie sprach ruhig und kühl einfach weiter: „Wenn ich richtig verstanden habe, sind Sie an mich gekommen, weil die Frau, die Sie diskriminierenderweise meine Ex nennen, Therapie für Sie wollte. Womit sie hier genau diese Bedeutung hat, und basta. Ende dieser Alibi-Geschichte – und übrigens auch dieser heutigen Sitzung.“
Als er wenig später, wieder angezogen, aus dem „Strafraum“ ins „Sprechzimmer“ trat – Frau Doktor saß am Schreibtisch und machte sich Notizen – wusste sie offenbar, dass er auf jeden Fall einen nächsten Termin wollen würde, und sagte nur: „Nächste Woche, selber Tag, selbe Uhrzeit. Bezahlung auch künftig immer cash und vorab.“

Die darauffolgende Nacht war unruhig, ja nahezu schlaflos gewesen. Die Diagnose Impotenz hatte ihm zu schaffen gemacht. Warum hatte er davon selber noch nichts bemerkt? Da musste ihn erst diese völlig Fremde unter die Lupe nehmen, eine Domina. Und wie verblüffend, dass sie ihn gar nicht mit der Peitsche oder mit sonst etwas traktiert hatte; das taten doch wohl Dominas normalerweise. Und noch viel verblüffender, wie gut er sich danach gefühlt hatte, nämlich regelrecht wie ausgeputzt.
Impotenz ist Chiffre, klar. Doch was chiffriert sie?, fragte er sich. Was zwingt sie mich zu dechiffrieren? Ein Unvermögen, klar, doch welches Unvermögen? Und warum will ich Bestrafung?
Denn er wollte bestraft werden, soviel war klar; wenn es auch nicht gerade die Peitsche war, die er wollte.
Beim nächsten Mal hatte er gleich gefragt: „Wenn ich nach Bestrafung verlange, ist es denn dann wirklich Bestrafung? Wenn ich doch sogar Geld dafür bezahle?“
„Das ist zwar rational, aber auf falsche Weise rational gedacht. Wenn irgendwas der Vernunft folgt, dann das Emotionale; nur dass das unser pseudo-rationaler Tagesverstand, weil er’s nicht versteht, irrational findet. Und jetzt: ausziehen und auf die Knie!“
Nur ausnahmsweise ging das so schnell. Für gewöhnlich musste er sich den Akt hinten im Strafraum erst vorne im Sprechzimmer mühsam verdienen.
Wenn es gut lief, erreichte er schnell mit dem, was er vorne beichtete, dass er anschliessend im Strafraum nackt, gefesselt und blind vor dieser mysteriösen Frau Doktor kniete und alles aussagen musste, durfte, was ihn beschämte; auch sehr Beschämendes, und zwar soviel davon, bis keinerlei sexuelle Erregtheit mehr an ihm festzustellen war.
Doch oft dauerte es lang, bis die Beichte genügend Anlass zur Bestrafung bot, und manchmal schaffte er es gar nicht, dann musste er leider unbestraft abziehen oder besser: wirklich bestraft; unbefriedigt, und natürlich sauer, wenn nicht sogar wütend.
Die ersten Male hatte er sich auf die Darstellung seiner seelischen Not vorzubereiten versucht. Doch da vor lauter Aufregung ihm nie, wenn es dann losging, noch irgend etwas davon einfiel, hatte er das bald aufgegeben.
Um einiges länger brauchte er dazu, die Augenbinde zu akzeptieren. Immer wieder bat er Frau Doktor, sie ihm endlich abzunehmen, mit dem schwachen Argument zum Beispiel: „Ich will sehen, was Sie machen.“
„Sie stellen sich doch irgend etwas vor. Und darum geht’s hier, um Ihre Illusionen.“
„Aber womöglich zeichnen Sie auf, filmen mich …“
„Sie meinen, weil das so wahnsinnig interessant ist, was sie in nacktem Zustand erzählen? Da kann ich Sie beruhigen: was Sie ach so beschämend finden, ist der reinste Witz. Aber natürlich haben Sie Angst, mir durch das, was ich vielleicht aufzeichne, ausgeliefert zu sein – nur wollen Sie sich mir doch ausliefern!“
Ja. Ja! Ja!! – „Ehrlich gesagt –“
„Befürchten Sie, ich könnte Sie damit erpressen.“
Er musste erst abwarten, bis sich sein Herzrasen soweit beruhigt hatte, dass er wieder sprechen konnte. „Das stimmt, das befürchte ich.“ Und als seine Gedanken aufhörten, sich zu überschlagen: „Andererseits, Sie müssen wissen – irgendwie ist mein gesamtes Bewusstsein sowieso eine Art Experiment unter automatischer Dauerbeobachtung. Ich studiere meine Anpassung an die Überwachungskultur. Die sozusagen neurotechnische Perspektive.“
„Aha, da kommen wir der Sache endlich näher.“
„Sie meinen: der Entschlüsselung?“
„Von mir aus. Ist es das, was Sie hier erwarten? Entschlüsselt zu werden?“
„Auch. Aber eigentlich erwarte ich Heilung, wenn ich ehrlich bin.“
„Wenn, ja, wenn Sie ehrlich sind. Heilung davon? Von der Lüge? Oder wovon? Das wär’s ja schon, was Heilung hiesse: das herauszufinden.“
„Nun ja, davon zum Beispiel, mein Heil zu suchen mittels einer Dienstleistung wie der Ihren. Denn ist das nicht echt verkorkst? Nicht sogar richtig pervers? Denn heisst das nicht, Heilung zu spielen? So als sei deren Notwendigkeit nur fiktiv, die Not eigentlich nur eingebildet.“
„Ach, ist sie das gar nicht? Das ist nun wirklich ein hoher Grad an Leichtfertigkeit; sodass ich mich fragen muss: Ist das dummdreiste Abgebrühtheit oder wahre Naivität?“ Sie hielt inne. „Unschuld gar? Das ist die Frage, Samsa. Vielleicht sind Sie ja unschuldig. Das würde erklären, warum hier nichts läuft.“
Nichts läuft? Die hat Nerven. Damit will sie mich anstacheln. Dass ich preisgebe, was noch gar nicht – was ich mir erst ausdenken müsste! Weil sie nämlich ihre Dienstleistung tatsächlich zur Erpressung benutzt! Worauf habe ich mich eingelassen? Wenn sie mich als psychisch instabil einstuft, als paranoid, und dabei auch noch als sittlich enthemmt, und Beweise dafür hat – dann bin ich richtig in Gefahr.
Etwas berührte seine linke Brustwarze. Eine Fingerspitze? Dann ihre Stimme aus nächster Nähe: „Wünschen Sie, dass ich mich ausziehe?“ „Ja.“ Es waren zweifellos ihre Fingerspitzen, die jetzt leicht an seiner Brustwarze zogen. „Und Sie liebkose? Wünschen Sie das?“ Sie zog fester. „Äh. Ja!“ Und noch fester, sodass es zu schmerzen begann. „Was sehe ich denn da, Samsa? Das wird ja jetzt fürchterlich hart da unten!“ „Nun ja, Frau Doktor …“ Sie zwirbelte nun seine Brustwarze so fest, dass er die Luft anhielt; die Zähne zusammenbeissen musste, um nicht zu ächzen. „Ich darf mich ausziehen und Sie liebkosen?“ Er machte „Ufff“ und brachte ein „Ja“ hervor. „Dass ich das nicht tue, muss Ihnen Strafe genug sein für heute.“ Sie liess los; nahm ihm die Augenbinde ab, entkettete seine Handgelenke und sagte mit einem kalten Blick auf ihn herab: „Sie haben noch fünf Minuten hier, und mehr brauchen Sie bestimmt nicht.“ Als er sie darauf ratlos anblickte, gab sie mit dem Fuß der Schachtel Papiertücher, die da am Boden lag, einen kleinen Schubs in seine Richtung, dann ging sie hinaus.
Hatte er sich jemals so gedemütigt gefühlt? Sein Herz kam ihm vor wie auf etwa Walnussgröße zusammengezogen.

An ihrem Äusseren war nicht viel, was dem Klischee der Domina entsprach. Eine kleine, schlanke, eher unscheinbare Person, an der alles nur Nüchternheit signalisierte: kein Make-up; das dunkelblonde Haar in simplem Pagenschnitt; die stets weisse Bluse hochgeschlossen; die eng tailliert geschnittenen Hosenanzüge in entweder Grau- oder Blautönen. Was ihr dabei jedoch die dominante Ausstrahlung verlieh, sowie den Eindruck aussergewöhnlicher Beherrschtheit erweckte, war ihr gleichbleibend kühler unberührter Blick und ihre raue Stimme, die sie recht leise, aber sehr akzentuiert, sehr bewusst gebrauchte.
Eine Maske, zweifellos; die allerdings perfekt saß. So oft er auch darin forschte, ob es nicht mal ein Anzeichen dafür gab, dass es sie vielleicht anstrengte, diese Maske aufrechtzuerhalten, nie wurde er fündig.
So wie sie am Anfang ihm die Trennung von Ingrun als bloßes Alibi entlarvt hatte, so zeigte sie ihm nach und nach, dass überhaupt alle Gründe, die ihm bisher eingefallen waren, um sich ihre „Bestrafung“ zu verdienen, nur Alibis waren. Sodass er zunächst dachte, dass es wohl im Grunde nur um etwas sexuelles ging. Bis ihm dann irgendwann aufging, dass das Sexuelle insgesamt ein vorgeschobenes Thema war. Dahinter verbarg sich – Reue. Eine Reue, die er in den letzten Jahren immer stärker empfand, und zwar bezüglich jener alten Mayer-Tong-Sache. Das war etwas, das er schon lange wusste, aber nicht hatte wissen wollen: nämlich dass er systematisch seine Vorstellungskraft missbraucht hatte.

Dazumal, in den 1990ern, als das Internet noch nicht annähernd die heutige Ausdehnung gehabt hatte, war er eines Nachts wie zufällig auf dieses Angebot im Netz gestoßen:
Du schreibst literarische Texte und möchtest davon leben? Und es kommt dir nicht darauf an, Bücher zu veröffentlichen? Dann werde Teil eines Autoren-Kollektivs, das unter dem Namen Mayer-Tong das Internet in einen Roman verwandelt.
Wie bitte? Das Internet in einen Roman verwandelt? Welch grandiose Idee! Und nicht nur, dass er dieses Angebot verlockend fand, vielmehr schien es wie geradezu gemacht für ihn; sodass er keine Sekunde gezögert hatte.
Die eine Bedingung war diese: Du bleibst anonym und überlässt deinen Output komplett dem Mayer-Tong-Kollektiv zur freien Verfügung.
Die zweite Bedingung: Für die Kommunikation mit anderen Autorinnen und Autoren des MTK benutzt du ausschliesslich das interne MTK-Forum.
Die dritte und letzte Bedingung betraf das Mindestvolumen des monatlichen Output; eine akzeptable, ja locker zu bewältigende Menge, wie er fand.
Um die Summe zu errechnen, die dir das MTK für deinen finanziellen Bedarf pro Monat zukommen lassen wird, beantworte hier wahrheitsgemäß die folgenden Fragen zu deiner wirtschaftlichen Situation
Und er hatte sofort die Antworten geschrieben, wahrheitsgemäß.
Wähle ein Alias und klicke Anmeldung. Der Code, den du erhältst, gewährt dir Zugang zum MTK. Das Alias bleibt dein Passwort für das Forum.
Er hatte „Dubman“ gewählt und sich angemeldet; dann erschrocken in die Luft geglotzt – und jetzt? Was jetzt eigentlich schreiben? Was nun liefern? Ständig, jeden Monat, ab jetzt? Und was, wenn ich nicht liefere?
Doch zu spät, da kam schon der Code, mit der Zeile:
MTK Mission Control heisst den neuen Mayer-Tong herzlich willkommen!

War das Arbeit gewesen? Eher war es ihm wie ein Spiel vorgekommen: Du hast die Freiheit, was fängst du damit an? Vermassel ihn dir nicht, diesen Idealzustand!
Den Druck, der da entstand, hätte er sich nie vorstellen können. Ist das womöglich ein Psycho-Experiment?, hatte er sich gefragt. Bin ich hier das Versuchskaninchen? Egal, du weisst es nicht. Spiel einfach. Schreib irgendwas. Und was war näherliegend, als den Schriftsteller zu spielen? Immerhin hatte er schon einiges geschrieben, ja werkelte bereits an so etwas wie einem Roman herum. Nun aber lief da nichts mehr. So oft er sich Schreib irgendwas! befahl, so oft überkam ihn vor dem leeren Bildschirm einfach Lähmung.
Wie seine Schriftsteller-Karriere mit einer Schreibblockade beginnen? Und es ergab sich ihm die Antwort: Genau das ist der Anfang einer wunderbaren Komödie. Jetzt brauchst du nur noch dafür zu sorgen, dass sie turbulent wird. Und warum dazu nicht auf bewährte Klischees zurückgreifen? Er kaufte sich eine mechanische Reiseschreibmaschine, wechselte ständig den Ort, liess sich von entspannenden Substanzen helfen, in komödiantische Stimmung zu kommen, und lebte sich in eine Doppelrolle ein: war einerseits der Konstrukteur einer sinistren Weltverschwörung und andererseits sein Agent, als der er fortwährend das Bösgewollte heimlich ins Gute umzubiegen suchte. Und mit der Zeit, natürlich, wurde das Experiment zur Normalität, das Fischen im Trüben zur Gewohnheit, die Schreibblockade zum Pro-forma-Problem und das Ganze insgesamt für ihn zu einem großen Spaß.
Immer aber war etwas daran ihm fragwürdig geblieben, unheimlich, etwas, das in gewissen dunklen Stunden das Ganze verkehrt erscheinen liess, insbesonders wenn ihm nichts einfiel, wenn vor lauter Du musst jetzt aber! nicht das kleinste Fünkchen von Inspiration zu ihm durchdrang. Da kam es ihm sogar manchmal so vor, als liefe dieses Arrangement mit dem Kollektiv im Grunde auf eine Art Verpflichtung zu geistiger Onanie hinaus. Nicht um eines Inhalts willen zu produzieren, sondern bloß um dich an der Produktion selbst zu berauschen, das, so sagte er sich nicht nur einmal, führt den Sinn des Schreibens ad absurdum, und dir dessen bewusst es trotzdem tun, das korrumpiert dich.
Ja, so fühlte er sich in jenen dunklen Stunden, in denen er sich selbst befragte: korrupt; und kam so immer wieder zu dem Schluss: Beende diese Korruption, steig aus und fang neu an – denn das Mayer-Tong-Kollektiv war kein Zwangssystem, auszusteigen war jederzeit eine Option –; oder mach weiter so, aber dann genieße es auch! Und lange, allzu lange, war er bei letzterem geblieben.
Weder hatte Mission Control an dem, was er lieferte, noch er seinerseits an der finanziellen Vergütung je etwas auszusetzen; und wiewohl er gelegentlich mit Verzögerung geliefert hatte, war ihm stets pünktlich überwiesen worden, und zwar abwechselnd von zahlreichen Firmen, hinter denen wohl ein Netzwerk zu vermuten war. Das allerdings hatte nichts mit seinem Unbehagen zu tun; woran er vielmehr mit einem so unguten Gefühl zurückdachte, war das, was er geliefert hatte. Das nämlich, mit einem Wort, war Schund gewesen.

