S.10

Die Schwarmmaschine

Wie oft ich diesen Hafengeruch schon eingesogen habe und ihn jedesmal, wo auch immer, so wie jetzt empfand: wie ohne Heimat überall zuhause. Wenn ich der Menschheit einen Geruch zuordnen müsste, ich glaube, es wäre dieser.
Die gesuchte Adresse ist ein ziemlich hohes und langes Geschäftsgebäude, völlig schmucklos, abgesehen von diversen großen Werbeschriften an der Fassade; und wie der nette Taxifahrer gesagt hatte, ist auf keinem der vielen Schilder an den verschiedenen Eingängen The Framing Company zu finden.
Man nehme nur nicht wörtlich, was auf der Visitenkarte eines professionellen Fälschers steht; schon gar nicht, wenn klar ist, dass dieser Fälscher, der sich Mek al-Möffi Merikanski nennt, nur der alte Murphy sein kann. Und also – typisch Service of Intelligence – dürfte diese falsche Adresse die richtige sein.
Im übrigen ist mir, als sei ich schon mal hier gewesen. War ich zwar nicht, ergibt aber Sinn, wenn ich bedenke, wie japanisch ich inzwischen aussehe; wie ich dem Anschein nach Kimura bin. Zumindest auch Kimura bin. Und hier also als Agent im Service of Intelligence auftrete. Und als solcher durchaus schon mal hier gewesen sein könnte.
Hey, ich weiss nicht: ob die Notfallnummer zu wählen eine so gute Idee war? – Zu spät; du hast mich aktiviert, und jetzt weisst du, wie das ist. Und ist es etwa schlimm, Kick Kimura zu sein? – Erst einmal nur ungewohnt. Ich stelle mir vor, äh – müsste ich nicht plötzlich eine ganze Menge wissen? – Müsstest du allerdings. Hast doch wohl nicht jahrelang umsonst in der Technik-Folgenabschätzung gearbeitet. Du weisst über den Service of Intelligence Bescheid, über Forty Operas, über Murphy und Co, über mich; und auch über die MoTech, nehme ich an. Und kanntest die Nummer des Hongkong-Telefons. – Tatsächlich, ja; hatte bis vor kurzem sogar einen Exoot zur Verfügung. Nur wie ich an den rangekommen bin, weiss ich nicht mehr. Gibt da so eine Art Gedächtnislücke. – Aha. Typisch. Und hast du schon eine Ahnung, was wir unter einem Body Job verstehen? – Hm. Vielleicht das, was hier gerade läuft? Mich wundert ja nur, wie offen du sprichst; dass du sogar die MoTech erwähnst … Wir sind doch online, oder? – Spielt für mich keine Rolle mehr. Ich kenne nicht den aktuellen Stand der Dinge; bin schon zulange draussen, persona non grata seit Jahren. Was online sein darf und was offline gehört: keine Ahnung. Und was auch immer das für ein Notfall sein soll, dem ich meine Aktivierung verdanke, er ist für mich ein Glücksfall. Ich bin endlich zurück im Service. Und habe nicht das geringste zu verlieren. – So also spricht der legendäre Spezialist für ausweglose Fälle. Was ich da leider am allerwenigsten heraushöre, ist Zuversicht. – Was hast du denn erwartet, Schell? – Bisher gar nichts. Ich war skeptisch, ob ein Notfallprogramm tatsächlich existiert. Kennst du Ladenheuser? Sachbearbeiter in der Technik-Folgenabschätzung; mein Operator. Jedesmal, wenn ich dachte, dass er mir irgendeinen Mist erzählt, stellte sich heraus, dass es mir entweder an Vorstellungskraft gefehlt oder ich ihn falsch verstanden hatte. Und letztens hörte ich von ihm die Formulierung: Solange Sie glauben, Schell zu sein. – Was dir nun ja nicht mehr allzu rätselhaft vorkommen dürfte. Und jetzt, mein Freund, vertraue. Alles ist normal hier, es droht von nirgendwo Gefahr, nicht jedenfalls akut. Und was dein Äusseres angeht, so kannst du ganz beruhigt sein: gewisse Veränderungen an dir, das Japanische zum Beispiel – den Kick Kimura –, bemerkst nur du. Und du selbst übrigens, falls du dir Sorgen um dein Ego machst, bist kein bisschen weniger vorhanden als zuvor. – Bezweifle ich das etwa? Wirke ich labil? Ich mag vielleicht ein Schwachkopf sein – aber hysterisch? – Schon gut. Bleib cool. Jetzt brauchen wir den Reisepass.
Entlang der Geschäfte vor dem Gebäude herrscht mäßiger Verkehr. Ich schaue mir die Leute an, die Läden, die Umgebung. Dass Murphy noch vor Ort ist, glaube ich nicht. Doch behalte ich einen der Eingänge besonders im Auge. Dort ist mir unter den Tafeln mit Firmennamen das Schild des International Maritime Bureau aufgefallen.
Was ist mit dieser alten Frau da? Ihr schlurfender Gang wirkt irgendwie gespielt. Jetzt dreht sie sich mir zu, schaut mich kurz an. Bedeutsam? Nein. Sie hat nur meinen Blick bemerkt. Sieht mongolisch aus; wahrscheinlich aber aus Taiwan. Und was steht da auf ihrer Baseball-Kappe? SMARTLESS.
Was mir zunächst skurril erscheint, erinnert mich gleich darauf an das brandneue Smartphone, das ich im Rucksack habe. – Das lässt du dir jetzt freischalten, und zwar gleich hier in diesem Handyladen.
Der dicke Junge, der müßig da im Eingang lehnt, nickt mir freundlich zu.
Nur er und ich im Laden; sehr günstig. Zusammen mit dem Gerät fische ich auch ein Bündel Lira-Scheine aus dem Rucksack und reiche ihm beides mit den Worten: „Um das Ding in Betrieb zu nehmen, braucht man sicherlich Papiere, oder?“
„Identität, klar. Unbedingt.“ Und schon hat er das Bakschisch überprüft, für ausreichend befunden und mir ein Formular vorgelegt. Beim Ausfüllen lasse ich Spezialagent Kimura freie Hand, und anschliessend, als mir der Junge mit der Aufforderung, ein Passwort einzugeben, das Gerät zurückreicht, fällt mir auf Anhieb SMARTLESS ein.
Da ich dann gleich denjenigen der Netzanbieter wähle, den mir der Junge empfiehlt, und aus dessen Angebot einfach die billigste Prepaid-Variante, ist die Prozedur in kaum zehn Minuten erledigt. Zuletzt bekomme ich noch die offizielle Rechnung ausgehändigt, mit der Bemerkung: „Nur dass Sie mich bitte nicht weiterempfehlen.“

