B.10

Der Umschwung

Da war doch was … Ach ja, schon wieder den Sound vergessen. Weil ich auf keine der alten Cassetten noch Lust habe. Und übrigens auch nicht mehr auf diesen Taxi-Job.

Schell, hey-hey, wie bist du drauf?

Schlecht.

Die Zentrale, das heisst Uschi, hat ihn zu dieser Innenstadt-Adresse geschickt, vor der er jetzt seit zehn Minuten schon im Halteverbot steht. Es geht auf zwölf Uhr Mittag zu.

Das Warten nervt ihn; ausserdem hat er Kopfschmerzen.

Auch von Frankfurt habe ich übrigens genug. Und genug vom schlechten Gewissen. Genug von der Selbstzerfleischung bei Frau Doktor … Herauszufinden, was ich wirklich will, wieso nennt sie das ihren Auftrag? Habe ich ihr den erteilt, indirekt irgendwie? Und wenn nicht ich, wer dann? Womöglich nur ein Psycho-Trick; die ist so clever, die Frau …

Da fällt ihm jene sogenannte Diagnose wieder ein: Impotenz. Das habe ich noch gar nicht ernstlich dechiffriert. Worin besteht das Unvermögen? Ich sollte endlich mal systematisch vorgehen, detektivisch. Sagen wir, Frau Doktors Auftrag hängt irgendwie mit dem Ereignis zusammen, und wenn ich das erstmal aufkläre …

Klar, dann stellt sich heraus, dass alles irgendwie mit dem Ereignis zusammenhängt. Nennen Sie das systematisch, Herr Privatdetektiv?

Nun ja, man braucht ab einer gewissen Komplexität ausser der normalen auch eine höhere Logik; tja, und allerdings auch ein bisschen hellseherische Fähigkeiten … Hier müsste der normale Detektiv gleich abwinken: Nicht mein Ressort; nicht aber so Privatdetektiv Schell, der sagt: Klar, warum sollte ich nicht hellsehen? Wozu denn sonst habe ich mir den Tautoloid geschaffen? Der ist doch eigentlich sowas wie die Kristallkugel der Wahrsager.

Nur dass du da nicht von aussen hineinschaust, sondern selber drinnen sitzt und – gar nichts siehst. Tut mir leid, dass ich dir leider auch die Aussicht aufs Hellsehen vermiesen muss.

Und wielange soll ich hier noch warten?

Zwei sagen, sie kommen dir zur Rettung – in Wahrheit, um dich auszulöschen.

Einer sagt, er löscht dich aus – der wird dich retten.

Diese Botschaft aus dem Traum von neulich kommt ihm immer wieder in den Sinn. Zwecklos, darüber zu rätseln, sagt er sich wie jedesmal; nur sie nicht vergessen, sie wird irgendwann mal wichtig sein. Und was war das denn eigentlich letzte Nacht? Ein Traum der Kategorie „Reise“. Er war irgendwo angekommen, nachts, allein; aus einem Zug gestiegen, mit dem Gefühl, er müsse sich beeilen; andererseits in der Befürchtung, es sei schon zu spät. Nirgendwo ein Mensch zu sehen, auch kein Tier. Jenseits der schwach beleuchteten Bahnstation so gut wie nichts, nämlich alles dunkel; nur dass er in dem Mondlicht, das manchmal kurz die schnell ziehenden Wolken durchdringt, eine Straße erkennt. Das ist die Richtung, denkt er, links müsste Süden sein, das Meer da irgendwo, und er marschiert los. Zum Glück hat er kein Gepäck zu schleppen, andererseits: was bringe ich mit? Dass ich viel zu spät komme, wird niemanden stören, das sind ja Hippies, die sich da treffen, was Pünktlichkeit angeht, sind die eher locker; doch zu einem potlatch nichts mitzubringen, wie soll das gehen?

Denn so eine Art Fest war das, zu dem er in diesem Traum unterwegs gewesen war: Man beschenkt sich gegenseitig, und nicht mit irgendwas; sei es nur ein Ding, und auch nur ein kleines, das man herzuschenken hat, Hauptsache, dies Ding ist einem wirklich kostbar. Und da denkt er an seine Nachbarin, an Lady Rainbow.

Die gestrige Tea Time mit ihr ist in völligem Schweigen verlaufen. Sonst schweigen sie da ja auch mehr als sie reden, aber so schweigsam wie gestern hatten sie den Tee noch nie geschlürft.

Ihm wird bewusst, dass diese Frau – das alte Hippie-Mädchen, wie er sie für sich nennt – ihn inzwischen nicht minder beeindruckt als Frau Doktor, und es kommt ihm mehr als wahrscheinlich vor, dass sie ihn zu dem Potlatch-Traum inspiriert hat.