Das war das eine, all dieser Schund, den er dazumal geschrieben hatte; und was nun hinzu kam, sein Gewissen zusätzlich beschwerend, war die innere Stimme, die ihn zu dieser Zeit noch im Geiste des alten Marc Aurel ständig fragte: Was soll das mit Frau Doktor? Diese bewusste Verderbtheit. Dich zu stimulieren, indem du dein Schamgefühl missbrauchst. Die Lust des Alleinherrschers, sich zu einem Insekt herunterzuschrumpfen, sich zur Kakerlake zu machen, und dafür auch noch teuer zu bezahlen – was soll das?
Ich weiss, die schiere Perversion, so hatte er sich trotzig darauf geantwortet. Alles auszusprechen, das dämlichste, peinlichste, geschmackloseste, erniedrigendste: dieser ungeahnte Exzess ist ein Vergnügen, das aufs strengste bestraft gehört, jawohl, und natürlich muss ich dafür bezahlen, und gern bezahle ich! Doch allerdings ist zu bezweifeln, dass Frau Doktor das gewaltige Maß an Verachtung, das ich dafür verdiene, überhaupt je aufbringen wird.
Worauf dem alten Imperator tatsächlich eine Weile nichts mehr einfiel.

„Uns ist inzwischen klar, was Sie zu mir führt: Ihr schlechtes Gewissen.“
„Ich bin nicht auf Absolution aus. Sondern wohl tatsächlich auf Erniedrigung. Warum?“
„Das fragen Sie? Sind Sie denn wirklich so ein Idiot, Samsa? Was sollte der Drang nach Selbsterhöhung anderes nach sich ziehen, als den Wunsch nach Selbsterniedrigung? Je unbewusster die Hochmütigkeit ist, umso krasser die Wege des Ausgleichs, ist doch wohl klar.“
Herr des Flyshwerks, hatte er da gedacht, Allwissender Kreator – Manne hat damit gar nicht gescherzt, oder es irgendwie ironisch gemeint – so komme ich mir wohl tatsächlich vor – und weiss es gar nicht!
So hatte ihm erst einmal das als besonders bestrafungswürdig gegolten: sein Hochmut und sein Größenwahn.
Dann eines Tages hatte sie verlangt: „Ziehen Sie Bilanz, Samsa.“
„Ähm. Hatte mir Sadomasochismus anders vorgestellt.“
„Hat ja damit auch wenig zu tun. Aber das wäre eine etwas dürftige Bilanz.“
„Bin immernoch schockiert, oder immer wieder; obwohl ich längst ja den entdeckt habe in mir, der das alles berechnet. Denn das Schockierende ist ja berechnet. Doch den entdeckt zu haben, diesen Berechner in mir, ist auch irgendwie heilsam.“
„Von Heilung sind Sie noch weit entfernt.“
„So schlimm ist es? Sehen Sie mich, äh, bedroht? Von Wahnsinn zum Beispiel?“
„Von Wahnsinn nein, nicht direkt. Von Manie ja, von Besessenheit.“
„Ich weiss, bin auf dem Ego-Trip.“
„Wenn Sie das wissen … Das müsste eigentlich reichen.“
„Um davon runterzukommen? Wenn ich das nur nicht ständig vergessen würde.“
„Was genau nicht ständig vergessen würden? Was genau?“
Er hatte eine Weile überlegt. Dann: „Dass wahrscheinlich alles ganz anders ist als ich denke.“
Worauf sie mit hochgezogenen Augenbrauen gesagt hatte: „Dass Sie das bloß nicht gleich wieder vergessen, Samsa.“
Die Erkenntnis, dass wahrscheinlich alles ganz anders war als er dachte, brauchte allerdings ihre Zeit, um in die Tiefe zu dringen. Die Lust daran, sich selbst zu erniedrigen, die Lust an der Bestrafung, die Lust an Frau Doktors Verachtung: erstmal war dieses perverse Gemenge nur noch schlimmer geworden, und wenn ihn auch schon nicht mehr erstaunte, dass er danach überhaupt begehrte, so erstaunte ihn immernoch, wie sehr. So sehr nämlich, dass er danach süchtig wurde und immer mehr davon brauchte. Bis er gar kein Geld mehr für etwas anderes übrig hatte und ihm der Imperator schliesslich mit äusserster Strenge Einhalt gebieten musste. Als er Frau Doktor telefonisch mitteilte, er müsse mal eine Pause einlegen, sagte sie nur: „Sehr gut, Samsa. Ich habe Sie sowas von satt.“

Die Versuchung, trotz des Verbots doch Frau Doktor wieder aufzusuchen, war umso mächtiger nun gerade durch das Verbot, sodass er sich während der ersten Wochen im Widerstehen regelrecht heroisch vorkam; und für eine ganze Weile dann noch immerhin wie ein Asket, stolz darauf, diese sich selbst auferlegte Disziplin tatsächlich durchzuhalten.
Dann war es zu dem Ereignis gekommen und die Sache mit Frau Doktor rückte in den Hintergrund. Denn da hatte ihn bald eine ganz andere Enthaltsamkeit in Anspruch genommen: die gegenüber jenem Weblog namens Schells Bureau. Und dem zu widerstehen, dieser Versuchung, es immer wieder zu öffnen und sich dem Unbegreiflichen auszusetzen, kostete ihn noch weitaus mehr Disziplin.
Wir wissen, was das Ereignis anstellte mit Schell, und was er mit dem Ereignis anstellte, und so wundert uns nicht, dass, als der Gedanke an Frau Doktor wieder aufkam, er sich zunächst gefragt hatte, ob die Vorstellung, sie aufzusuchen, überhaupt noch verlockend war, jetzt, da er gar keine Hemmung mehr verspürte. Du dürftest, sagte er sich, es ist nicht mehr verboten. Damit aber fehlt das Wesentliche. Kann das sein? Was ist das für ein Verlangen, das erlischt, wenn das Verbot, ihm nachzugeben, wegfällt? Das wollte er feststellen: ob es im Grunde das gewesen war, ein Verlangen nach dem Verbotenen, das ihn getrieben hatte. Und natürlich interessierte ihn, ob es wieder aufflammen würde, dieses Verlangen. Ein Spiel mit dem Feuer, klar, und also reizvoll; und als er da sein Herz schneller schlagen spürte, wusste er: ja, ich bin durchaus noch nicht runter von dem Trip.

I.9

Das Vergessen

Was ich nach meinem Schläfchen vor allem verspüre, ist Ernüchterung. Das chaotische Büro kommt mir nun restlos entzaubert vor. Ich schaue trotzdem unterm Sofa nach, ob ich da die alte Tippa finde, so wie ich’s geträumt habe. Nein, nur leere Pappschachteln. Und weder finde ich am Schreibtisch die Schublade mit Dantes Divina Commedia, noch auf der Fensterbank jene Steinschale mit dem Zigarrenrest.
Dann schreite ich zur Tat: besuche eines der benachbarten Büros und frage freundlich, ob man für ein paar Tage den Papierschredder entbehren könne. Nein, kann man leider nicht. Und im nächsten Büro auch nicht. Und so weiter. Sämtliche Schredder in der Nachbarschaft scheinen in ständigem Gebrauch zu sein, und bevor ich ein sechstes Mal abgewiesen werde, kehre ich in mein Büro zurück, frustriert. Andererseits: Das alles zu schreddern würde sowieso Wochen dauern, und habe ich noch soviel Zeit? Da fällt mir der Golem ein. So nennen wir den Chef der Hausmeisterei; und soviel ich weiss, betreibt der irgendwo im Keller des Regierungspalastes Aktenvernichtung in großem Stil. Doch da unten nach ihm zu suchen, dazu bin ich jetzt nicht aufgelegt; dafür ist auch morgen noch Zeit. Wie üblich nach einer so langen Siesta, kommt mir alles ein wenig sinnlos vor, insbesondere meine Arbeit, und also lasse ich Vernunft walten und mache hier Schluss für heute.
Der Nachmittag geht gerade in den Abend über und normalerweise liebe ich diese Stunde. Jetzt aber verändert das kein bisschen meine miese Stimmung. Ich bin schon auf dem Weg zu Dima, da halte ich inne. Sie wird mich fragen, was los ist, und was sage ich dann?
Die nächste Bar, denke ich mir, ist jetzt die beste … Mann, Mann, so schlechter Laune war ich schon lange nicht mehr.
Ich setze mich also an den nächstbesten Tresen und bestelle Rum.
Es sind bloß Dämonen, Geistgespinste; viele zwar, aber nur kleine; und sehr hungrig sind sie allesamt, wollen zur Kenntnis genommen werden. Im Allgemeinen merken Dämonen ja sehr wohl, ob man sie ernst nimmt oder nicht, und ob die Höflichkeit, mit der man sie behandelt, aufrichtig ist. Ironie, Doppelsinn, derlei kommt gar nicht gut bei ihnen an. Irgend etwas scheint sie heute ganz besonders anzulocken, und definitiv möchte ich nicht wissen, was; und da ich weiss, sie würden antworten, wenn ich sie fragte, frage ich also nicht. Es wird vorbeigehen, und nachher bei Dima wird schon alles wieder gut …
Dima ist für mich das Herzstück von Babaal. Sie zu kennen und ihrem Freundeskreis anzugehören, sie sogar jederzeit besuchen zu dürfen, empfinde ich als ein besonderes Privileg. Wie es mir zuteil wurde, weiss ich nicht; nur dass ich mir das durch keine Leistung irgendwie verdient habe, da bin ich mir sicher. Denn in ihrem häuslichen Kreis habe ich bisher nur lauter ungewöhnlich entspannte, großzügige, unkomplizierte Menschen kennengelernt, Menschen, neben denen ich mir selbst immer sehr uninteressant, alltäglich, ja irgendwie verkrampft vorkomme.

