I.9

Das Vergessen

Was ich nach meinem Schläfchen vor allem verspüre, ist Ernüchterung. Das chaotische Büro kommt mir nun restlos entzaubert vor. Ich schaue trotzdem unterm Sofa nach, ob ich da die alte Tippa finde, so wie ich’s geträumt habe. Nein, nur leere Pappschachteln. Und weder finde ich am Schreibtisch die Schublade mit Dantes Divina Commedia, noch auf der Fensterbank jene Steinschale mit dem Zigarrenrest.
Dann schreite ich zur Tat: besuche eines der benachbarten Büros und frage freundlich, ob man für ein paar Tage den Papierschredder entbehren könne. Nein, kann man leider nicht. Und im nächsten Büro auch nicht. Und so weiter. Sämtliche Schredder in der Nachbarschaft scheinen in ständigem Gebrauch zu sein, und bevor ich ein sechstes Mal abgewiesen werde, kehre ich in mein Büro zurück, frustriert. Andererseits: Das alles zu schreddern würde sowieso Wochen dauern, und habe ich noch soviel Zeit? Da fällt mir der Golem ein. So nennen wir den Chef der Hausmeisterei; und soviel ich weiss, betreibt der irgendwo im Keller des Regierungspalastes Aktenvernichtung in großem Stil. Doch da unten nach ihm zu suchen, dazu bin ich jetzt nicht aufgelegt; dafür ist auch morgen noch Zeit. Wie üblich nach einer so langen Siesta, kommt mir alles ein wenig sinnlos vor, insbesondere meine Arbeit, und also lasse ich Vernunft walten und mache hier Schluss für heute.
Der Nachmittag geht gerade in den Abend über und normalerweise liebe ich diese Stunde. Jetzt aber verändert das kein bisschen meine miese Stimmung. Ich bin schon auf dem Weg zu Dima, da halte ich inne. Sie wird mich fragen, was los ist, und was sage ich dann?
Die nächste Bar, denke ich mir, ist jetzt die beste … Mann, Mann, so schlechter Laune war ich schon lange nicht mehr.
Ich setze mich also an den nächstbesten Tresen und bestelle Rum.
Es sind bloß Dämonen, Geistgespinste; viele zwar, aber nur kleine; und sehr hungrig sind sie allesamt, wollen zur Kenntnis genommen werden. Im Allgemeinen merken Dämonen ja sehr wohl, ob man sie ernst nimmt oder nicht, und ob die Höflichkeit, mit der man sie behandelt, aufrichtig ist. Ironie, Doppelsinn, derlei kommt gar nicht gut bei ihnen an. Irgend etwas scheint sie heute ganz besonders anzulocken, und definitiv möchte ich nicht wissen, was; und da ich weiss, sie würden antworten, wenn ich sie fragte, frage ich also nicht. Es wird vorbeigehen, und nachher bei Dima wird schon alles wieder gut …
Dima ist für mich das Herzstück von Babaal. Sie zu kennen und ihrem Freundeskreis anzugehören, sie sogar jederzeit besuchen zu dürfen, empfinde ich als ein besonderes Privileg. Wie es mir zuteil wurde, weiss ich nicht; nur dass ich mir das durch keine Leistung irgendwie verdient habe, da bin ich mir sicher. Denn in ihrem häuslichen Kreis habe ich bisher nur lauter ungewöhnlich entspannte, großzügige, unkomplizierte Menschen kennengelernt, Menschen, neben denen ich mir selbst immer sehr uninteressant, alltäglich, ja irgendwie verkrampft vorkomme.