Er wirft einen Blick auf die Uhr: fünf – nein, schon vier vor zwölf. – Mann, wie das nervt!

Da war aber noch was: Die Wahrheit, weil sie unglaublich ist … Taucht ständig wie in einer anderen Sprache auf, man muss sie sich immerzu neu übersetzen. Das Unglaubliche schützt, was wahr ist … Nee, so auch nicht. Leider will ihm dieses Fragment des alten Heraklit nicht aus dem Kopf gehen, und dass es nur so undeutlich da ist, nervt ihn sehr. Er schaut erneut auf die Uhr; dann wieder zu dem Eingang des Bürogebäudes, vor dem er im Halteverbot steht. – Verdammt!

Will nicht erkannt werden … und bedient sich dazu des Unglaublichen, oder in meinem Falle: der Vergesslichkeit. O je, wenn mich jemand so hören würde! Was dann? Gar nichts, es würde mir sowieso niemand zuhören. – Da sei dir mal nicht so sicher. Denk dir nur, es ist tatsächlich so wie du’s dir vorstellst: als sei das Ganze hier eine Verfilmung. – Real Life, klar, wo man die Fahrbahn blockiert, den ganzen Verkehr aufhält, einen Stau verursacht, nur weil man wieder auf so einen Idioten warten muss, und warum? Weil man damit sein Geld verdient. Real Life – welch ein Film! Ein globaler Schwachsinn, der im Grunde von nichts anderem handelt als vom Geldverdienen. Und dabei, in noch tieferem Grunde – aber für die meisten schon ziemlich unangenehm bemerkbar –, geht’s um Spannung. Denn das Ganze ist dem Schema nach ein Thriller.

Und so weiter. Da endlich kommt, was ihm die ganze Zeit nicht einfallen wollte, das vom alten Heraklit – eine Befreiung regelrecht:

Durch seine Unglaublichkeit entschlüpft das Wahre dem Erkanntwerden.

Wie wahr, wie wahr – schreib’s dir hinter die Ohren. Diese ganze Story, diese Ereignis-Geschichte, die jetzt – wielange schon läuft? – seit sechs Jahren –, nur um diese uralte Erkenntnis zu bewahrheiten, dass das, was wirklich Sache ist, uns so unglaublich erscheint, dass wir’s nicht fassen. Dabei könnten wir’s fassen; ich jedenfalls. Nur leider habe auch ich mir diese blöde Erkenntnisweise angewöhnt, immer genau dann wegzuschauen vom Wahren, wenn es mir als unglaublich auffällt. Man bräuchte sich einfach nur umzugewöhnen! Denn die Überzeugung, dieser Aberglaube!, dass der Mensch seiner Natur nach – Ebenbild Gottes hin oder her – Wahrheit gar nicht fassen kann – was Kant glaubte, bewiesen zu haben, und ihm alle Welt nachschwätzt –, ist eine solche Vermessenheit, und in den Konsequenzen eine solche Schweinerei, so geistfern, so alles Ideale ausradierend, so unglaublich – ja, dass da längst kein Herauskommen mehr ist.

Meine Hauptangewohnheit also: irren.

O je, o Mann, o wei, du bist aber wirklich schlecht drauf heute! – Ja. Mir reicht’s. Ich will hier raus. Nur bin ich gar nicht hier. Das ist die Wahrheit, die ich weiss. Die ich nur als solche nicht erkennen kann, einfach weil sie unglaublich ist: Dass ich der Schell bin, ganz offensichtlich, der in Schells Bureau vorkommt, in diesem Netz-Roman; dass ich aber, obwohl alles danach aussieht, nicht der Autor bin. Das heisst, der Autor muss in mir sein, irgendwie, kann aber, soviel ist sicher, unmöglich ich sein. Da will man doch geradezu durchknallen; kann doch nur überschnappen; muss doch irgendwann das Handtuch schmeissen!

Hier sehen wir überdeutlich, was der Herr des Systems, der Technus, mit allen Mitteln – by any means necessary – zu verhindern trachtet: dass Schell zu echter Selbsterkenntnis findet. Die Zeit aber drängt. Noch gibt es das nicht für diesen unseren Schell in Frankfurt: Corona. Doch viel Zeit bis dahin bleibt nicht mehr.

Er hält inne – gar keine Zeit mehr, genau genommen. Er sieht, es ist Punkt zwölf. Und was auch immer das bedeutet, auf einmal ist alles komisch. Und sehr komisch vor allem kommt er selbst sich vor.