Wenn ich heute im Rückblick diese meine letzten Tage und Nächte in Babaal bedenke, wird mir klar, dass ich an diesem Abend, als mir nichts besseres einfiel als das Dümmste: mich zu betrinken, damit begann, mich von mir selbst zu distanzieren.
Noch war ich mir dessen nicht voll bewusst, doch das Gefühl, die Stimmung war schon da: Ich hatte genug von mir. Das Etikett Schell wollte nicht mehr so recht haften; als begänne es sich an den Rändern abzulösen von seinem Gegenstand. Und die innere Stimme warnte mich: Bloß nicht Bilanz ziehen in diesem Zustand! Doch da war das zweite Glas schon fast leer – ich trank den Rum straight – und mich den Tatsachen zu stellen, genau dazu war ich aufgelegt. Denn in dieser Phase des Trinkens kam ich mir immer besonders nüchtern vor, ja mir selbst sogar überlegen, da ich die Anzeichen der Trunkenheit noch klar bemerkte und somit überzeugt war, meine Illusionen zu durchschauen; während ich das Illusionäre dieser Überzeugung schon nicht mehr bemerkte.
Das Chaos im Büro, die Lähmung, die es bewirkte, war sicher kein unbedeutender Faktor. Doch erklärte es, warum ich die düstere Stimmung an diesem Abend nicht abzuschütteln vermochte? Nein. Das Chaos war nur ein lästiger Nebeneffekt. Was mich wirklich verdross, hatte wohl eher mit dem ganzen Regierungsgeschäft zu tun. Darin mitzumischen verursachte mir inzwischen einen solchen Widerwillen, dass mir schon rätselhaft wurde, wie ich mich je darauf hatte einlassen können. Scheint ein Missverständnis gewesen zu sein. Habe den gewissen Punkt nicht bemerkt, an dem das Flyshwerk autonom wurde, den Punkt, ab dem es automatisch auf alles übergriff, auch auf die politische Sphäre, und zwar so selbstverständlich, dass ich lange davon gar nichts mitbekam. Und als mir endlich aufging, dass aus den Prinzipien der Real-Technik unversehens eine Art globale Staatsdoktrin geworden war, und ich also feststellte: Hey, du arbeitest für die Regierung!, da war’s für mich schon regelrecht Routine. Habe ich mich also darauf eingelassen? Nicht jedenfalls im Sinne einer bewussten, das heisst freien Entscheidung.
Was das Flyshwerk real-technisch hervorbrachte, hatte mit der Idee der Real-Technik, so wie ich sie verstand, nicht das geringste zu tun – oder doch, hatte es, insofern sich nämlich aus den Flyshwerk-Produkten das reinste Gegenbild zu jener Idee ergab: Nicht echte Verwirklichung, sondern nur perfekte Simulation; an Stelle schöpferischer Freiheit nur raffinierter Illusionismus; wie etwa das, was so manche religiöse Institution mit ihrem spirituellen Inhalt anstellt.
Jeder Idealist kommt ja unweigerlich an den Punkt, wo er feststellen muss, wie wenig von seinem Ideal sich unter den real gegebenen Umständen verwirklichen lässt. Dann kann er meinen, das läge an dem Ideal, es sei vielleicht das verkehrte, oder sein Idealismus sei naiv. Oder aber er beginnt an diesem Punkt das Ideal als ein Modell zu seiner Orientierung zu begreifen, oder als inneren Kompass, der stets aufs Wesentliche, Sinnvolle, Richtige weist. Dann gibt es für ihn keinen Grund, sein Ideal zu verwerfen; dann sieht er es wie alles Ideale, nämlich als die unsichtbare andere Seite des Realen und ganz logisch also diesem zugehörig.
Für diese letztere Anschauung hatte ich mich an besagtem Punkt entschieden, und die Konsequenz daraus war die gewesen, dass ich mich dazumal nach Andria verzog, das heisst auswanderte, um mich dem Flyshwerk zu entziehen. Hier auf diesem fernen Aussenposten, so dachte ich, könnte sich am ehesten die Möglichkeit ergeben, aus dem Flyshwerk schliesslich ganz herauszukommen, eine Passage zu finden, den Absprung irgendwie zu schaffen.
An diesem Abend dachte ich anders: Von wegen Absprung – welch Illusion! Und von wegen Passage hinaus – wohin denn? Kann mir höchstens so etwas erfinden, erträumen, erblödeln.
Ich neigte nun, so düster gestimmt, vielmehr der entgegengesetzten, der pessimistischen Anschauung zu: dass ich mit meinem Ideal in puncto Real-Technik nur einfach elendig naiv war. Statt herauszukommen aus dem Flyshwerksystem, war ich hier nur noch tiefer hineingeraten, ja musste feststellen, dass dieses scheinbar so abgelegene Babaal nun sogar zum geheimen Zentrum des Flyshwerks geworden war!
Inzwischen war es dunkel draussen. Ich wechselte die Bar. Wie die vorige war auch diese hell erleuchtet, elektrisch, und mir fiel auf, dass es den ganzen Abend noch keinen Stromausfall gegeben hatte. Ich bestellte etwas zu essen und trank weiter Rum. Nimm dich nicht so wichtig, sagte ich mir, bist doch nur ein winziges Rädchen im Regierungs- beziehungsweise Flyshwerkgetriebe, und verantwortlich wärest du höchstens, wenn du einen gewissen Einfluss aufs Ganze hättest – den hast du aber nicht!
Was leider jedoch eine Ausrede war. Denn da dieses spezielle Getriebe ja gar nicht dem leblosen Bereich des Maschinellen angehört, vielmehr dem Reich des Lebendigen, und da im Lebendigen ja nun mal jeder Teil fürs Ganze steht, spielte es durchaus eine Rolle, ob und wie ich mich daran beteiligte. Und dieses Wie begann mir gerade klar zu werden: Ich spielte. War so lange schon ins Spielen vertieft, dass ich es vergessen hatte. Und nur durch das Vergessen funktionierte überhaupt das Spiel. Darin bestand es im Grunde: das, was ich eigentlich wusste, immer wieder zu vergessen, um mich immer wieder daran zu erinnern.
Doch das sage ich heute, rückblickend. An jenem Abend, benebelt vom Rum, war mir nicht klar, dass ich vom Flyshwerk und dem stupiden Regierungsgeschäft nicht loskommen würde, solange dieses Spiel des Vergessens lief; und die Unklarheit darüber ergab eben diese unselige, nicht abzuschüttelnde Stimmung, ein Gemisch aus Besorgnis, Selbstmitleid, wütigem Trotz und Resignation. War auch ein Bedauern darin? Nur höchstens ein bisschen; und von Reue noch gar nichts.

Ich rechne damit, dass jeden Moment der Strom ausfällt. Doch auch in der nächsten Bar bleibt es hell. Da ich nun schon so betrunken bin, dass ich mich bei Dima nicht mehr blicken lassen kann, trinke ich einfach weiter. Und so ununterbrochen beleuchtet, ist es ja auch eine besondere Nacht, sage ich mir. Leider aber zieht von Bar zu Bar meine üble Stimmung mit, und klebt immernoch an mir, als ich mich gegen Mitternacht die Treppen zu meinem Apartment hinaufschaffe, und das nicht wie üblich im Finstern, sondern – noch unwirklich irgendwie – bei elektrischem Licht.

Immer wieder staune ich, dass ein Besäufnis mit dem hiesigen Rum gar keine Kopfschmerzen zur Folge hat; dass ich sogar am nächsten Morgen mich frisch und munter fühle, geradezu inspiriert und voller Tatendrang, und so auch heute: Kaum erwacht, bin ich gleich so sehr von dem, wie’s weitergeht, in Anspruch genommen, dass ich schon zum Regierungspalast unterwegs bin, als mir einfällt, was ich seit Tagen schon und auch an diesem Morgen wieder vergessen habe, nämlich zu duschen, mich zu rasieren und frisch einzukleiden. Wenigstens die Zähne hätte ich mir putzen sollen! Doch bin ich da schon so in Schwung, dass ich mir sage, ach, es geht auch nochmal so. – Wirklich? Ich stocke. Wozu die Eile? Kehr um. Bring dich in Form. Was eigentlich ist wichtig? Das Chaos, das mich im Büro erwartet? Nun ja, es muss beseitigt werden. Und wichtig auch, mich dem jungen Lemm zu widmen. Falls der hier mein Nachfolger werden soll. Was noch? Da war doch etwas viel wichtigeres …
Ich kehre zwar nicht um, zwinge mich aber immerhin, in der nächsten Cafe-Bar wenigstens ein minimales Frühstück einzunehmen. Da fällt mir Paley ein: Ach ja, der will doch, dass ich Brains aufstöbere … Und so kommt mir Bangor wieder in den Sinn, und damit Bangot, und damit Flyrie, der dort in der Falle sitzt. Wie ich zumindest vermute. Man muss ihm helfen. Das ist das Wichtige. Ich könnte mich täuschen, klar, doch ist ganz eindeutig, was mir der Instinkt sagt: Zurück nach Bangot, um Flyrie beizustehen! Nur so geht’s weiter.
Auch das jedoch ist nicht das Wichtigste. Am wichtigsten ist das, was ich am tiefsten vergessen habe. Wie aber soll ich mich an das Vergessenste erinnern?
Löse dich, hör ich darauf nur. – Soll heissen? Doch ich weiss es ja schon: Zieh das Etikett, den aufgeklebten Schell, weiter und immer weiter und weiter von dir ab.
Das tut aber weh! Dazu müsste ich Held sein.

S.11

Falsche Adresse

Wann immer der Name Geo Rey fällt, oder ich auch nur an ihn denke, wird mir mulmig. Gilt dieser Rey doch als der meistgesuchte Verbrecher der Welt, als der Bösewicht schlechthin, das krakige Ungeheuer, das mit seinen verborgenen Tentakeln überallhin reicht. Und nicht minder mulmig wird mir, wenn der Begriff MoTech auftaucht, so eng wie der mit Geo Rey verknüpft ist … Davon lieber ein andermal, nämlich mulmig ist mir gerade zur Genüge. Denn in dieser Hafengegend hier, in der vergammelten Lobby dieses spärlich belebten Bürogebäudes, will so eine ganz unheimliche Sorte von Deja-vu-Gefühl gar nicht mehr von mir weichen.
Habe mich nach der SubNews-Lektüre über die Schwarmmaschine dermaßen in Gedanken verloren, dass ich erst jetzt den Mann bemerke, der telefonierend in der Halle auf und ab geht; hochgewachsen, hager, Mitte fünfzig etwa, rauchend. Sein Gemurmel klingt britisch, doch das einzige Wort, das ich verstehe, ist ein deutsches: Rheinmetall.
Etwas zu britisch; als hätte er gelernt, Brite zu sein … Kenne ich den nicht? Ja, verdammt; sehe eine Akte vor mir mit Fotos von genau diesem Typ. Und bin ich ihm nicht irgendwann sogar schon mal begegnet?
Jetzt kommt er auf mich zu: „Sie wollten eventuell zu mir?“ Er lässt die gerauchte Zigarette auf den Boden fallen, „Paulson“, und dreht den Schuhabsatz darauf energisch hin und her, „Tyrus Paulson.“
„Schell.“
„Schell?“ Er runzelt die Stirn.
„Vielleicht können Sie mir weiterhelfen, Mr. Paulson …“, ich reiche ihm die Visitenkarte.
Sich eine neue Zigarette anzündend, liest er vor: „Mek al-Möffi Merikanski“ und grinst mich schief an. „The Framing Company. Wie’s aussieht eine Service-Karte“, er reicht sie mir zurück, „alles klar, Schell Effendi. Folgen Sie mir.“