Wenn ich heute im Rückblick diese meine letzten Tage und Nächte in Babaal bedenke, wird mir klar, dass ich an diesem Abend, als mir nichts besseres einfiel als das Dümmste: mich zu betrinken, damit begann, mich von mir selbst zu distanzieren.
Noch war ich mir dessen nicht voll bewusst, doch das Gefühl, die Stimmung war schon da: Ich hatte genug von mir. Das Etikett Schell wollte nicht mehr so recht haften; als begänne es sich an den Rändern abzulösen von seinem Gegenstand. Und die innere Stimme warnte mich: Bloß nicht Bilanz ziehen in diesem Zustand! Doch da war das zweite Glas schon fast leer – ich trank den Rum straight – und mich den Tatsachen zu stellen, genau dazu war ich aufgelegt. Denn in dieser Phase des Trinkens kam ich mir immer besonders nüchtern vor, ja mir selbst sogar überlegen, da ich die Anzeichen der Trunkenheit noch klar bemerkte und somit überzeugt war, meine Illusionen zu durchschauen; während ich das Illusionäre dieser Überzeugung schon nicht mehr bemerkte.
Das Chaos im Büro, die Lähmung, die es bewirkte, war sicher kein unbedeutender Faktor. Doch erklärte es, warum ich die düstere Stimmung an diesem Abend nicht abzuschütteln vermochte? Nein. Das Chaos war nur ein lästiger Nebeneffekt. Was mich wirklich verdross, hatte wohl eher mit dem ganzen Regierungsgeschäft zu tun. Darin mitzumischen verursachte mir inzwischen einen solchen Widerwillen, dass mir schon rätselhaft wurde, wie ich mich je darauf hatte einlassen können. Scheint ein Missverständnis gewesen zu sein. Habe den gewissen Punkt nicht bemerkt, an dem das Flyshwerk autonom wurde, den Punkt, ab dem es automatisch auf alles übergriff, auch auf die politische Sphäre, und zwar so selbstverständlich, dass ich lange davon gar nichts mitbekam. Und als mir endlich aufging, dass aus den Prinzipien der Real-Technik unversehens eine Art globale Staatsdoktrin geworden war, und ich also feststellte: Hey, du arbeitest für die Regierung!, da war’s für mich schon regelrecht Routine. Habe ich mich also darauf eingelassen? Nicht jedenfalls im Sinne einer bewussten, das heisst freien Entscheidung.
Was das Flyshwerk real-technisch hervorbrachte, hatte mit der Idee der Real-Technik, so wie ich sie verstand, nicht das geringste zu tun – oder doch, hatte es, insofern sich nämlich aus den Flyshwerk-Produkten das reinste Gegenbild zu jener Idee ergab: Nicht echte Verwirklichung, sondern nur perfekte Simulation; an Stelle schöpferischer Freiheit nur raffinierter Illusionismus; wie etwa das, was so manche religiöse Institution mit ihrem spirituellen Inhalt anstellt.
Jeder Idealist kommt ja unweigerlich an den Punkt, wo er feststellen muss, wie wenig von seinem Ideal sich unter den real gegebenen Umständen verwirklichen lässt. Dann kann er meinen, das läge an dem Ideal, es sei vielleicht das verkehrte, oder sein Idealismus sei naiv. Oder aber er beginnt an diesem Punkt das Ideal als ein Modell zu seiner Orientierung zu begreifen, oder als inneren Kompass, der stets aufs Wesentliche, Sinnvolle, Richtige weist. Dann gibt es für ihn keinen Grund, sein Ideal zu verwerfen; dann sieht er es wie alles Ideale, nämlich als die unsichtbare andere Seite des Realen und ganz logisch also diesem zugehörig.
Für diese letztere Anschauung hatte ich mich an besagtem Punkt entschieden, und die Konsequenz daraus war die gewesen, dass ich mich dazumal nach Andria verzog, das heisst auswanderte, um mich dem Flyshwerk zu entziehen. Hier auf diesem fernen Aussenposten, so dachte ich, könnte sich am ehesten die Möglichkeit ergeben, aus dem Flyshwerk schliesslich ganz herauszukommen, eine Passage zu finden, den Absprung irgendwie zu schaffen.
An diesem Abend dachte ich anders: Von wegen Absprung – welch Illusion! Und von wegen Passage hinaus – wohin denn? Kann mir höchstens so etwas erfinden, erträumen, erblödeln.
Ich neigte nun, so düster gestimmt, vielmehr der entgegengesetzten, der pessimistischen Anschauung zu: dass ich mit meinem Ideal in puncto Real-Technik nur einfach elendig naiv war. Statt herauszukommen aus dem Flyshwerksystem, war ich hier nur noch tiefer hineingeraten, ja musste feststellen, dass dieses scheinbar so abgelegene Babaal nun sogar zum geheimen Zentrum des Flyshwerks geworden war!
Inzwischen war es dunkel draussen. Ich wechselte die Bar. Wie die vorige war auch diese hell erleuchtet, elektrisch, und mir fiel auf, dass es den ganzen Abend noch keinen Stromausfall gegeben hatte. Ich bestellte etwas zu essen und trank weiter Rum. Nimm dich nicht so wichtig, sagte ich mir, bist doch nur ein winziges Rädchen im Regierungs- beziehungsweise Flyshwerkgetriebe, und verantwortlich wärest du höchstens, wenn du einen gewissen Einfluss aufs Ganze hättest – den hast du aber nicht!
Was leider jedoch eine Ausrede war. Denn da dieses spezielle Getriebe ja gar nicht dem leblosen Bereich des Maschinellen angehört, vielmehr dem Reich des Lebendigen, und da im Lebendigen ja nun mal jeder Teil fürs Ganze steht, spielte es durchaus eine Rolle, ob und wie ich mich daran beteiligte. Und dieses Wie begann mir gerade klar zu werden: Ich spielte. War so lange schon ins Spielen vertieft, dass ich es vergessen hatte. Und nur durch das Vergessen funktionierte überhaupt das Spiel. Darin bestand es im Grunde: das, was ich eigentlich wusste, immer wieder zu vergessen, um mich immer wieder daran zu erinnern.
Doch das sage ich heute, rückblickend. An jenem Abend, benebelt vom Rum, war mir nicht klar, dass ich vom Flyshwerk und dem stupiden Regierungsgeschäft nicht loskommen würde, solange dieses Spiel des Vergessens lief; und die Unklarheit darüber ergab eben diese unselige, nicht abzuschüttelnde Stimmung, ein Gemisch aus Besorgnis, Selbstmitleid, wütigem Trotz und Resignation. War auch ein Bedauern darin? Nur höchstens ein bisschen; und von Reue noch gar nichts.