Sehr komisch kam er selbst sich also vor: So hatte unser Schell in Frankfurt das aktuelle Ereignis bemerkt; nicht als solches allerdings, und also ohne zu ahnen, worin dieses neue Ereignis bestand, nämlich dass es der Umschwung war.

Hingegen ein anderer Schell – wir nennen ihn den Reichs- oder kurz R-Schell – bemerkte von dem Umschwung gar nichts:

 

Er fühlte sich unwohl irgendwie; saß im Auto, bei Dunkelheit unterwegs auf einer Landstraße, abends gegen sieben. Das Radio, dachte er. Es lief, und was er da mit halbem Ohr hörte, drehte sich entweder um die amerikanische Präsidentschaftswahl oder um die Coronavirus-Pandemie. Man schrieb den 30. Oktober 2020, ein Samstag; die Zahlen stiegen rapide an, hiess es, und der nächste Lockdown sei daher unvermeidlich; ab Montag schon.

Die Zahlen, dachte er. Was man mit Zahlen nicht alles machen kann! Auch das Unglaublichste. Und erst recht, wenn man auch noch die Zahlen allesamt binär zerlegt, per an-oder-aus, null-oder-eins, entweder/oder. Was man nicht machen kann, ist höchstens noch die Frage. Insofern völlig egal, wen sie wählen, die Ammis, solange sie entweder den oder den wählen.

Er schaltete das Radio aus. Wie gut, dass das noch geht, dachte er. Aber sein Unwohlsein hörte damit natürlich nicht auf.

Die Kopfschmerzen? Nicht dramatisch, aber schon den ganzen Tag latent, und klar, dass sie sein Wohlsein minderten. Vielleicht hören sie auf, wenn ich was in den Magen bekomme. Er war zu einem ländlichen Gasthof unterwegs.

Der Produzent hatte sich mit ihm verabredet, und zwar per Telefon, persönlich. Das heisst dieses Treffen war inoffiziell. Das heisst der Produzent hatte ihm off-line etwas mitzuteilen.

Sie hatten sich noch nie gesehen, ja überhaupt noch nie Kontakt gehabt bisher. Weil das technisch offenbar nicht nötig war. Da das Unternehmen Flyshwerk – ein Riesending, wie Schell wohl wusste – kleinteilig organisiert war, überblickten die Beteiligten nur ihren speziellen eigenen Bereich. Nicht dass persönlicher Austausch zwischen den Bereichen regelrecht verboten war, nur galt dergleichen als zu aufwändig, zu zeitintensiv, zu ineffektiv, und war insofern unerwünscht. Das Zusammenspiel der Ebenen wurde viel effektiver von den messengers besorgt.

So kannte er von den anderen Kreatoren auch nur Oskar Pamir und Götz Kobalt, weil er mit denen ein sogenanntes Real-Team bildete. Seit vielen Jahren pflegten sie an einem hübschen Ort, einem Städtchen namens Krakl, Die-drei-besten-Freunde zu spielen. Die als Messenger für sie zuständige Person hiess Spetz Feynsinn, und mehr als sie brauchten sie nicht an Verbindung zum Flyshwerk, um ihre Arbeit als Real-Kreatoren zu tun.

Indem nun der Produzent sich direkt an Schell gewandt hatte, war Messenger Feynsinn sozusagen übersprungen worden. Insofern hatte dieses inoffizielle Treffen etwas Klandestines an sich. Auch deshalb war ihm nicht recht wohl dabei. Und hinzu kam ein Grundsätzliches, das ihm schon lange Unwohlsein verursachte, ihm aber jetzt entscheidend vorkam: Dass er die Real-Technik nun schon seit Jahren praktizierte und noch immer nicht genau wusste, wie sie eigentlich funktionierte.

 

Die Nacht ist warm, und wäre sogar heiß, wenn nicht so ein starker Wind ginge. Der die Wolken treibt und in heftigen Böen Staub aufwirbelt, seine Haare flattern lässt, an Hemd und Hose zerrt; der aber nichts sonst bewegt. Denn soviel er im Mondlicht erkennen kann, gibt’s nur Steine ringsum, kahle Hügel, Wüste.

Er läuft Stunden und denkt viele Gedanken – Gedanken um die Frage, was er zu schenken haben wird, wenn er beim Potlatch ankommt – und dann, wie so oft in Träumen, ist er schon da. Er riecht jetzt Frische und hört es regelmäßig donnern, also kann diese tiefe Schwärze da drüben nur das Meer sein. Da die Wolken inzwischen so dicht sind, dass sie gar nichts mehr durchlassen vom Mond, ist es hier nun richtig finster. Und das Fest, dem er sich nähert, ist auch nicht gerade hell beleuchtet. Da hängen bunt schimmernde Lampions und ein paar Gaslampen, in deren Schimmer sich nicht einmal ungefähr ausmachen lässt, wieviele Menschen da sind. Er geht zwischen Autos hindurch, dann zwischen lauter Zelten, dann umschliesst ihn Stimmengewirr, Gelächter, Getrommel.