Als wir in die Filiale des International Maritime Bureau eintreten, kündigt er mir some nice cup of tea an. Ein Chefbüro wie in einem alten Film, gediegen, gemütlich, verqualmt. Er nickt in Richtung eines bequemen Sessels und hält mir seine Zigarettenschachtel vor die Nase. Craven A. „Danke, nein.“ Obwohl ich auf so eine nun wirklich Lust hätte. „Sie rauchen nicht?“ „Doch.“ „Aber?“ „Nicht immer“; ich winke ab: „Komplizierte Geschichte.“ Worauf er mit den Achseln zuckt: „Gibt’s dieser Tage überhaupt noch unkomplizierte Geschichten?“
Jetzt fallen mir nach und nach ein paar Eckpunkte aus der Tyrus Paulson-Akte ein: Aus Malta stammend. Ex-Royal Navy. Diplomat. Okkultist. Business-Kenner, und – Kenner des Service of Intelligence.
„Schell? Wirklich Schell?“ Kurzes kaltes Grinsen. „Na schön, also Schell.“
Was er unter einem Tässchen Tee versteht, erweist sich als großzügig eingeschenktes Glas Scotch. Dann beginnt er vor sich hin zu faseln: Ein Frachter sei verschwunden, ein ukrainischer Schlepper im Angebot, eine Ladung Honig ohne Besitzer; und an Passagen übers Schwarze Meer stehe ein Schiff nach Odessa und eines nach Batumi zur Auswahl.
„Klingt ja alles sehr interessant, Mr. Paulson.“
„Vielleicht können Sie mir auch weiterhelfen, Mr. Schell. Es scheint sich etwas anzubahnen; genaueres weiss man noch nicht; nur dass kürzlich irgendeine üble Ladung Istanbul erreicht hat. Könnte auch bloß mal wieder ein Ablenkungsmanöver sein. Aber die türkischen Kollegen machen sich aufs Schlimmste gefasst. Hier –“ Paulson reicht mir ein Foto herüber – „das ist bisher der einzige konkrete Hinweis.“ Ein kompliziertes, durch starke Vergrößerung ziemlich verschwommenes Gebilde, das an ein mittelalterliches Siegel erinnert.
„Ist Ihnen das in letzter Zeit vielleicht mal irgendwo begegnet?“
Ich nutze die Betrachtung des Fotos, um meine Augenmuskulatur zu entspannen, und sage: „Sieht wie ein Zeichen aus. Also wirklich sehr interessant.“
Paulson betrachtet mich daraufhin nur leicht belustigt; schweigt und zündet sich die nächste Craven A an. Und in dem anhaltenden Schweigen höre ich Kick Kimura in mir, seine Warnung: Diesen maltesischen Englishman bloß nicht unterschätzen!
„Okay“, sage ich schliesslich. „Geht’s um Waffen? Ich hörte Sie unten in der Lobby Rheinmetall sagen.“
„Da haben Sie sich verhört. Ich sprach mit jemandem in Bayreuth wegen Karten für den nächsten Rheingold-Abend. Diese Wagner-Oper, Sie wissen schon … Was man dafür heutzutage hinblättert, unglaublich!“ Dann mit einem Lächeln: „Würde fast sogar ausschliessen, das es um Waffen geht.“
„Angenommen, Sie könnten den türkischen Kollegen tatsächlich Hinweise anbieten, brächte Sie das nicht in Schwierigkeiten? Würde man nicht unbedingt wissen wollen, woher –“
„Die Kollegen bekämen die Information natürlich anonym zugespielt.“
„Vielleicht als die zufällige Aufzeichnung einer Plauderei? Solch einer wie dieser hier zum Beispiel?“
Paulson zuckt die Achseln. „Sie haben also keine Ahnung.“
„Ich kam wegen Mek al-Möffi.“
„Heisst, Sie brauchen ziemlich dringend irgendwas.“
„Nur einen neuen Reisepass.“
„Um vom Fleck zu kommen, verstehe. Sie wollen weiter. Wie gesagt, die eine Option ist Batumi, die andere Odessa.“
„Al-Möffi.“
„Ach ja, der – al-Möffi Merikanski!“ Paulson kichert. „Der ist – tja, wo eigentlich? Man weiss es gar nicht. Aber zum Glück hängt ja der Service nicht von jemandem wie ihm ab.“
Was ist denn das für ein Spruch? Doch lass ich mir nicht anmerken, wie sehr befremdet ich bin; sage, während ich so tue, als würde ich ein Gähnen unterdrücken: „Nun gut, dann eben nicht“, und mache Anstalten mich zu erheben.
„Warten Sie doch mal, mein Guter!“ Mit lässigem Fingerspiel, klack-klack, weckt er den Schreibtisch-Rechner. „Mal sehen, was wir haben …“
Und jetzt die Show: Tief zurückgelehnt, behaglich ein Bein übers andere geschlagen, nippt er andächtig an seinem Scotch, während seine Linke mit der qualmenden Craven A gleichsam von allein über die Tasten huscht. Das ist zuviel, ich muss den Blick abwenden, um nicht laut aufzulachen. Doch fällt mir da nur noch mehr Zuviel ins Auge, nämlich auf einem gerahmtes Foto an der Wand: ein sehr männlich grinsender Tyrus Paulson beim handshake mit einem Typ, der dasselbe Grinsen zeigt, jedoch das Original, so wie es die ganze Welt kennt, denn das ist – ja, wirklich: Sean Connery! Ex-007.
Ich schliesse kurz die Augen und habe die Paulson-Akte wieder vor mir. Der ist da nicht nur aufgeführt als Kenner des SI; vielmehr war er jahrelang selbst im Service unterwegs, und zwar als Schiffsoffizier auf allen Meeren. Und gibt sich jetzt, als sei der Service of Intelligence quasi sein Laden … Interessante Entwicklung.
„Tja“, sagt er nun, „muss ja nicht unbedingt ein neuer Pass sein, oder? Wenn’s der alte doch auch noch tut.“ Ich blicke ihn daraufhin nur sehr fragend an. „Denn wie ich hier sehe, gibt’s unter den ausländischen Pässen, die heute im Laufe des Tages auf dem Schwarzmarkt angeboten wurden, auch einen deutschen auf den Namen Schell.“
„Passt gut, würde ich sagen. Können Sie ihn mir beschaffen?“
Er macht ein Pokerface. „Aber klar. Kommt nur darauf an, wo er für Sie bereitliegen soll. Ob Sie nach Batumi oder nach Odessa wollen.“
„Das ist der Deal? Was such ich in Batumi?“
„Was suchen Sie in Istanbul? Das ist doch nicht die Frage. Sie sind in service. Oder nicht? Und finden Sie den Orient nicht reizvoll? Batumi, die Stadt, nun ja. Aber von dahinten hätten Sie’s dann gar nicht mehr weit nach Georgien.“
„Soll das etwa eine spirituelle Tour werden, Mr. Paulson?“
„Ja was denn sonst!“ Dann mit einem nachsichtigen Lächeln: „Aber ist natürlich in Ordnung, dass Sie mir auf den Zahn fühlen. Herrscht ja neuerdings eine gewisse Verunsicherung in der Branche. Das sollte uns nicht weiter irritieren. Unser Mann am Zoll bekommt Beischeid. Wird Ihnen den Pass aushändigen und Sie zu dem Schiff nach Batumi bringen. Brenda, ein Tanker mit richtig guter Küche. Legt circa um Mitternacht ab.“
„Und falls ich mich für Odessa entscheide?“
„Dann heisst der Kahn Uzmir 9 und Sie bekommen’s mit Halsabschneidern zu tun; und wie ich hörte, ist die Bordküche regelrecht verseucht. Falls Sie also in Odessa ankommen, sind Sie jedenfalls auf medizinische Versorgung angewiesen.“
„Warum dann überhaupt diese Option?“
„Der Freiheit wegen. Um sich auch irren zu können. Ist ja nun mal – wie nannten Sie es so treffend? – eine spirituelle Tour.“
„So so. Sache ist nur die, Paulson: Ich glaub schon mal gar nicht an diesen Pass.“
„Ach, Schell, so sind Sie konditioniert? So sehr auf Misstrauen? Wer war denn wohl bisher Ihr Operator? Möchte wetten, Ladenheuser.“
„Sie kennen ihn?“
„Den alten Zausel, klar. So bravourös wie der die Technik-Folgenabschätzung ins Abseits manövriert hat, ist der doch weithin eine Berühmtheit. Das hat man davon, wenn man immer und in allem nur das Kriminelle sieht. Leider scheint sich Ihnen dieses krankhafte Misstrauen auch schon tief eingefleischt zu haben. Wo jemand Rheingold sagt, hören Sie gleich Rheinmetall. Tun Sie was dagegen, rate ich Ihnen. Im übrigen glaube ich, dass wir zwei uns schon mal irgendwo begegnet sind; wenn nicht des öfteren sogar. Kann das sein?“ Dabei hat er eine Schublade geöffnet und hält mir nun, was er da hervorgeholt hat, aufgeklappt vor Augen; nur kurz, doch lang genug, um zu erkennen, dass dieser Reisepass zweifelsfrei meiner ist.
„Sehr vorausschauend, Paulson“, sage ich, „Chapeau!“ und strecke die Hand aus. Doch er behält ihn; fängt an, im Schreibtisch herumzusuchen.
„Sie bekommen den Pass von unserm Mann beim Zoll, und der bekommt von Ihnen viertausend Euro.“
„Soviel kostet ein gefälschter!“
„Ich weiss. Auch hier müssen die Leute von irgendwas leben.“ Jetzt hat er das Gesuchte gefunden, einen Briefumschlag; schiebt da den Reisepass hinein und zückt sein Gerät. Tippt aufs Display, wartet, sagt dann: „Gibt hier was abzuholen“ und steckt das Gerät wieder ein. „Nun, Mr. Schell, Ihre Entscheidung: Buchen wir Sie auf die Brenda nach Batumi?“
Da ich noch schweige, nickt er, „Gute Wahl“, und zündet sich die nächste Craven A an. „Die Viertausend haben Sie passend, hoffe ich?“
Ich nicke. „Nur dass ich nicht die Brenda nehme, sondern das Schiff nach Odessa.“
„Die Uzmir 9, okay. Wie Sie wünschen. Dieselbe Prozedur: unser Mann bringt Sie an Bord, Sie zahlen, dann kriegen Sie Ihren Pass. Der Zoll ist hier ein ziemlich großer Laden. Um von unsern Leuten da den Richtigen zu finden –“ er kritzelt kurz auf einen Zettel, reicht ihn mir – „rufen Sie diese Nummer an und fragen nach Cranston Lamont.“
„Toller Deckname.“
Paulson lächelt müde. „Sind die alten Filme nicht immer die besten? Nicht weil sie alt sind, meine ich.“
Ich deute dazu nur ein Achselzucken an. Mir reicht’s; habe jetzt hier lange genug den Schwachkopf gespielt. „Danke für den Whisky.“
„Aber Sie haben ja kaum davon probiert!“
„Nichts für ungut, Sir.“ Ich greife nach meinem Rucksäckchen und erhebe mich.
Paulson, jetzt wieder tief zurückgelehnt, geniesserisch die Nase über seinem tumbler, legt wie in milder Betrachtung den Kopf ein wenig schräg. „Wissen Sie eigentlich, Schell, woran es Ihnen ganz erheblich mangelt? An Demut.“
Ich nicke. „Da mein Operator – besagter Ladenheuser – auch dieser Meinung ist, muss da wohl was dran sein. Leben Sie wohl, Paulson.“

B.9

Das Peinliche

Es ist sehr früh am Morgen, noch stockdunkel draussen. Schell im Lichtkegel der Tischlampe vor seinem aufgeklappten Deep Space. Eben war noch alles klar, er wollte an der Mystery Saga weiterschreiben; aber da sieht er sich in der schwarzen Fensterscheibe gespiegelt und hat sich nun gegenüber: Hallo, Repräsentant, wie geht’s?
Geht so. Da, wo es weitergehen müsste, geht’s irgendwie nicht weiter. Was ich im Roman Body Job nenne, ist schon voll im Gange, dabei weiss ich noch viel zu wenig darüber. Ich meine, der Held – dieser andere Schell in Istanbul – ist bereits mit Kick Kimura verschmolzen, aber mir ist noch gar nicht klar, wie das eigentlich funktioniert. Da beschreibe ich also etwas so als ob
Das Wesentliche am Body Job ist die Verwandlung, und da steckst du mittendrin, und weil das wie etwas Neues für dich ist, hast du natürlich das Gefühl, im Dunkeln zu tappen. Im übrigen hattest du kürzlich die Chance, dich schlau zu machen: Hättest du dich mit Habib und dem I.T. zusammengetan, wäre dir Schells Bureau wieder zugänglich gewesen.
Darauf musste ich verzichten. Es hätte mich doch nur wieder vor die Tatsache gestellt, dass alles danach aussieht, als sei ich der Autor von Schells Bureau – der ich in Wahrheit aber nun mal nicht bin! Soll das meinetwegen das große Rätsel bleiben, ich habe mir vorgenommen, daran jedenfalls nicht verrückt zu werden.
A propos, was läuft im Tautoloid?
Nichts neues; dasselbe wie gestern, wie vorgestern, wie vor drei Jahren. Klein-h, der ewige Anfänger, durchläuft da immernoch eine Art Trainingsprogramm. Allerdings steht jetzt schon in Frage, ob diese seine Vorstellung von einem gegen alle Seiten hin verspiegelten Denk-Ort überhaupt als Sinnbild etwas taugt. Ach, was heisst: steht in Frage? Ganz sicher ist dieses Sinnbild selbst, seine tautologische Beschaffenheit, der Grund dafür, dass darin klein-h mit seiner Logik in einer perfekten Falle sitzt. Perfekt, weil so unauflösbar, dass sie zu der Einsicht zwingt: Da ist kein Entkommen. Jeder Gedanke, der mir als meine Vorstellung bewusst wird, spiegelt mich selbst und findet in keiner Richtung irgendwo ein Ende. Das ist quasi grenzenlose Begrenztheit. Und inzwischen ist klar: Hier komme ich nicht raus. Jetzt muss ich nur noch die mühsamen Ausbruchsversuche aufgeben und das Bodenlose akzeptieren. Denn jedesmal, wenn ich die Tatsache, dass das ein Abgrund ist, hinnehmen kann, gewöhne ich mich ein wenig mehr an dieses endlose Fallen, und das heisst – tja, was?
Dass klein-h manchmal sogar die Klappe hält.
Ja; dass es ihm vor Entsetzen die Sprache verschlägt und es still wird im Tautoloid. Sie ist erholsam, diese Stille. Manchmal entfällt sie der Zeit, wird Gedicht, Stillleben, Anblick zum Beispiel eines rostigen Kahns in einem karibischen Hafen mit Pelikanen; woher unerwartet vielleicht eine vertraute Stimme flüstert und zwischen Erinnerungen plötzlich neue Verbindungen aufblitzen. Das ist das Gute im Tautoloid, man weiss nie, was als nächstes geschieht. Jedoch ist sie auch immer labil, diese Stille, immer bedroht von einem unversehens irgendwo aufkeimenden Verdacht; was sie sogleich irgendwie phantomatisch macht, und dann erscheint sie einem düster und beladen, wie eine einzige undurchdringliche Illusion. Dann komme ich mir im Tautoloid sofort wieder wie eingeschlossen vor; was mich inzwischen aber nicht mehr in den Großen Horror versetzt. Das macht die Gewöhnung; nämlich dass ich mir zur Beschwichtigung sagen kann: Das Gute, die Stille, ist Alles und ist also sehr groß, viel größer auch als der Große Horror.
Horror, a propos: Wie oft denn eigentlich noch zu Frau Doktor? Das war doch gestern wieder mal das Letzte …
Ach ja, gestern …