Ich rechne damit, dass jeden Moment der Strom ausfällt. Doch auch in der nächsten Bar bleibt es hell. Da ich nun schon so betrunken bin, dass ich mich bei Dima nicht mehr blicken lassen kann, trinke ich einfach weiter. Und so ununterbrochen beleuchtet, ist es ja auch eine besondere Nacht, sage ich mir. Leider aber zieht von Bar zu Bar meine üble Stimmung mit, und klebt immernoch an mir, als ich mich gegen Mitternacht die Treppen zu meinem Apartment hinaufschaffe, und das nicht wie üblich im Finstern, sondern – noch unwirklich irgendwie – bei elektrischem Licht.

Immer wieder staune ich, dass ein Besäufnis mit dem hiesigen Rum gar keine Kopfschmerzen zur Folge hat; dass ich sogar am nächsten Morgen mich frisch und munter fühle, geradezu inspiriert und voller Tatendrang, und so auch heute: Kaum erwacht, bin ich gleich so sehr von dem, wie’s weitergeht, in Anspruch genommen, dass ich schon zum Regierungspalast unterwegs bin, als mir einfällt, was ich seit Tagen schon und auch an diesem Morgen wieder vergessen habe, nämlich zu duschen, mich zu rasieren und frisch einzukleiden. Wenigstens die Zähne hätte ich mir putzen sollen! Doch bin ich da schon so in Schwung, dass ich mir sage, ach, es geht auch nochmal so. – Wirklich? Ich stocke. Wozu die Eile? Kehr um. Bring dich in Form. Was eigentlich ist wichtig? Das Chaos, das mich im Büro erwartet? Nun ja, es muss beseitigt werden. Und wichtig auch, mich dem jungen Lemm zu widmen. Falls der hier mein Nachfolger werden soll. Was noch? Da war doch etwas viel wichtigeres …
Ich kehre zwar nicht um, zwinge mich aber immerhin, in der nächsten Cafe-Bar wenigstens ein minimales Frühstück einzunehmen. Da fällt mir Paley ein: Ach ja, der will doch, dass ich Brains aufstöbere … Und so kommt mir Bangor wieder in den Sinn, und damit Bangot, und damit Flyrie, der dort in der Falle sitzt. Wie ich zumindest vermute. Man muss ihm helfen. Das ist das Wichtige. Ich könnte mich täuschen, klar, doch ist ganz eindeutig, was mir der Instinkt sagt: Zurück nach Bangot, um Flyrie beizustehen! Nur so geht’s weiter.
Auch das jedoch ist nicht das Wichtigste. Am wichtigsten ist das, was ich am tiefsten vergessen habe. Wie aber soll ich mich an das Vergessenste erinnern?
Löse dich, hör ich darauf nur. – Soll heissen? Doch ich weiss es ja schon: Zieh das Etikett, den aufgeklebten Schell, weiter und immer weiter und weiter von dir ab.
Das tut aber weh! Dazu müsste ich Held sein.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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