Das ist der Stamm, dem ich angehöre?, wundert er sich. Meine Leute? Die wirken aber gar nicht wie Hippies. Sehe ich selber auch so normal aus? Er schaut umher, in die Gesichter: keines, das ihm nicht zulächelt, zuzwinkert oder wenigstens freundlich zunickt. Doch ist niemand dabei, die oder den er kennt. Man ist locker, ausgelassen; manche tanzen. Der Austausch der Geschenke scheint bereits gelaufen zu sein. Dacht ich’s mir doch, denkt er, bin mal wieder zu spät. Vielleicht weil ich kein Geschenk habe? Dann ist es ja gut so. Nur was habe ich dann hier zu suchen?

Da beginnt es zu tröpfeln und er fragt sich: Wissen die eigentlich, wie finster es geworden ist? Und merken sie nicht, dass das kein Wind mehr ist, sondern schon regelrecht ein Sturm? Tatsächlich reisst der ganz bedenklich an den Lampions.

Jetzt steuert jemand auf ihn zu, ein langer hagerer Junge ohne Hose, der etwas vor der Brust festhält. „Hey“, sagt er, „ich bin zu spät. Du auch? Weil, du hast noch nichts, wie ich sehe.“ Und er reicht ihm, was er da vor der Brust gehalten hat: ein Buch, und setzt hinzu: „Ist ja nun mal Potlatch hier.“

Er hebt abwehrend die Hände; hat ja nichts im Tausch gegen das Buch … „Du hast keine Hose an, Junge. Was ist passiert?“

„Lange blöde Geschichte. Der Umweg. Warum ich hier so spät ankomme.“

Ich ziehe kurzerhand meine Hose aus. „Dir zu kurz, klar, aber immerhin ’ne Hose.“ Und ich reiche sie ihm und nehme das Buch dafür entgegen. Worauf die Umstehenden applaudieren und der Junge, in die Hose steigend, „Danke“ sagt und zerknirscht dazu bemerkt: „Ist leider nur geliehen, dieses Buch, ich müsste es zurückgeben, verdammt, deswegen – verstehst du?“

„Gibst du es nur äusserst ungern her, verstehe. Ich weiss das zu schätzen.“ Und da erst wird mir klar: „Und warum auch ich dir nur äusserst ungern meine Hose gebe, ist, weil – na egal.“ Weil ich, warum auch immer, keine Unterhose an habe. Zum Glück reicht mein Khakihemd tief genug hinunter, um mir zumindest das Nötigste meiner Blöße zu bedecken.

Jetzt ist das Getröpfel aber wie auf einen Schlag zu heftigem Gepladder geworden. Die Lampions verlöschen, werden fortgerissen, und alles geht nun sehr, sehr schnell. Jemand kommt vom Strand her aus dem Dunkel gerannt: „Das sind da unten jetzt ziemliche Wellen, also ziemlich große – also echt Monsterwellen!“ Und jemand mit ruhiger, jedoch bemerkenswert durchdringender Stimme empfiehlt: „Man sollte hier Schluss machen und sich möglichst zügig landeinwärts verpissen.“

Schon hat der Sturm sämtliche Lampen zerschlagen, und klar geht’s im Finstern nun drunter und drüber. Ich berge das Buch, absurderweise damit es nicht allzu nass wird, unter mein längst völlig durchnässtes Hemd und stolpere irgendwohin. Bis jemand mich mit starker Hand beim Arm packt und im Laufschritt mit sich zieht.

 

So gut wie alle Tische in dem ländlichen Gasthof waren besetzt, doch nur an einem saß ein Mann allein. „Guten Abend“, sagte Schell zu ihm. „It’s always night …“

Or we wouldn’t need light.“

Das hatte der Produzent am Telefon so vorgeschlagen: „In einem deiner Reale verwendest du doch diesen netten Spruch von Thelonius Monk. Nacht ist immer, sonst bräuchten wir kein Licht. Nehmen wir den.“ Um sich gegenseitig zu erkennen; sie hatten sich ja, wie gesagt, noch nie gesehen; Schell kannte nicht einmal seinen Namen. Ein stämmiger kleiner Mann, Mitte vierzig etwa, mit rundem, schon recht kahlem Schädel, knolliger Nase und hellwachen Augen.