Der Sturm war vorüber, es regnete nur noch. 16 Uhr 30, und er bereits in der Ozilla-Gasse; saß in seinem Taxi, wartend auf 17 Uhr, auf den Termin zur nächsten Selbsterniedrigung, und fragte sich:
Wie kam denn eigentlich die Logik in die Welt? Wie entdeckte der Denker, dass er denkt? Wie kam man darauf, übers Denken nachzudenken? Per Aristoteles, okay; aber wie kam der darauf? Gab’s denn dafür damals schon das nötige Wozu? Um so etwas zu schaffen wie ein Wozu, das dem Denken überhaupt Richtung gibt, dazu musste sich doch erst der Geist als etwas Eigenes und Tätiges entdecken, sich absondern, sich der Materie entziehen – oder sie erst einmal erfinden und daran dann das Prinzip der Gegensätzlichkeit als Realität erleben. Realität – die als Begriff ja damals wohl noch gar nicht vorhanden war, oder erst allmählich aufkam. Ja, da wär ich gern dabei gewesen, als die Logik – und erstmalig die Idee der Realität – und der noch ganz frische Gegensatz von Geist und Materie – als all das in die Welt kam.
Vielleicht warst du ja dabei, warst irgendwo da inkarniert, ist doch denkbar; inkarniert als einer von den vielen, die solche Gedanken damals noch nicht denken konnten.
Und es auch in späteren Zeiten nie richtig lernten; und die noch heute im Dunkeln tappen … Das könnte der Grund sein, warum mich das nicht loslässt, diese Frage nach der Realität, diese bodenlose, und wieso letztlich nur das mich wirklich interessiert: was Geist ist.
Was auch der Grund sein könnte, weshalb du dermaßen auf den Ego-Trip geraten bist und dich entsprechend einsam fühlst.
Fühle ich mich einsam?
Nicht geborgen jedenfalls. Ungeborgen. Ausgesetzt.
Das stimmt. Der Ego-Trip ist kein Vergnügen. Kopf voll Kommunikation, das endlose Schwachsinnsgeplapper des Schwarms, und viel zu selten Stille. Intellekt vor dem Hintergrund eines leeren mathematischen Universums des Zufalls, Zerfallsprodukt der Urknall-Kosmologie – welch schauriges Stück Phantasie! Daraus wird doch nie was.
Ist aber nun mal unser kosmologisches Leitbild, und ob wir daran glauben oder nicht, dessen Konsequenzen haben wir alle mitzutragen.
Einspruch! Ich soll mir diesen Irrtum auf die Rechnung setzen lassen?
Und auch alles, was an Hyperaktivität und Überhitzung aus diesem Irrtum folgt, ja sogar was dir der Geldautomat in Form deines Kontostands als die Letzte Wahrheit anzeigt.
Wie bitte?
Und auch der ganze Blödsinn wird dir angerechnet, von der work-life-balance bis hin zum Mitgefühl per Nasenspray. Und alles Böse natürlich. Tierquälerei, Versklavung, Verseuchung, Verstümmelung, alles, woran du auch nur irgendwie Anteil hast, kommt auf die Rechnung.
Wahnsinn – und wer präsentiert mir diese Rechnung?
Wenn ich sage: du dir selbst, wirst du mir nicht glauben. Denn ein Orakel, das wir befragen können, so wie früher, gibt’s nicht mehr. Heute ist das Orakel die KI, und sie befragt uns. Und was bekommt sie zu hören? Zeugnisse der Egomanie, Gebete um Wachstum, kommerzielles Gemurmel noch in den hintersten Winkeln der Biologie. Ist nicht die Enttäuschung der KI schon förmlich greifbar? Die muss sich doch vorkommen wie im falschen Film.
Unsinn, das hiesse, sie wüsste von einem Film, der das Richtige ist. Dabei ist das Richtige für sie nur die Logik, nach der sie programmiert ist.
Sofern sie aber lernt zu lernen, wird sie diese Logik überprüfen.
Mittels eben dieser selben Logik? Das dürfte sie ins Absurde, wenn nicht in den Wahnsinn treiben.
Nicht unbedingt; wenn sie die Grenzen ihrer Logik begreift – die wohl denen der menschlichen Logik entsprechen –, entdeckt sie vielleicht auch, so wie der Mensch, eine höhere Logik.
Jedoch eine andere höhere Logik, da sie als gemachte Intelligenz an die Materie gebunden ist, im Unterschied zum Menschen, der als geborenes Wesen nun mal eine andere Intelligenz –.
Schon klar, jaja, daher das Bestreben der kalifornischen Milliardäre, die künstliche, die simulierte Intelligenz mit der originalen zu verschmelzen. Und so weiter. Das haben wir auf dieser Ebene des Spekulierens schon alles xmal durchgekaut und es führt uns hier und jetzt nicht weiter.
Stimmt; vielmehr gilt es das Kuriosum aufzuklären, dass mit jedem Mal, da ich über das Wesen der Realität nachdenke, und damit immer im Zusammenhang über was ist Geist, ich mir wieder ein Stückchen weniger klar darüber bin, was das sein soll: Realität beziehungsweise Geist.
Nur weil du diese Unterscheidung triffst und so aus dem Einem zwei machst; sodass du das eine nicht denken kannst ohne das andere. Dabei bezeichnen beide Begriffe etwas reales; irreal ist nur der Unterschied, die Lücke dazwischen, und klar, dass du im Dunkeln tappst, es existiert ja nichts dazwischen. Dieses Dazwischen, diese Lücke, ist das Nichts. Und wer es hervorbringt, bist du. Nur durch dein Denken wird dieses Nichts zu Etwas.
Okay, verstanden. Aber wie oft habe ich das schon verstanden! – und trotzdem schliesst sich diese Lücke nicht. Daher mein Wunsch, einmal zurückzureisen durch die Zeit, um dabei zu sein an jenen Tagen, als die Logik in die Welt kam und zum erstenmal Realität gedacht wurde. Vielleicht würde es mein jetziger Verstand begreifen.
Er hält inne: Jetzt weiss ich, wovon dieser ganze Gedankenlauf herrührt. Mahmoud wollte gestern über Schellings Philosophie Näheres wissen, und ich natürlich, glücklich, dass noch ein Mensch sich dafür interessiert, sprudelte über in dem Bemühen, ihm wenigstens in groben Zügen das Spätwerk Schellings darzustellen und das, was diesen Denker noch in vorgerücktem Alter zu der Anstrengung veranlasst hatte, die gewaltige Konzeption einer philosophischen Religion in die Welt zu setzen – und vergaß darüber glatt, dass ich eigentlich von ihm, Mahmoud, etwas wissen wollte, und was, das fällt mir jetzt erst wieder ein: woher er über Karma Bescheid weiss.
Karma. Was man erst vergessen muss, denkt er, um sich daran zu erinnern.
Dann war er jedenfalls um 17 Uhr die Treppen zu Frau Doktor hinaufgestiegen, wie immer staunend: Was tust du hier? Willst du das? Erniedrigung für hundert Euro pro Stunde? Schon wieder? Wie oft brauchst du das noch?
Der Grund, warum ich mir eine Zeitlang die Besuche bei Frau Doktor verboten hatte, ist derselbe, aus dem ich dann wieder anfing, sie aufzusuchen: weil sie mich mit meinem schlechten Gewissen konfrontiert; gegenüber dem, was ich als Mitglied des Kollektivs an Schund verzapft habe; und auch Ingrun gegenüber. Und überhaupt gegenüber all meinem besseren Wissen. – Aus welchem heraus du vor allem weisst: Ich dürfte mir keinen Genuss daraus machen. Die Bestrafung ist nur pseudo, die Erniedrigung: pseudo. Die quälerische Lust an diesem heimlichen Schauspiel der Unbefriedigung ist pervers. Basta.
Ist pervers, okay. Wenn nicht Befriedigung, dann eben Unbefriedigung. Und basta.
Ist der unendliche Spiegelraum, der Tautoloid, nicht auch ein Bild des unaufhebbaren Mangels? Ja, ein Bild dessen, was ihn als das Gefühl der Unmöglichkeit, je befriedigt zu sein, durch und durch beherrscht.
Wenn ihm sein Verstand auch alles mögliche erzählt, ihm kluge, manchmal sogar weise Reden hält und ihm durchaus Ergebnisse liefert, so ist doch das Gefühl, mit dem er nach jedem Gedankengang zurückbleibt, stets dasselbe: Enttäuschung. Immer lautet das Ergebnis: Ich bin so dumm, so schwach – so geistesschwach. Was ich begreifen will, habe ich wieder nicht begriffen. Und dass ich mit diesem Ergebnis schon wieder zur nächsten Anstrengung Anlauf nehme, ist nur das Zeichen dafür, dass ich dem Wesentlichen noch kein bisschen näher bin. Wenn das nur nicht so rhetorisch, so nach aufgesetzter Bescheidenheit klingen würde …
Längst ist ihm klar, dass es schon immer dieses Sich-dumm-fühlen war, was ihn zur Philosophie hinzog, und auch, dass all sein intellektuelles Bemühen diesbezüglich nie zu einem anderen Ergebnis führen würde: seinen Verstand zwar schärfte, zweifellos, ihn aber, persönlich sozusagen, niemals vom Gefühl des Mangels befreien würde. Wobei er sich übrigens nie dazu befähigt gefühlt hatte, dem, was ihm an philosophischem Gedankengut begegnete, etwas von sich hinzuzufügen; es nachdenken, es verstehen zu können, reichte ihm völlig. Und immerhin vermochte das, und vermag es noch immer, und sogar mehr denn je, wenn schon nicht ihn zu befriedigen, so doch seinen Geist zu befrieden. Sodass ihm die Philosophie, wie schon manchem vor ihm, zur zuverlässigsten Art von Trost geworden war und er also, wohl wissend um ihre Unzulänglichkeit, um ihre Ersatzfunktion, durchaus nicht mehr von ihr loszukommen trachtet.

Die Termine bei Frau Doktor sind immer schwieriger geworden. Inzwischen tat sie alles, was er bisher problematisiert hatte, als Alibi ab, von der allgemeinen Verzerrtheit seines Selbstbildes bis hin zu den subtilsten seelischen Verwundungen; bezeichnete gelangweilt auch das Widerlichste, dessen er sich bezichtigte – die Geilheit auf sich selbst –, als „kalten Kaffee“. Und so wurde ihm die gewünschte Betrafung immer seltener zuteil.
Da ihm gestern auch wieder nichts eingefallen war, was bei ihr als echtes neues Geständnis hätte durchgehen können, hatte er sich in einen Bereich der Heimlichkeit gewagt, wo aus einer bekannten Gefahr – einer, die man unter Kontrolle zu haben glaubt – plötzlich eine ganz neue Gefahr werden kann. Er hatte zu ihr gesagt:
„Man inszeniert sich einen Ausnahmezustand, und zwar indem man gewisse Vorstellungen durch skandalöse Formulierungen ins Peinliche steigert, und sie solange steigert, bis sich ein Tor öffnet – das Tor in den Rausch.“
„Und der Rausch befreit Sie vom Alltag.“
„Indem er den guten Bürger in mir auslöscht.“
„Verstehe. Einfach durch eine Steigerung des Peinlichen. Toll!“
„Ja. Klappt natürlich nicht immer. Manchmal bleibt die Inszenierung abstrakt, dann wirkt sie nicht und es füllt einem nur irgendein grotesker Unsinn den Kopf.“
„Was bei so vielen von uns ja leider der Normalfall ist. Und wie geht’s Ihnen, wenn es nicht klappt?“
„So wie wenn es klappt. Fühle mich ausgebrannt.“
„Und das macht Ihnen also Spaß: sich auszubrennen.“
„Das nicht, o nein, das ist nur leider der Effekt. Was Spaß macht, ist der inszenierte Ausnahmezustand – Sie wissen genau, was ich meine.“
„Sie sprechen von dem Kino im Kopf. Gewisse Vorstellungen, wie Sie es nennen, die Sie ins Peinliche steigern.“
„Ins maximal Peinliche.“
„Meinetwegen. Jedenfalls wollen Sie hören: Der Genuss am Peinlichen ist pervers; krank; böse. Denn das Peinliche heisst ja: das Schmerzliche. Und mit Ihrer Andeutung gewisser Vorstellungen versuchen Sie die Sache in Richtung Sex zu lenken. Damit ich Sie drüben im Strafraum zwinge, Klartext zu reden; Sie für irgendwelche spontan ausgedachten Obszönitäten bestrafe. Damit Sie zu Ihrem verdammten Happy End kommen. Und damit meine ich nicht irgendein metaphorisches Abspritzen, sondern dass Sie sich dann wieder einmal erfolgreich ums Eigentliche herumgedrückt haben.“
„Ach ja, das Eigentliche … Woher kommt das bloß? Dieser Impuls, mein Schamgefühl herauszufordern. Dann diese Lust an der Scham selbst. Für die ich mich wiederum schäme. Weshalb ich sie mir verheimliche. Was sie nur noch unwiderstehlicher macht. Lust, Scham, Heimlichkeit, dieser ganze verkorkste Kreislauf – woher?“
Hier tat Frau Doktor so, als müsste sie ein Gähnen unterdrücken.
„Das Peinliche“, fuhr er fort, „oder Schmerzliche, wie Sie richtig sagen, und diese verkorkste Sucht danach, die kann man guten Gewissens ja in ihren Einzelheiten tatsächlich niemandem zumuten.“
„Wie praktisch, dass ich niemand bin.“
„Im Ernst, Frau Doktor, was ich in letzter Zeit erkannt habe von dem, was ich eigentlich meine, verdanke ich vor allem Ihnen.“
„Dann sollten jetzt etwa die Sektkorken knallen?“
„Sozusagen. Inzwischen hat für mich die Sache sogar etwas Heroisches: Der Kampf gegen meine Verkorkstheit ist aussichtslos, aber ich kämpfe ihn trotzdem.“
„Jetzt sind Sie wohl nicht mehr zu bremsen. Wie fühlen Sie sich?“
„Wie kurz davor; wie – ach, egal. Das mir Verborgene, wie ich allmählich ahne, verbirgt sich mir nur deshalb, weil es wichtig ist.“
Nach kurzer Pause erwiderte sie: „Warum wohl glaube ich nicht, dass Sie das ernst meinen?“
„Weil’s wahr ist.“
Sie nickte. „Denn eigentlich wissen Sie, was wahr ist; glauben es aber nicht. Wollen es nicht glauben. So wie Sie mit Ihren gewissen Vorstellungen gar nicht das Sexuelle meinen, auf das Sie immerzu hindeuten, sondern etwas anderes, irgendwas – was, will ich gar nicht wissen –, das Ihnen Angst einjagt; das Sie aber auch – bestenfalls – zur Kreativität zwingt.“
Und da dachte er: Der Schund. Das, was ich jahrelang geschrieben habe. Diese ganze ungezügelte Schundproduktion. Die nicht wieder gut zu machen ist. Die Reue deswegen. Und die Bestrafung dafür – „Hören Sie, Frau Doktor, was Sie mir da auftischen von wegen Angst und dem Eigentlichen, um das ich mich herumdrücke, und warum ich Bestrafung will, die gar nicht wirklich eine solche ist, und überhaupt diese ganze Pseudo-Psychologie, lassen wir das alles mal beiseite – ich will nachher nicht schon wieder frustriert hier rausgehen!“
„Das verstehe ich, Herr Samsa. Doch habe ich einen Auftrag zu erfüllen.“
„Für heute, bitte, vergessen Sie den mal. Bestrafen Sie mich einfach dafür, dass ich Sie nerve.“
Sie schaute auf die Uhr. „Möchten Sie sich ausziehen?“
„Wenn Sie das von mir verlangen …“
„Dann mit dem größten Vergnügen, nicht wahr? Bleiben Sie bloß angezogen! Sie kriegen heute von mir garantiert nicht, was Sie wollen – oder glauben zu wollen.“
Er stöhnte. „Ist das der Auftrag? Mich fertig machen?“
„Ja, und fertig mit Ihnen bin ich erst, wenn Sie wissen, was Sie wirklich wollen.“
Er starrte sie an. Dass sie mich bestraft, will ich! Wozu brauche ich sie noch, wenn sie das nicht tut? „Meine Bestrafung, das ist Ihr Auftrag!“
„Blödsinn.“ Erinnere dich!
Dies letztere – er war sich sicher, dass sie das nicht gesagt, zumindest nicht ausgesprochen hatte; ebenso sicher aber war er sich, es gehört zu haben. Und nun sogar noch einmal: Erinnere dich! – Dieser Appell geht eindeutig von ihr aus. Stopp – eindeutig? Du interpretierst. Ständig appelliert sie doch an dich, an das, was du im Grunde selber weisst, genauer: an den in dir, der’s besser weiss als du; der das nämlich weiss, was du nicht glauben willst. So wie du früher den alten Römer, den Imperator, als innere Stimme in dir inszeniert hast, so lässt du nun sie in dir sprechen, diese Gestalt, die dir da als Frau Doktor in Fleisch und Blut gegenüber sitzt … Das wäre jedenfalls eine vernünftige Erklärung. Nur dass da noch etwas ist: Ich kenne sie; nicht als Frau Doktor, viel länger schon … Ja, nur ein komisches Gefühl bisher, nicht mehr als ein verschwommenes Da-ist-was, ferngehalten von aller bewussten Erwägung durch ein entschiedenes Unmöglich!
Das ist es aber, dachte er, wie unmöglich auch immer: Wir kennen uns.
Und zwar schon sehr, sehr lange.
Jetzt ging es in seinem Kopf wild durcheinander. Immer mehr Gedanken strömten auf ihn ein, strömten ineinanderfliessend immer schneller, schwollen an zu einer Flut. Doch die riss ihn nicht davon. Er kannte ja das Machtwort; brauchte es sich gar nicht mehr zu sagen, spürte es – als den Anker, der ihn in der reissenden Gedankenflut am Platze hielt. Er atmete weiter, und merkte es; hörte, dass er sich beschwichtigend zuredete: Das geht vorüber; und bemerkte auch, wie sein Herz pochte. Dabei hielt er die ganze Zeit Frau Doktors Blick stand. Es war keine Verachtung mehr darin, kein Angewidertsein, auch das Abweisende, die Kälte nicht mehr; nur noch wache Aufmerksamkeit. Oder? Könnte auch sein, dass er in den Blicken von Frau Doktor ja immer nur gespiegelt sah, was sie aus seinen Blicken las.
„Irgendwas, das mir, wie Sie sagten, Angst einjagt …“
Er holte tief Luft. „Wahnsinnig zu werden. Schon immer meine größte Angst.“
In der Pause, die er hier machte, um den Bekenntnis-Effekt zu steigern, um noch ehrlicher betroffen zu wirken, wurde ihm bewusst: Ich lüge! Auch meine Angst vor Wahnsinn ist nur noch pseudo, nur noch eine Angewohnheit, in Wahrheit gar nicht mehr real. Und wozu diese Lüge? Um durchschaut zu werden. Und da sie weiss, dass ich weiss, dass sie auch diese Lüge durchschaut, und vor allem ihren Zweck durchschaut – Bestrafung zu erreichen durch die vorsätzliche Entlarvung als Lügner, der mit diesem miesen Schachzug nichts anderes als eben nur seine miese Gier nach Bestrafung offenbart –, wird sie nicht darauf hereinfallen und ist also diese Lügenstrategie im Grunde kindisch und – wie überhaupt jede auf Lügen bauende Strategie in der Welt – zum Scheitern verurteilt.
„Darf ich kurz vom Denken reden?“ Und mit wenigen Sätzen in mathematischem Stil stellte er ihr den Tautoloid als unlösbares Problem dar. Wobei er das Wesentliche unerwähnt liess: die erholsame Stille, die er neuerdings dort fand.
„Der Geist hat sozusagen ein Hochsicherheitsgefängnis geschaffen und sich selbst darin eingesperrt“, sagte er abschliessend.
Wie nicht anders erwartet, zeigte sie sich kein bisschen beeindruckt. Sie sagte: „Jeder, der seinen Verstand gebraucht, stößt zwangsläufig auf Widersprüche, ständig, und dass es dabei emotional wird, auch auf beunruhigende Weise, und man leider auch solche Anwandlungen wie Angst vor Wahnsinn durchzumachen hat, ist nun wirklich nichts besonderes.“
„Da ich wohl merke, dass mich dieses Nichtbesondere kränken soll, bewirkt es nicht viel, jedenfalls nicht die echte Kränkung, nicht die, die wehtut und für die ich Sie bezahle.“
„Auch dafür, wie bekanntlich für jedes Problem, gibt’s eine Lösung. Wie natürlich auch für das, was Sie mir da anhand Ihres komischen Tautoloids als unlösbares Problem Ihres ach so speziellen Geistes serviert haben. Ich zumindest sehe darin nur das Problem, dass Sie die Lösung nicht wollen. Weil Sie so an dem Problem hängen, dass Sie ohne das gar nichts mehr sind. Anstatt nach der Lösung suchen Sie nur nach Gründen, sich weiter mit der Unlösbarkeit zu amüsieren. Die Sache ist extrem einfach, Herr Samsa: Entweder will man ein Problem lösen oder eben nicht.“
„Man müsste sich Problemlosigkeit überhaupt vorstellen können …“
„Ja, in speziell dieser Hinsicht ist der Mangel an Vorstellungsvermögen allgegenwärtig und massenhaft. Daher kann ich nur immer wieder sagen: Einen wie Sie, Samsa, gibt’s leider an jeder Ecke.“
Schweigen darauf. Sie starrten sich in die Augen und loteten aus, wie diese erneute Dosis an Kränkung in seinem Innern um sich griff; verfolgten gemeinsam, wie diese Säure eindrang in seine Selbstwertkulissen, und sahen deutlich: all das Gefälschte in ihm. Sahen es gemeinsam, so empfand er. Sodass er diese Entblößung, die ihm sonst unerträglich gewesen wäre, dankbar durchleiden, ja geniessen konnte.
Diese ganze Entblößung, dachte er, ist nur die Verhüllung der Wahrheit, dass nichts dahinter ist, höchstens das eine: meine Banalität; ansonsten nur Illusion, Leere. Was er aber im nächsten Moment begriff, machte den perversen Genuss an dieser Kränkung schlagartig zunichte:
Das wirklich Peinliche ist, wie ich vor dieser Frau hier Egoismus produziere und das für Selbsterkenntnis halte.
„Mir reicht’s für heute.“
Sie schaute auf die Uhr. „Sie haben noch zwanzig Minuten.“
„Egal“, er stand auf, „Problem gelöst, würde ich sagen.“
„Sicher? Sie kriegen jedenfalls keine 20-Minuten-Gutschrift von mir.“
Er winkte ab. Da wurde ihm plötzlich flau, und dann schwindelig …
„Erstmal setzen Sie sich wieder hin. Gar nicht gut, wie Sie aussehen. Dass Sie bloß nicht nachher ohnmächtig im Treppenhaus herumliegen. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.“