Und nun? Wie komme ich an meinen neuen Pass? – Wir sind im Service of Intelligence, deshalb ist eher die Frage die, wie der Pass zu dir kommt. Bedenke, was du aus dem Bazar als Kompensation für den verlorenen Exoot mitgenommen hast. – Die Adresse eines Fälschers. Die falsch ist. Sowie ein Smartphone. Das ich nur deshalb brauche, weil ich ohne zu sehr auffallen würde. Und drittens die Zeitschrift, SubNews aus den 1990ern. In japanischer Sprache. – Die du inzwischen fliessend beherrscht, wie du bemerkt hast. Sodass wir jetzt zum Beispiel ein bisschen lesen könnten.
Durch jenen Eingang, an dem ich das Schild des International Maritime Bureau entdeckt hatte, trete ich in eine leere Halle ein. Im Hintergrund zeigt eine Uhr 16:05 an.
Lang nicht mehr gewischte Fliesen aus Pseudo-Marmor, fleckige Riesenspiegel an den Wänden, Geruch nach altem Rauch. Nichts hat sich geändert, genauso vergammelt hatte es hier damals schon ausgesehen.
In einer der verstaubten Sitzecken hole ich das alte SubNews-Heft aus dem Rucksack und nehme, tief einsinkend, in einem klobigen Kunstledersessel Platz.
Von diesen alten SubNews, die damals regelrecht wie aus der Zukunft wirkten, interessiert mich jetzt vor allem jene Reportage mit dem Titel Die Schwarm-Maschine; weil Kick Kimura darin auftritt, wie ich mich erinnere, und mir das vielleicht erklärt, warum ich schon mal in genau diesem Gebäude gewesen sein könnte, ohne jemals hier gewesen zu sein.