„Setz dich, Schell. Kannst mich Ed nennen.“

Bräuchte ich in einem Real den Typus des Lustigen Dicken, dachte Schell, er wär’s. Einer, den man nur unterschätzen kann. Erinnert mich an Jean Genet. Wie er die Kellnerin angrinst – hat sie schon auf seiner Seite.

Er schaute gar nicht in die Speisekarte; sagte zu Schell: „Ich schätze, das Fleisch hier ist von erster Qualität“, und zu der Kellnerin: „Für mich ein Rumpsteak, bitte.“

Wann habe ich zuletzt Fleisch gegessen? Ist lange her. – „Für mich das bitte auch!“

Vom Gesicht der Kellnerin war wegen der Seuchenverordnung, die allem Servicepersonal das Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung auferlegte, leider nicht viel zu sehen.

„Ob der alte Donald das Rennen macht oder der uralte Joe, was meinst du, Schell?“

„Ach, ich weiss nicht. Jedesmal wenn groß gewählt wird, heisst es: diesmal ausnahmsweise geht’s wirklich um was; kriege davon immer so ein Deja-vu-Gefühl. Wie alle vier Jahre bei der Olympiade.“

Ed grinste. „Und jedesmal denkt man, vielleicht geht’s diesmal ja wirklich um was! Den Film dazu kennt wahrscheinlich jeder: Und täglich grüßt das Murmeltier.“

Schell nickte. „Wenn ich’s wenigstens witzig finden könnte … Na egal. Aber dass wir uns hier treffen, hat irgendwie mit der Corona-Seuche zu tun, nehme ich an.“

„Klar, weil zur Zeit alles was damit zu tun hat.“

„Hast du auch mit Pamir und Kobalt direkten Kontakt aufgenommen?“

„Nicht nötig, denke ich. Was ich zu erzählen habe, können deine Kollegen genauso gut von dir erfahren.“

„Dann schieß mal los, Ed.“

„Neulich gab’s plötzlich kein Geld mehr. Wegen Corona?, dacht ich, kann nicht sein. Wie die anderen Digitalriesen macht doch jetzt das Flyshwerk dank der Seuche noch mehr Geld. Ich also zum Boss. Wie ich diese Audienz ergattern konnte, wäre eine Story für sich. Jedenfalls wusste der nicht mal, dass es die Abteilung Underground überhaupt gibt. Immerhin die älteste Abteilung, wagte ich zu bemerken, ja sogar des Flyshwerks eigentlicher Kern … Dass den die Chefetage inzwischen vergessen hat, na ja, ist auch so eine Story für sich. Aber er fand dann wohl doch, dass ihn das ein bisschen interessieren sollte. Fragt also, was Underground denn so macht. Will davon natürlich nur die Superkurzfassung, denn klar, er ist enorm damit beschäftigt, der Boss zu sein. Pausenlos piept und blinkt es und kommen Tussis gurrend angestöckelt, um ihn zu erinnern: Hey, du bist das Toptier!

Ich fass mich also kurz: Geht um die Totaltechnisierung, Sie verstehen? Klar versteht er, ist ja der Boss; und will wissen: Insgesamt eher ’ne Komödie? Die Komödie, sage ich, weil ständig inszeniert als die Story vom großen Durchbruch, ja als der Future-Schock schlechthin.

Diese erbärmliche Kurzfassung wird allerdings hundertmal unterbrochen, denn sie ist für den Boss nur noch irgendwas zwischen lauter blutwarmen Inside-Infos, börsenrelevanten Katastrophen, infarktträchtigen Enthüllungen oder was sonst noch alles fragmentarisch sein geniales Topbewusstsein erreicht – dazu noch das Eingreifen der Leibgarde, die ihn immer wieder vor den Wutaktionen frustrierter Kleinbürger schützen muss –, sodass ich nur für diese blöde Kurzfassung schon eine geschlagene Stunde brauche. Wenn ständig von Management-Seite Effizienz gefordert wird, ist das eigentlich das Witzigste an unserer Komödie der Totaltechnisierung.“

„Soll das erklären, warum die Firma kein Geld mehr für Reale der Abteilung Underground übrig hat? Weil dieser Boss mit seinem überlasteten Topgehirn nicht mehr durchblickt? Glaube ich nicht.“

„Ich auch nicht. Während der die ganze Zeit die großen Summen bewegt, Intrigen spinnt, Gerüchte streut, Kampagnen steuert und so weiter, geht’s ihm tatsächlich nur darum, der Boss zu sein, um sonst gar nichts.“