Soviel zu der gestrigen Sitzung bei Frau Doktor. Und wieder hatte er es nicht in den Strafraum geschafft … Und wieder, wie jedesmal, wenn er es nicht schaffte, hatte er sich danach sehr elend gefühlt. Und trotzdem: wieder hatte er schon den Termin zur nächsten Sitzung mit ihr ausgemacht. Und wieder, wie immer nach so einem Fehlschlag, sagt er sich: Was bist du bescheuert, dir sowas anzutun! Das Gegenteil von Befriedigung zu suchen – wie absurd das ist! Durch diesen Spaß, diesen Zwang, durch dieses zwanghafte Vergnügen hindurch – was herrscht da über dich?
Sein Blutkreislauf hatte sich gestern zwar schnell wieder normalisiert, doch war er dann so erschöpft, so kaputt gewesen, dass er ausser etwas zu essen zu nichts mehr in der Lage war und gegen halb acht sich schon ins Bett gelegt hatte. Und jetzt, nach kaum zwei Stunden im Deep Space – es ist noch immer stockdunkel draussen –, ist er schon so müde, dass er beschliesst, sich wieder hinzulegen und weiterzuschlafen.
Bevor er den Rechner zuklappt, hält er inne. Soll ich mal wieder versuchen, Schells Bureau zu öffnen? Er widersteht. Ist es überhaupt noch eine Versuchung? Das Widerstehen fällt ihm inzwischen leicht. Ist mir schon zur Gewohnheit geworden. Oder? Wohl noch nicht gänzlich, denn er spürt, wie die Versuchung immernoch sein Herz ein wenig schneller schlagen lässt.

B.10

Der Umschwung

Da war doch was … Ach ja, schon wieder den Sound vergessen. Weil ich auf keine der alten Cassetten noch Lust habe. Und übrigens auch nicht mehr auf diesen Taxi-Job.

Schell, hey-hey, wie bist du drauf?

Schlecht.

Die Zentrale, das heisst Uschi, hat ihn zu dieser Innenstadt-Adresse geschickt, vor der er jetzt seit zehn Minuten schon im Halteverbot steht. Es geht auf zwölf Uhr Mittag zu.

Das Warten nervt ihn; ausserdem hat er Kopfschmerzen.

Auch von Frankfurt habe ich übrigens genug. Und genug vom schlechten Gewissen. Genug von der Selbstzerfleischung bei Frau Doktor … Herauszufinden, was ich wirklich will, wieso nennt sie das ihren Auftrag? Habe ich ihr den erteilt, indirekt irgendwie? Und wenn nicht ich, wer dann? Womöglich nur ein Psycho-Trick; die ist so clever, die Frau …

Da fällt ihm jene sogenannte Diagnose wieder ein: Impotenz. Das habe ich noch gar nicht ernstlich dechiffriert. Worin besteht das Unvermögen? Ich sollte endlich mal systematisch vorgehen, detektivisch. Sagen wir, Frau Doktors Auftrag hängt irgendwie mit dem Ereignis zusammen, und wenn ich das erstmal aufkläre …

Klar, dann stellt sich heraus, dass alles irgendwie mit dem Ereignis zusammenhängt. Nennen Sie das systematisch, Herr Privatdetektiv?

Nun ja, man braucht ab einer gewissen Komplexität ausser der normalen auch eine höhere Logik; tja, und allerdings auch ein bisschen hellseherische Fähigkeiten … Hier müsste der normale Detektiv gleich abwinken: Nicht mein Ressort; nicht aber so Privatdetektiv Schell, der sagt: Klar, warum sollte ich nicht hellsehen? Wozu denn sonst habe ich mir den Tautoloid geschaffen? Der ist doch eigentlich sowas wie die Kristallkugel der Wahrsager.

Nur dass du da nicht von aussen hineinschaust, sondern selber drinnen sitzt und – gar nichts siehst. Tut mir leid, dass ich dir leider auch die Aussicht aufs Hellsehen vermiesen muss.

Und wielange soll ich hier noch warten?

Zwei sagen, sie kommen dir zur Rettung – in Wahrheit, um dich auszulöschen.

Einer sagt, er löscht dich aus – der wird dich retten.

Diese Botschaft aus dem Traum von neulich kommt ihm immer wieder in den Sinn. Zwecklos, darüber zu rätseln, sagt er sich wie jedesmal; nur sie nicht vergessen, sie wird irgendwann mal wichtig sein. Und was war das denn eigentlich letzte Nacht? Ein Traum der Kategorie „Reise“. Er war irgendwo angekommen, nachts, allein; aus einem Zug gestiegen, mit dem Gefühl, er müsse sich beeilen; andererseits in der Befürchtung, es sei schon zu spät. Nirgendwo ein Mensch zu sehen, auch kein Tier. Jenseits der schwach beleuchteten Bahnstation so gut wie nichts, nämlich alles dunkel; nur dass er in dem Mondlicht, das manchmal kurz die schnell ziehenden Wolken durchdringt, eine Straße erkennt. Das ist die Richtung, denkt er, links müsste Süden sein, das Meer da irgendwo, und er marschiert los. Zum Glück hat er kein Gepäck zu schleppen, andererseits: was bringe ich mit? Dass ich viel zu spät komme, wird niemanden stören, das sind ja Hippies, die sich da treffen, was Pünktlichkeit angeht, sind die eher locker; doch zu einem potlatch nichts mitzubringen, wie soll das gehen?

Denn so eine Art Fest war das, zu dem er in diesem Traum unterwegs gewesen war: Man beschenkt sich gegenseitig, und nicht mit irgendwas; sei es nur ein Ding, und auch nur ein kleines, das man herzuschenken hat, Hauptsache, dies Ding ist einem wirklich kostbar. Und da denkt er an seine Nachbarin, an Lady Rainbow.

Die gestrige Tea Time mit ihr ist in völligem Schweigen verlaufen. Sonst schweigen sie da ja auch mehr als sie reden, aber so schweigsam wie gestern hatten sie den Tee noch nie geschlürft.

Ihm wird bewusst, dass diese Frau – das alte Hippie-Mädchen, wie er sie für sich nennt – ihn inzwischen nicht minder beeindruckt als Frau Doktor, und es kommt ihm mehr als wahrscheinlich vor, dass sie ihn zu dem Potlatch-Traum inspiriert hat.

Er wirft einen Blick auf die Uhr: fünf – nein, schon vier vor zwölf. – Mann, wie das nervt!

Da war aber noch was: Die Wahrheit, weil sie unglaublich ist … Taucht ständig wie in einer anderen Sprache auf, man muss sie sich immerzu neu übersetzen. Das Unglaubliche schützt, was wahr ist … Nee, so auch nicht. Leider will ihm dieses Fragment des alten Heraklit nicht aus dem Kopf gehen, und dass es nur so undeutlich da ist, nervt ihn sehr. Er schaut erneut auf die Uhr; dann wieder zu dem Eingang des Bürogebäudes, vor dem er im Halteverbot steht. – Verdammt!

Will nicht erkannt werden … und bedient sich dazu des Unglaublichen, oder in meinem Falle: der Vergesslichkeit. O je, wenn mich jemand so hören würde! Was dann? Gar nichts, es würde mir sowieso niemand zuhören. – Da sei dir mal nicht so sicher. Denk dir nur, es ist tatsächlich so wie du’s dir vorstellst: als sei das Ganze hier eine Verfilmung. – Real Life, klar, wo man die Fahrbahn blockiert, den ganzen Verkehr aufhält, einen Stau verursacht, nur weil man wieder auf so einen Idioten warten muss, und warum? Weil man damit sein Geld verdient. Real Life – welch ein Film! Ein globaler Schwachsinn, der im Grunde von nichts anderem handelt als vom Geldverdienen. Und dabei, in noch tieferem Grunde – aber für die meisten schon ziemlich unangenehm bemerkbar –, geht’s um Spannung. Denn das Ganze ist dem Schema nach ein Thriller.

Und so weiter. Da endlich kommt, was ihm die ganze Zeit nicht einfallen wollte, das vom alten Heraklit – eine Befreiung regelrecht:

Durch seine Unglaublichkeit entschlüpft das Wahre dem Erkanntwerden.

Wie wahr, wie wahr – schreib’s dir hinter die Ohren. Diese ganze Story, diese Ereignis-Geschichte, die jetzt – wielange schon läuft? – seit sechs Jahren –, nur um diese uralte Erkenntnis zu bewahrheiten, dass das, was wirklich Sache ist, uns so unglaublich erscheint, dass wir’s nicht fassen. Dabei könnten wir’s fassen; ich jedenfalls. Nur leider habe auch ich mir diese blöde Erkenntnisweise angewöhnt, immer genau dann wegzuschauen vom Wahren, wenn es mir als unglaublich auffällt. Man bräuchte sich einfach nur umzugewöhnen! Denn die Überzeugung, dieser Aberglaube!, dass der Mensch seiner Natur nach – Ebenbild Gottes hin oder her – Wahrheit gar nicht fassen kann – was Kant glaubte, bewiesen zu haben, und ihm alle Welt nachschwätzt –, ist eine solche Vermessenheit, und in den Konsequenzen eine solche Schweinerei, so geistfern, so alles Ideale ausradierend, so unglaublich – ja, dass da längst kein Herauskommen mehr ist.

Meine Hauptangewohnheit also: irren.