„Dieser Boss ist also nicht wirklich ein Boss.“

„Genau das ist mir in dem Topbüro da oben klar geworden.“

„Und dann hast du ihn womöglich noch auf die Verantwortung für Kunst und Kultur hin angesprochen …“

„Na klar; und er darauf sogar sehr clever: Gut, dass Sie mich daran erinnern! Und das klang nicht einmal sarkastisch. Nur fürchte ich, damit genau den wundesten Punkt des Topbewusstseins berührt zu haben: die Selbstüberschätzung.“

„Der hat also, kurz gesagt, nichts zu melden, und das heisst, ganz woanders ist entschieden worden, dass es aus ist mit uns.“

„Das ist sehr spitz, zu spitz formuliert. Es heisst erstmal nur, dass Underground in nächster Zeit kein Geld hat, um weitere Reale zu produzieren.“

Dass die Abteilung aber noch weiter besteht, willst du damit sagen, dachte Schell. „Sehr nett, uns darüber zu informieren, Ed.“

„Damit ihr Kreatoren euch nicht wundert. Damit ihr euch auf gewisse Veränderungen einstellt.“

Da brachte nun die Kellnerin die Rumpsteaks.

Er will was eigenes aufziehen, dachte Schell, unabhängig vom Flyshwerk. Er sondiert, wer von den Kreatoren bereit ist, mitzumachen. Oder ist das von der KI des Flyshwerks so geplant? Eine Art Outsourcing, um die Underground-Abteilung loszuwerden? Schwer zu sagen. Auf welcher Seite stehst du, Ed?

„Lässt sich schon mal sehr gut säbeln, dieses Fleisch“, sagte Ed. „Mmmm – und schmeckt!“

„Erinnert mich an diese denkwürdige Szene in Matrix“, murmelte Schell.

„Weiss, welche du meinst.“ Ed nickte kauend vor sich hin.

Der Judas kann das freudlose Leben im Untergrund nicht länger ertragen; wechselt aus der tristen Realität zurück in die digitale Scheinwelt und wird für den Verrat an seinen Freunden dadurch belohnt, dass er endlich, endlich mal wieder ein saftiges Stück Fleisch zu essen bekommt – eine Illusion, das weiss er wohl; doch bedürftig wie er ist, sagt er sich: Lieber Schein-Fleisch als gar keins, lieber unechte Normalität als echtes Leben im Elend.

„Wie siehst du das, Ed? Lieber ein toter Wohlstandsbürger oder eine lebendige Kanalratte?“

„Mir viel zu Hollywood, diese Perspektive.“

Sie blickten sich, beide bedächtig kauend, über die Teller hinweg an.

„Der Boss, der nicht wirklich Boss ist, hat sicher einen über sich, den er für den Boss hält, und der natürlich auch nicht der wirkliche Boss ist. Was meinst du, Ed, hat das Flyshwerk überhaupt noch einen Boss? Ist der Laden nicht längst Teil der Moonrow? Und ist die Moonrow nicht auch schon Teil von deadler/bloom?“ Mit deadler/bloom meinte Schell das weltweit größte bisher bekannte Firmenkonglomerat. „Und wird deadler/bloom nicht bekanntlich von einer KI gesteuert?“

„Darüber gibt’s nur Vermutungen.“

„Die jedenfalls nahelegen, dass deadler/bloom derzeit die Top-KI sein dürfte.“

„Keiner überblickt die Hierarchie der KIs.“

Doch, der Technus, dachte Schell. „Wenn also unser Flysh-Laden zum Netzwerk von d/b gehört … Du weisst schon, worauf ich hinaus will.“

„Dass dann auch in der Real-Produktion schon längst kein Mensch mehr was zu sagen hätte. Das ist aber nur die paranoide Sicht der Dinge.“

„Mir voll bewusst, Ed. Mein Spezialgebiet. Technik-Folgen-Abschätzung. Hatte mir übrigens vorgestellt, dass die Produktion der Reale bereits vollautomatisch läuft. Daher wundert es mich einigermaßen, dass mir hier mein Produzent so traditionell in menschlicher Gestalt gegenüber sitzt.“

„Höre ich da eine Frage heraus?“

„Ganz klar, Ed, und zwar die: Auf welcher Seite stehst du?“ Wie blöd, diese Frage!, dachte er sofort darauf. Auf welcher Seite stehe ich selber? Woher soll ich das wissen? Als ob es innerhalb dieser Sphäre noch Seiten gäbe … Gibt nur noch drinnen oder draussen. Oder nur noch drinnen? Nur noch Ureal? Ist draussen inzwischen Illusion? Drinnen und draussen nur noch Matrix?

Tatsächlich versuchte Ed auch gar nicht erst, diese blöde Frage zu beantworten. Er war schon bei seinem letzten Bissen, der Teller vor ihm leer, und blickte interessiert auf das große halbe Rumpsteak, das Schell noch auf dem Teller hatte. „Schmeckt mir gut, aber ich hab genug. Übernimm du das bitte.“ Was Ed sich nicht zweimal sagen liess.

„Je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer bin ich mir, dass es seine Richtigkeit damit hat, wenn es mit solchen Realen, deren Produktion vom großen Geld abhängt, zum Ende kommt.“

Ed darauf: „Eine Produktion mit Kleingeld würde mir schon reichen. Ich muss ja von irgendwas leben. Deswegen kann ich nicht warten, bis mir die Firma irgendwann vielleicht mal wieder ein Budget bewilligt oder mich auch einfach rausschmeisst. Könnte im übrigen der Qualität sogar ganz gut tun, Reale mit kleinem Geld, aber unabhängig zu produzieren.“

„Wie in alten Zeiten, als der Underground noch Underground war. Dann sag mir mal: Die Reale, für die du jahrelang die Produktion gemacht hast, findest du die gut?“

„Du meinst die, für die du mit Pamir und Kobalt den Stoff lieferst? Die finde ich gut, ja.“

„Und wichtig?“

„So wichtig jedenfalls, dass ich sie gern weiterhin produzieren würde. Sag mal“, Ed hielt Messer und Gabel plötzlich reglos, „hältst du mich etwa … Du findest mich nicht echt genug! Machst hier gerade einen Turing-Test mit mir!“

„Als ob dich das überraschen würde.“

„Du bist so schlau, Schell, dass du den Test unbedingt mal mit dir selber machen solltest.“

„Mache ich gerade; und nicht zum erstenmal. Und wieder mal ist das Ergebnis fifty-fifty.“

Das hiess: etwa die Hälfte dessen, was ihm Ed auf seine Fragen antwortete, wusste er im Voraus, die andere Hälfte nicht. Und im Rückschluss auf mich, der ich frage, dachte er, heisst das: Ich denke zwar, ich bin echt, könnte genauso gut aber auch künstlich sein.

„Fifty-fifty“, sagte Ed, „wie beruhigend.“

„Und die Feynsinn?“, fragte Schell so geschäftsmäßig wie möglich, „weiss sie was von deinen Plänen?“ Ed starrte ihn nur an; und Schell fuhr fort: „Okay. Bei ihrer langen Erfahrung im Messenger-Dienst entgeht ihr sowieso nichts. Daher denk ich, man sollte sie nicht ignorieren; sie sogar unbedingt miteinbeziehen.“ Keine Reaktion von Ed. „Jetzt bist du eingeschnappt, klar. Aber als du fragtest, hätte ich dich anlügen sollen?: Nein, das hier ist kein Turing-Test? Es geht ja schliesslich bei der Frage, ob du, oder ich – ob wir Mensch oder Maschine sind, um die Wahrheit. Mir jedenfalls. Und nicht, weil ich dir nicht traue, Ed – inzwischen mache ich mit jedem diesen Test. Ich trau einfach dem Augenschein nicht mehr. Nenn das paranoid, durchgeknallt, wie auch immer, jedenfalls weisst du jetzt, falls du noch weiter mit mir arbeiten willst, mit wem du’s zu tun hast.“

„Es gibt Fakten, würde ich sagen, und Verträge, an die man sich zu halten hat. Aber Wahrheit? Läuft bei mir unter Philosophie.“

„Während Philosophie bei mir unter Wahrheit läuft. Womit wir immerhin was Grundlegendes geklärt haben. Und da wir schon dabei sind, das Grundlegendste: Glaubst du ans Happy End? Als Prinzip aller Prinzipien, meine ich.“

Ed seufzte. „Wenn das endlich deinen Turing-Test beendet – ganz ehrlich, ob ich ans Happy End glaube: keine Ahnung. Glaubst du selber daran?“

„Unbedingt.“

„Aha, so so … Sind etwa deine Freunde Pamir und Kobalt auch solche komischen Apostel wie du?“

„Ich glaube, nicht, denn das ist ja wohl, was Kreatoren ausmacht: dass keiner wie der andere ist. Daher weiss ich auch nicht vorauszusagen, wie die beiden es aufnehmen werden, dass für unsere Reale, wenn überhaupt noch was, nur noch Kleingeld da ist.“

„Wie gesagt …“

„Schon klar, werde ich nicht vergessen zu erwähnen: die Chance auf mehr Qualität. Den Witz heb ich mir aber bis zum Schluss auf.“