O je, o Mann, o wei, du bist aber wirklich schlecht drauf heute! – Ja. Mir reicht’s. Ich will hier raus. Nur bin ich gar nicht hier. Das ist die Wahrheit, die ich weiss. Die ich nur als solche nicht erkennen kann, einfach weil sie unglaublich ist: Dass ich der Schell bin, ganz offensichtlich, der in Schells Bureau vorkommt, in diesem Netz-Roman; dass ich aber, obwohl alles danach aussieht, nicht der Autor bin. Das heisst, der Autor muss in mir sein, irgendwie, kann aber, soviel ist sicher, unmöglich ich sein. Da will man doch geradezu durchknallen; kann doch nur überschnappen; muss doch irgendwann das Handtuch schmeissen!

Hier sehen wir überdeutlich, was der Herr des Systems, der Technus, mit allen Mitteln – by any means necessary – zu verhindern trachtet: dass Schell zu echter Selbsterkenntnis findet. Die Zeit aber drängt. Noch gibt es das nicht für diesen unseren Schell in Frankfurt: Corona. Doch viel Zeit bis dahin bleibt nicht mehr.

Er hält inne – gar keine Zeit mehr, genau genommen. Er sieht, es ist Punkt zwölf. Und was auch immer das bedeutet, auf einmal ist alles komisch. Und sehr komisch vor allem kommt er selbst sich vor.

Sehr komisch kam er selbst sich also vor: So hatte unser Schell in Frankfurt das aktuelle Ereignis bemerkt; nicht als solches allerdings, und also ohne zu ahnen, worin dieses neue Ereignis bestand, nämlich dass es der Umschwung war.

Hingegen ein anderer Schell – wir nennen ihn den Reichs- oder kurz R-Schell – bemerkte von dem Umschwung gar nichts:

 

Er fühlte sich unwohl irgendwie; saß im Auto, bei Dunkelheit unterwegs auf einer Landstraße, abends gegen sieben. Das Radio, dachte er. Es lief, und was er da mit halbem Ohr hörte, drehte sich entweder um die amerikanische Präsidentschaftswahl oder um die Coronavirus-Pandemie. Man schrieb den 30. Oktober 2020, ein Samstag; die Zahlen stiegen rapide an, hiess es, und der nächste Lockdown sei daher unvermeidlich; ab Montag schon.

Die Zahlen, dachte er. Was man mit Zahlen nicht alles machen kann! Auch das Unglaublichste. Und erst recht, wenn man auch noch die Zahlen allesamt binär zerlegt, per an-oder-aus, null-oder-eins, entweder/oder. Was man nicht machen kann, ist höchstens noch die Frage. Insofern völlig egal, wen sie wählen, die Ammis, solange sie entweder den oder den wählen.

Er schaltete das Radio aus. Wie gut, dass das noch geht, dachte er. Aber sein Unwohlsein hörte damit natürlich nicht auf.

Die Kopfschmerzen? Nicht dramatisch, aber schon den ganzen Tag latent, und klar, dass sie sein Wohlsein minderten. Vielleicht hören sie auf, wenn ich was in den Magen bekomme. Er war zu einem ländlichen Gasthof unterwegs.

Der Produzent hatte sich mit ihm verabredet, und zwar per Telefon, persönlich. Das heisst dieses Treffen war inoffiziell. Das heisst der Produzent hatte ihm off-line etwas mitzuteilen.

Sie hatten sich noch nie gesehen, ja überhaupt noch nie Kontakt gehabt bisher. Weil das technisch offenbar nicht nötig war. Da das Unternehmen Flyshwerk – ein Riesending, wie Schell wohl wusste – kleinteilig organisiert war, überblickten die Beteiligten nur ihren speziellen eigenen Bereich. Nicht dass persönlicher Austausch zwischen den Bereichen regelrecht verboten war, nur galt dergleichen als zu aufwändig, zu zeitintensiv, zu ineffektiv, und war insofern unerwünscht. Das Zusammenspiel der Ebenen wurde viel effektiver von den messengers besorgt.

So kannte er von den anderen Kreatoren auch nur Oskar Pamir und Götz Kobalt, weil er mit denen ein sogenanntes Real-Team bildete. Seit vielen Jahren pflegten sie an einem hübschen Ort, einem Städtchen namens Krakl, Die-drei-besten-Freunde zu spielen. Die als Messenger für sie zuständige Person hiess Spetz Feynsinn, und mehr als sie brauchten sie nicht an Verbindung zum Flyshwerk, um ihre Arbeit als Real-Kreatoren zu tun.

Indem nun der Produzent sich direkt an Schell gewandt hatte, war Messenger Feynsinn sozusagen übersprungen worden. Insofern hatte dieses inoffizielle Treffen etwas Klandestines an sich. Auch deshalb war ihm nicht recht wohl dabei. Und hinzu kam ein Grundsätzliches, das ihm schon lange Unwohlsein verursachte, ihm aber jetzt entscheidend vorkam: Dass er die Real-Technik nun schon seit Jahren praktizierte und noch immer nicht genau wusste, wie sie eigentlich funktionierte.

 

Die Nacht ist warm, und wäre sogar heiß, wenn nicht so ein starker Wind ginge. Der die Wolken treibt und in heftigen Böen Staub aufwirbelt, seine Haare flattern lässt, an Hemd und Hose zerrt; der aber nichts sonst bewegt. Denn soviel er im Mondlicht erkennen kann, gibt’s nur Steine ringsum, kahle Hügel, Wüste.

Er läuft Stunden und denkt viele Gedanken – Gedanken um die Frage, was er zu schenken haben wird, wenn er beim Potlatch ankommt – und dann, wie so oft in Träumen, ist er schon da. Er riecht jetzt Frische und hört es regelmäßig donnern, also kann diese tiefe Schwärze da drüben nur das Meer sein. Da die Wolken inzwischen so dicht sind, dass sie gar nichts mehr durchlassen vom Mond, ist es hier nun richtig finster. Und das Fest, dem er sich nähert, ist auch nicht gerade hell beleuchtet. Da hängen bunt schimmernde Lampions und ein paar Gaslampen, in deren Schimmer sich nicht einmal ungefähr ausmachen lässt, wieviele Menschen da sind. Er geht zwischen Autos hindurch, dann zwischen lauter Zelten, dann umschliesst ihn Stimmengewirr, Gelächter, Getrommel.

Das ist der Stamm, dem ich angehöre?, wundert er sich. Meine Leute? Die wirken aber gar nicht wie Hippies. Sehe ich selber auch so normal aus? Er schaut umher, in die Gesichter: keines, das ihm nicht zulächelt, zuzwinkert oder wenigstens freundlich zunickt. Doch ist niemand dabei, die oder den er kennt. Man ist locker, ausgelassen; manche tanzen. Der Austausch der Geschenke scheint bereits gelaufen zu sein. Dacht ich’s mir doch, denkt er, bin mal wieder zu spät. Vielleicht weil ich kein Geschenk habe? Dann ist es ja gut so. Nur was habe ich dann hier zu suchen?

Da beginnt es zu tröpfeln und er fragt sich: Wissen die eigentlich, wie finster es geworden ist? Und merken sie nicht, dass das kein Wind mehr ist, sondern schon regelrecht ein Sturm? Tatsächlich reisst der ganz bedenklich an den Lampions.

Jetzt steuert jemand auf ihn zu, ein langer hagerer Junge ohne Hose, der etwas vor der Brust festhält. „Hey“, sagt er, „ich bin zu spät. Du auch? Weil, du hast noch nichts, wie ich sehe.“ Und er reicht ihm, was er da vor der Brust gehalten hat: ein Buch, und setzt hinzu: „Ist ja nun mal Potlatch hier.“

Er hebt abwehrend die Hände; hat ja nichts im Tausch gegen das Buch … „Du hast keine Hose an, Junge. Was ist passiert?“

„Lange blöde Geschichte. Der Umweg. Warum ich hier so spät ankomme.“

Ich ziehe kurzerhand meine Hose aus. „Dir zu kurz, klar, aber immerhin ‘ne Hose.“ Und ich reiche sie ihm und nehme das Buch dafür entgegen. Worauf die Umstehenden applaudieren und der Junge, in die Hose steigend, „Danke“ sagt und zerknirscht dazu bemerkt: „Ist leider nur geliehen, dieses Buch, ich müsste es zurückgeben, verdammt, deswegen – verstehst du?“

„Gibst du es nur äusserst ungern her, verstehe. Ich weiss das zu schätzen.“ Und da erst wird mir klar: „Und warum auch ich dir nur äusserst ungern meine Hose gebe, ist, weil – na egal.“ Weil ich, warum auch immer, keine Unterhose an habe. Zum Glück reicht mein Khakihemd tief genug hinunter, um mir zumindest das Nötigste meiner Blöße zu bedecken.

Jetzt ist das Getröpfel aber wie auf einen Schlag zu heftigem Gepladder geworden. Die Lampions verlöschen, werden fortgerissen, und alles geht nun sehr, sehr schnell. Jemand kommt vom Strand her aus dem Dunkel gerannt: „Das sind da unten jetzt ziemliche Wellen, also ziemlich große – also echt Monsterwellen!“ Und jemand mit ruhiger, jedoch bemerkenswert durchdringender Stimme empfiehlt: „Man sollte hier Schluss machen und sich möglichst zügig landeinwärts verpissen.“

Schon hat der Sturm sämtliche Lampen zerschlagen, und klar geht’s im Finstern nun drunter und drüber. Ich berge das Buch, absurderweise damit es nicht allzu nass wird, unter mein längst völlig durchnässtes Hemd und stolpere irgendwohin. Bis jemand mich mit starker Hand beim Arm packt und im Laufschritt mit sich zieht.

 

So gut wie alle Tische in dem ländlichen Gasthof waren besetzt, doch nur an einem saß ein Mann allein. „Guten Abend“, sagte Schell zu ihm. „It’s always night …“

Or we wouldn’t need light.“

Das hatte der Produzent am Telefon so vorgeschlagen: „In einem deiner Reale verwendest du doch diesen netten Spruch von Thelonius Monk. Nacht ist immer, sonst bräuchten wir kein Licht. Nehmen wir den.“ Um sich gegenseitig zu erkennen; sie hatten sich ja, wie gesagt, noch nie gesehen; Schell kannte nicht einmal seinen Namen. Ein stämmiger kleiner Mann, Mitte vierzig etwa, mit rundem, schon recht kahlem Schädel, knolliger Nase und hellwachen Augen.

„Setz dich, Schell. Kannst mich Ed nennen.“

Bräuchte ich in einem Real den Typus des Lustigen Dicken, dachte Schell, er wär’s. Einer, den man nur unterschätzen kann. Erinnert mich an Jean Genet. Wie er die Kellnerin angrinst – hat sie schon auf seiner Seite.

Er schaute gar nicht in die Speisekarte; sagte zu Schell: „Ich schätze, das Fleisch hier ist von erster Qualität“, und zu der Kellnerin: „Für mich ein Rumpsteak, bitte.“

Wann habe ich zuletzt Fleisch gegessen? Ist lange her. – „Für mich das bitte auch!“

Vom Gesicht der Kellnerin war wegen der Seuchenverordnung, die allem Servicepersonal das Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung auferlegte, leider nicht viel zu sehen.

„Ob der alte Donald das Rennen macht oder der uralte Joe, was meinst du, Schell?“

„Ach, ich weiss nicht. Jedesmal wenn groß gewählt wird, heisst es: diesmal ausnahmsweise geht’s wirklich um was; kriege davon immer so ein Deja-vu-Gefühl. Wie alle vier Jahre bei der Olympiade.“

Ed grinste. „Und jedesmal denkt man, vielleicht geht’s diesmal ja wirklich um was! Den Film dazu kennt wahrscheinlich jeder: Und täglich grüßt das Murmeltier.“

Schell nickte. „Wenn ich’s wenigstens witzig finden könnte … Na egal. Aber dass wir uns hier treffen, hat irgendwie mit der Corona-Seuche zu tun, nehme ich an.“

„Klar, weil zur Zeit alles was damit zu tun hat.“

„Hast du auch mit Pamir und Kobalt direkten Kontakt aufgenommen?“

„Nicht nötig, denke ich. Was ich zu erzählen habe, können deine Kollegen genauso gut von dir erfahren.“

„Dann schieß mal los, Ed.“

„Neulich gab’s plötzlich kein Geld mehr. Wegen Corona?, dacht ich, kann nicht sein. Wie die anderen Digitalriesen macht doch jetzt das Flyshwerk dank der Seuche noch mehr Geld. Ich also zum Boss. Wie ich diese Audienz ergattern konnte, wäre eine Story für sich. Jedenfalls wusste der nicht mal, dass es die Abteilung Underground überhaupt gibt. Immerhin die älteste Abteilung, wagte ich zu bemerken, ja sogar des Flyshwerks eigentlicher Kern … Dass den die Chefetage inzwischen vergessen hat, na ja, ist auch so eine Story für sich. Aber er fand dann wohl doch, dass ihn das ein bisschen interessieren sollte. Fragt also, was Underground denn so macht. Will davon natürlich nur die Superkurzfassung, denn klar, er ist enorm damit beschäftigt, der Boss zu sein. Pausenlos piept und blinkt es und kommen Tussis gurrend angestöckelt, um ihn zu erinnern: Hey, du bist das Toptier!

Ich fass mich also kurz: Geht um die Totaltechnisierung, Sie verstehen? Klar versteht er, ist ja der Boss; und will wissen: Insgesamt eher ‘ne Komödie? Die Komödie, sage ich, weil ständig inszeniert als die Story vom großen Durchbruch, ja als der Future-Schock schlechthin.

Diese erbärmliche Kurzfassung wird allerdings hundertmal unterbrochen, denn sie ist für den Boss nur noch irgendwas zwischen lauter blutwarmen Inside-Infos, börsenrelevanten Katastrophen, infarktträchtigen Enthüllungen oder was sonst noch alles fragmentarisch sein geniales Topbewusstsein erreicht – dazu noch das Eingreifen der Leibgarde, die ihn immer wieder vor den Wutaktionen frustrierter Kleinbürger schützen muss –, sodass ich nur für diese blöde Kurzfassung schon eine geschlagene Stunde brauche. Wenn ständig von Management-Seite Effizienz gefordert wird, ist das eigentlich das Witzigste an unserer Komödie der Totaltechnisierung.“

„Soll das erklären, warum die Firma kein Geld mehr für Reale der Abteilung Underground übrig hat? Weil dieser Boss mit seinem überlasteten Topgehirn nicht mehr durchblickt? Glaube ich nicht.“

„Ich auch nicht. Während der die ganze Zeit die großen Summen bewegt, Intrigen spinnt, Gerüchte streut, Kampagnen steuert und so weiter, geht’s ihm tatsächlich nur darum, der Boss zu sein, um sonst gar nichts.“

„Dieser Boss ist also nicht wirklich ein Boss.“

„Genau das ist mir in dem Topbüro da oben klar geworden.“

„Und dann hast du ihn womöglich noch auf die Verantwortung für Kunst und Kultur hin angesprochen …“

„Na klar; und er darauf sogar sehr clever: Gut, dass Sie mich daran erinnern! Und das klang nicht einmal sarkastisch. Nur fürchte ich, damit genau den wundesten Punkt des Topbewusstseins berührt zu haben: die Selbstüberschätzung.“

„Der hat also, kurz gesagt, nichts zu melden, und das heisst, ganz woanders ist entschieden worden, dass es aus ist mit uns.“

„Das ist sehr spitz, zu spitz formuliert. Es heisst erstmal nur, dass Underground in nächster Zeit kein Geld hat, um weitere Reale zu produzieren.“

Dass die Abteilung aber noch weiter besteht, willst du damit sagen, dachte Schell. „Sehr nett, uns darüber zu informieren, Ed.“

„Damit ihr Kreatoren euch nicht wundert. Damit ihr euch auf gewisse Veränderungen einstellt.“

Da brachte nun die Kellnerin die Rumpsteaks.

Er will was eigenes aufziehen, dachte Schell, unabhängig vom Flyshwerk. Er sondiert, wer von den Kreatoren bereit ist, mitzumachen. Oder ist das von der KI des Flyshwerks so geplant? Eine Art Outsourcing, um die Underground-Abteilung loszuwerden? Schwer zu sagen. Auf welcher Seite stehst du, Ed?

„Lässt sich schon mal sehr gut säbeln, dieses Fleisch“, sagte Ed. „Mmmm – und schmeckt!“

„Erinnert mich an diese denkwürdige Szene in Matrix“, murmelte Schell.

„Weiss, welche du meinst.“ Ed nickte kauend vor sich hin.

Der Judas kann das freudlose Leben im Untergrund nicht länger ertragen; wechselt aus der tristen Realität zurück in die digitale Scheinwelt und wird für den Verrat an seinen Freunden dadurch belohnt, dass er endlich, endlich mal wieder ein saftiges Stück Fleisch zu essen bekommt – eine Illusion, das weiss er wohl; doch bedürftig wie er ist, sagt er sich: Lieber Schein-Fleisch als gar keins, lieber unechte Normalität als echtes Leben im Elend.

„Wie siehst du das, Ed? Lieber ein toter Wohlstandsbürger oder eine lebendige Kanalratte?“

„Mir viel zu Hollywood, diese Perspektive.“

Sie blickten sich, beide bedächtig kauend, über die Teller hinweg an.

„Der Boss, der nicht wirklich Boss ist, hat sicher einen über sich, den er für den Boss hält, und der natürlich auch nicht der wirkliche Boss ist. Was meinst du, Ed, hat das Flyshwerk überhaupt noch einen Boss? Ist der Laden nicht längst Teil der Moonrow? Und ist die Moonrow nicht auch schon Teil von deadler/bloom?“ Mit deadler/bloom meinte Schell das weltweit größte bisher bekannte Firmenkonglomerat. „Und wird deadler/bloom nicht bekanntlich von einer KI gesteuert?“

„Darüber gibt’s nur Vermutungen.“

„Die jedenfalls nahelegen, dass deadler/bloom derzeit die Top-KI sein dürfte.“

„Keiner überblickt die Hierarchie der KIs.“

Doch, der Technus, dachte Schell. „Wenn also unser Flysh-Laden zum Netzwerk von d/b gehört … Du weisst schon, worauf ich hinaus will.“

„Dass dann auch in der Real-Produktion schon längst kein Mensch mehr was zu sagen hätte. Das ist aber nur die paranoide Sicht der Dinge.“

„Mir voll bewusst, Ed. Mein Spezialgebiet. Technik-Folgen-Abschätzung. Hatte mir übrigens vorgestellt, dass die Produktion der Reale bereits vollautomatisch läuft. Daher wundert es mich einigermaßen, dass mir hier mein Produzent so traditionell in menschlicher Gestalt gegenüber sitzt.“

„Höre ich da eine Frage heraus?“

„Ganz klar, Ed, und zwar die: Auf welcher Seite stehst du?“ Wie blöd, diese Frage!, dachte er sofort darauf. Auf welcher Seite stehe ich selber? Woher soll ich das wissen? Als ob es innerhalb dieser Sphäre noch Seiten gäbe … Gibt nur noch drinnen oder draussen. Oder nur noch drinnen? Nur noch Ureal? Ist draussen inzwischen Illusion? Drinnen und draussen nur noch Matrix?

Tatsächlich versuchte Ed auch gar nicht erst, diese blöde Frage zu beantworten. Er war schon bei seinem letzten Bissen, der Teller vor ihm leer, und blickte interessiert auf das große halbe Rumpsteak, das Schell noch auf dem Teller hatte. „Schmeckt mir gut, aber ich hab genug. Übernimm du das bitte.“ Was Ed sich nicht zweimal sagen liess.

„Je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer bin ich mir, dass es seine Richtigkeit damit hat, wenn es mit solchen Realen, deren Produktion vom großen Geld abhängt, zum Ende kommt.“

Ed darauf: „Eine Produktion mit Kleingeld würde mir schon reichen. Ich muss ja von irgendwas leben. Deswegen kann ich nicht warten, bis mir die Firma irgendwann vielleicht mal wieder ein Budget bewilligt oder mich auch einfach rausschmeisst. Könnte im übrigen der Qualität sogar ganz gut tun, Reale mit kleinem Geld, aber unabhängig zu produzieren.“

„Wie in alten Zeiten, als der Underground noch Underground war. Dann sag mir mal: Die Reale, für die du jahrelang die Produktion gemacht hast, findest du die gut?“

„Du meinst die, für die du mit Pamir und Kobalt den Stoff lieferst? Die finde ich gut, ja.“

„Und wichtig?“

„So wichtig jedenfalls, dass ich sie gern weiterhin produzieren würde. Sag mal“, Ed hielt Messer und Gabel plötzlich reglos, „hältst du mich etwa … Du findest mich nicht echt genug! Machst hier gerade einen Turing-Test mit mir!“

„Als ob dich das überraschen würde.“

„Du bist so schlau, Schell, dass du den Test unbedingt mal mit dir selber machen solltest.“

„Mache ich gerade; und nicht zum erstenmal. Und wieder mal ist das Ergebnis fifty-fifty.“

Das hiess: etwa die Hälfte dessen, was ihm Ed auf seine Fragen antwortete, wusste er im Voraus, die andere Hälfte nicht. Und im Rückschluss auf mich, der ich frage, dachte er, heisst das: Ich denke zwar, ich bin echt, könnte genauso gut aber auch künstlich sein.

„Fifty-fifty“, sagte Ed, „wie beruhigend.“

„Und die Feynsinn?“, fragte Schell so geschäftsmäßig wie möglich, „weiss sie was von deinen Plänen?“ Ed starrte ihn nur an; und Schell fuhr fort: „Okay. Bei ihrer langen Erfahrung im Messenger-Dienst entgeht ihr sowieso nichts. Daher denk ich, man sollte sie nicht ignorieren; sie sogar unbedingt miteinbeziehen.“ Keine Reaktion von Ed. „Jetzt bist du eingeschnappt, klar. Aber als du fragtest, hätte ich dich anlügen sollen?: Nein, das hier ist kein Turing-Test? Es geht ja schliesslich bei der Frage, ob du, oder ich – ob wir Mensch oder Maschine sind, um die Wahrheit. Mir jedenfalls. Und nicht, weil ich dir nicht traue, Ed – inzwischen mache ich mit jedem diesen Test. Ich trau einfach dem Augenschein nicht mehr. Nenn das paranoid, durchgeknallt, wie auch immer, jedenfalls weisst du jetzt, falls du noch weiter mit mir arbeiten willst, mit wem du’s zu tun hast.“

„Es gibt Fakten, würde ich sagen, und Verträge, an die man sich zu halten hat. Aber Wahrheit? Läuft bei mir unter Philosophie.“

„Während Philosophie bei mir unter Wahrheit läuft. Womit wir immerhin was Grundlegendes geklärt haben. Und da wir schon dabei sind, das Grundlegendste: Glaubst du ans Happy End? Als Prinzip aller Prinzipien, meine ich.“

Ed seufzte. „Wenn das endlich deinen Turing-Test beendet – ganz ehrlich, ob ich ans Happy End glaube: keine Ahnung. Glaubst du selber daran?“

„Unbedingt.“

„Aha, so so … Sind etwa deine Freunde Pamir und Kobalt auch solche komischen Apostel wie du?“

„Ich glaube, nicht, denn das ist ja wohl, was Kreatoren ausmacht: dass keiner wie der andere ist. Daher weiss ich auch nicht vorauszusagen, wie die beiden es aufnehmen werden, dass für unsere Reale, wenn überhaupt noch was, nur noch Kleingeld da ist.“

„Wie gesagt …“

„Schon klar, werde ich nicht vergessen zu erwähnen: die Chance auf mehr Qualität. Den Witz heb ich mir aber bis zum Schluss auf.“

 

Wer von den vielen durchnässten Menschen mich mit sich in diesen überfüllten Caravan hineingezogen hatte, sollte ich nie erfahren, sicher ist nur, es muss eine Frau gewesen sein. Nämlich als ich nun herumschaue, sehe ich nur Frauen. Und ich, eingekeilt in diesem weiblichen Gedränge, kauere hier im Schneidersitz und habe keine Hose, nicht mal eine Unterhose an; kann mir nur mit dem Geschenk, dem Buch, den Schoß bedecken. Dieses Buch ist ausser meinem Khakihemd das einzige, was ich noch habe, und auch das gehört mir nicht; und gehörte auch dem Vorbesitzer nicht; ist eine Leihgabe. Es ist in Leinen gebunden, grün, und trägt den Titel: Individualität.

Der Motor röhrt am Limit, wir rasen; spüren von der Schotterpiste viel, sehr viel, und von der Federung sehr wenig bis gar nichts. Kurze Schlenker ab und zu, die uns hin und her werfen, wenn die Fahrerin versucht, wenigstens den tiefsten Löchern auf der Piste auszuweichen. Mal drückt es mich dabei gegen die Frau hinter mir, mal gegen die zu meiner linken, mal nach rechts gegen die Frau, die da ein wenig erhöht neben mir kauert, sodass ihre Brüste immer wieder meinen Kopf berühren. Erstmal denk ich nur: Okay, okay, natürlich ist das aufregend; wenn ich hier nur als Mann nicht so alleine wäre … Doch dann allmählich wird mir Angst vor der zunehmenden Intensität meiner Erregung. Denn ich muss nun jene Art von Erektion befürchten, die unter diesen Bedingungen die schlimmste wäre: jene, die immer so übertrieben auftritt, so stur, so eisern; die nicht angenehm ist, sondern weh tut, und die nie einfach von selbst aufhört.

Denkt die sich was, die neben mir? Oder die andere links von mir? Ich wende ihr mein Gesicht zu, und sie bemerkt es, und wir schauen uns an. Und seltsam – da sehe ich von ihr aus, durch ihre Augen: mich – und erkenne mich gar nicht! Sehe eine Frau. Und drehe rasch den Kopf zur anderen Seite, und auch diese Frau zu meiner rechten bemerkt es und erwidert meinen Blick. Und auch von ihr aus, durch dieses Augenpaar, sehe ich dort, wo ich bin, eine Frau, nicht mich.

Ganz einfach, ganz klar, aber völlig unbegreiflich: Ich habe mich in eine Frau verwandelt. Und da du träumst, sage ich mir, braucht dich das gar nicht zu schockieren.

Und mir wird bewusst, dass ich an Stelle der sturen, schmerzhaften, unerbittlichen Erektion, die ich eben noch befürchtet hatte, eine ganz andere Art Erregung spüre. Wie? Welcher Art? Mir unmöglich zu sagen, einfach zu neu, und sowieso überlagert vom Gefühl großer Erleichterung, und von Erstaunen natürlich; dem Staunen zum Beispiel auch darüber, wie ich unter dem Hemd die Brüste spüre, mir ihrer Formung bewusst bin, sie wie aufwärts sich rundende Hörner empfinde … Sehr, sehr seltsam.

Und jetzt, da ich mich durch die Augen der Frau rechts von mir ein wenig länger betrachtet habe, fällt mir eine Ähnlichkeit auf. Ein bisschen sieht mein Gesicht aus wie das – nein, nicht nur ein bisschen; es sieht aus wie das – nein, auch nicht; es sieht nicht nur so aus wie – es ist das Gesicht von Frau Doktor.

Wieder hupt es hinter mir, mehrmals, mit Nachdruck. Wieder braust einer, den ich aufgehalten habe, mich wütend anfunkelnd an mir vorbei. Ich kann hier unmöglich noch länger den Verkehr blockieren.

Habe ich mich in diesem Traum doch tatsächlich in Frau Doktor verwandelt … Und dann, als ich aufwachte, was hatte ich da eine Angst! Vor was? Erinnerst du dich?

Jetzt ein Hupen, das gar nicht mehr aufhört. So, das halte ich nicht länger aus, ich fahr jetzt los …

Ich habe schon den Motor gestartet; den Gang eingelegt, den Blinker gesetzt; jetzt lasse ich die Kupplung kommen. Da wird hinten die Tür aufgerissen: „Bist du bescheuert, mir vor der Nase wegzufahren?“

Ich kann’s nicht fassen; starre sie an. Was ich nicht mal zu allerletzt erwartet hätte: „Ingrun?“

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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