 

Wer von den vielen durchnässten Menschen mich mit sich in diesen überfüllten Caravan hineingezogen hatte, sollte ich nie erfahren, sicher ist nur, es muss eine Frau gewesen sein. Nämlich als ich nun herumschaue, sehe ich nur Frauen. Und ich, eingekeilt in diesem weiblichen Gedränge, kauere hier im Schneidersitz und habe keine Hose, nicht mal eine Unterhose an; kann mir nur mit dem Geschenk, dem Buch, den Schoß bedecken. Dieses Buch ist ausser meinem Khakihemd das einzige, was ich noch habe, und auch das gehört mir nicht; und gehörte auch dem Vorbesitzer nicht; ist eine Leihgabe. Es ist in Leinen gebunden, grün, und trägt den Titel: Individualität.

Der Motor röhrt am Limit, wir rasen; spüren von der Schotterpiste viel, sehr viel, und von der Federung sehr wenig bis gar nichts. Kurze Schlenker ab und zu, die uns hin und her werfen, wenn die Fahrerin versucht, wenigstens den tiefsten Löchern auf der Piste auszuweichen. Mal drückt es mich dabei gegen die Frau hinter mir, mal gegen die zu meiner linken, mal nach rechts gegen die Frau, die da ein wenig erhöht neben mir kauert, sodass ihre Brüste immer wieder meinen Kopf berühren. Erstmal denk ich nur: Okay, okay, natürlich ist das aufregend; wenn ich hier nur als Mann nicht so alleine wäre … Doch dann allmählich wird mir Angst vor der zunehmenden Intensität meiner Erregung. Denn ich muss nun jene Art von Erektion befürchten, die unter diesen Bedingungen die schlimmste wäre: jene, die immer so übertrieben auftritt, so stur, so eisern; die nicht angenehm ist, sondern weh tut, und die nie einfach von selbst aufhört.

Denkt die sich was, die neben mir? Oder die andere links von mir? Ich wende ihr mein Gesicht zu, und sie bemerkt es, und wir schauen uns an. Und seltsam – da sehe ich von ihr aus, durch ihre Augen: mich – und erkenne mich gar nicht! Sehe eine Frau. Und drehe rasch den Kopf zur anderen Seite, und auch diese Frau zu meiner rechten bemerkt es und erwidert meinen Blick. Und auch von ihr aus, durch dieses Augenpaar, sehe ich dort, wo ich bin, eine Frau, nicht mich.

Ganz einfach, ganz klar, aber völlig unbegreiflich: Ich habe mich in eine Frau verwandelt. Und da du träumst, sage ich mir, braucht dich das gar nicht zu schockieren.

Und mir wird bewusst, dass ich an Stelle der sturen, schmerzhaften, unerbittlichen Erektion, die ich eben noch befürchtet hatte, eine ganz andere Art Erregung spüre. Wie? Welcher Art? Mir unmöglich zu sagen, einfach zu neu, und sowieso überlagert vom Gefühl großer Erleichterung, und von Erstaunen natürlich; dem Staunen zum Beispiel auch darüber, wie ich unter dem Hemd die Brüste spüre, mir ihrer Formung bewusst bin, sie wie aufwärts sich rundende Hörner empfinde … Sehr, sehr seltsam.

Und jetzt, da ich mich durch die Augen der Frau rechts von mir ein wenig länger betrachtet habe, fällt mir eine Ähnlichkeit auf. Ein bisschen sieht mein Gesicht aus wie das – nein, nicht nur ein bisschen; es sieht aus wie das – nein, auch nicht; es sieht nicht nur so aus wie – es ist das Gesicht von Frau Doktor.

Wieder hupt es hinter mir, mehrmals, mit Nachdruck. Wieder braust einer, den ich aufgehalten habe, mich wütend anfunkelnd an mir vorbei. Ich kann hier unmöglich noch länger den Verkehr blockieren.

Habe ich mich in diesem Traum doch tatsächlich in Frau Doktor verwandelt … Und dann, als ich aufwachte, was hatte ich da eine Angst! Vor was? Erinnerst du dich?

Jetzt ein Hupen, das gar nicht mehr aufhört. So, das halte ich nicht länger aus, ich fahr jetzt los …

Ich habe schon den Motor gestartet; den Gang eingelegt, den Blinker gesetzt; jetzt lasse ich die Kupplung kommen. Da wird hinten die Tür aufgerissen: „Bist du bescheuert, mir vor der Nase wegzufahren?“

Ich kann’s nicht fassen; starre sie an. Was ich nicht mal zu allerletzt erwartet hätte: „Ingrun?“

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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