Der Blick der Wissenschaftler hatte gerade mittels eines neuartigen Mikroskops die bis dato letzte sichtbare Ebene der Materie durchstoßen und war in einen subnanometrischen Bereich eingedrungen. Was da erkannt wurde, stellte auf den Kopf, was bei allen bisherigen Theorien über die Natur Voraussetzung gewesen war: dass da entweder ein auf erkennbare Weise intelligentes Schöpferwesen sich eine Physis schuf oder dass sich lediglich nach dem Zufallsprinzip etwas hier verdichtete, das von den daraus hervorgehenden Menschengehirnen gemessen und unter dem Begriff Energiefeld auf sich selbst angewendet wurde. Das neue optische Gerät zeigte diese beiden konträren Sichtweisen in absoluter Übereinstimmung; aber nun nicht als eine alleinige Sichtweise, nicht also als eine Weise unter anderen, sondern als die Sicht an sich: das Sehen. Sodass alle durch das Gerät dasselbe sahen: sich selbst; nicht so jedoch, wie sie sich „Selbst“ bisher gedacht hatten – das war plötzlich gar nicht mehr vorhanden. Und das war eine einschneidende Erfahrung, denn auf einmal, schlagartig, war alles möglich. Jeder erkannte, was Erkenntnis ist, und damit, was im wahrsten Sinne Freiheit heisst. Was nicht etwa Begeisterung auslöste, sondern große Angst. Das Gerät verschwand, und damit auch die Möglichkeit für die, die hindurch geschaut hatten, das Geschaute glaubhaft mitzuteilen; und es brauchte, da es als bloße Erzählung nicht anders als eine beliebige Science Fiction aufzufassen war, keine Geheimhaltung darum betrieben zu werden.
Zur üblichen späten Stunde im Hafenviertel von Babaal in einem provisorischen Büro des Service of Intelligence: Hinterm leeren Schreibtisch Forty Operas, der Chef, und auf dem Besucherstuhl Agent Kimura, in einer Zeitung blätternd, der neuesten Ausgabe des Reichsboten, in der, alltagssprachlich aufbereitet, obige Geschichte stand. „Wieder mal ohne Quellenangabe“, murmelte er. „Was halten Sie davon?“
„Man irrt sich“, sagte Operas. „Das Gerät hat nicht die Natur des subnanometrischen Bereichs enthüllt, sondern nur den Blick auf eine spezielle Situation freigegeben, nämlich auf die Aktivität eines Schwarms biokybernetischer Organismen.“
„Oh – Sie meinen – ?“
„Künstlich und natürlich zu gleichen Teilen.“
„Kennen wir sowas schon?“
„Natural Computing. Bis dato noch informatisches Neuland; im Grunde jedoch eine ur-uralte Sache. Für die es aber heute eines besonderen Projektors bedarf.“
Kimura mit der Zeitung wedelnd: „Von dem hier die Rede ist. Nur dass das Ding als Mikroskop bezeichnet wird. Eine Irreführung?“
„Nicht nur das. Es ist ausserdem viel zu früh aufgetaucht.“
„Und deshalb auch gleich wieder verschwunden.“
„Nur scheinbar verschwunden. Es passt sich an.“
„Heisst das, es – lebt?“
„Darüber sollte man nachdenken, wenn man diesen Auftrag übernimmt.“ Mit diesen Worten zündete Forty Operas sich seine erloschene Zigarre wieder an und hüllte sich in Qualm.

Bei diesem Auftrag bin ich mir nie sicher gewesen, ob ich ihn wirklich verstanden hatte, und kann mich daher auch nicht erinnern, ihn je erledigt zu haben … Das heisst der Auftrag ist noch aktuell. Denn im Service of Intelligence gibt’s keine Aufträge, die sich von selbst erledigen, keine Missionen, die einfach irgendwie im Sande verlaufen … Ach, vielleicht ist das der Grund, warum man mich, obwohl ich disqualifiziert wurde, nicht gänzlich vom Service abgeschnitten hat … Dann verdanke ich es diesem noch unerledigten Auftrag, dass ich jetzt durch diesen Notfall a la Schell sogar in einem Body Job zum Einsatz komme!
Erstmal jedenfalls ist festzustellen, dass der SubNews-Schreiber diese Reportage ins Fiktive verschoben hat; eine altbewährte, wenn nicht überhaupt die älteste Vorgehensweise, um Information zu codieren. Für Istanbul aber ausgerechnet Babaal einzusetzen? War das klug? Zwar ist Babaal fiktiver als Istanbul, aber so fiktiv nun auch wieder nicht.
Was sagt uns die Phänomenologie? Vom griechisch-antiken Byzanz übers frühchristliche Konstantinopel zum moslemischen Istanbul; immer ging’s um Geistiges, um Religion. Während es in Babaal eher unreligiös immer nur um Eroberung, Freibeuterei und Welthandel ging. Babaal, soviel ich weiss, liegt auf einer schmalen Landzunge; Istanbul hingegen an einer Meerenge auf zwei Ufern. Hier ist also Land, wo dort Wasser ist, das heisst – ist die eine Stadt nicht geradezu das Gegenbild der anderen?
Das beweist natürlich nicht, dass der SubNews-Schreiber Babaal als Schauplatz der Projektor-Story wählte, um auf Istanbul hinzuweisen. Doch in diesem Spielraum des Vermutlichen, in der Unschärfe, liegt ja gerade die Stärke einer literarischen Verschlüsselung. Mir jedenfalls erklärt es, warum ich schon mal hier war, und dass ich mich nicht täusche, wenn mir diese Geschichte, die ich gerade gelesen habe, wie eine eigene Erinnerung vorkommt.
Die Story vom Projektor, der sogenannten Schwarmmaschine, betrifft also, wenn ich Kimura richtig verstehe, seinen alten, noch unerledigten Auftrag. Und mein Notfall-Alarm? Der ihn hierher geführt hat? Wie hängt der, wie hänge ich damit zusammen?
Ich denke an den Bazar zurück, an das Foto, das die Agenten dem Patron gezeigt hatten; und dann an das Kellergewölbe, in dem ich zuvor all die Kisten, Säcke und Kanister gesehen hatte, alle mit diesem komischen Siegel versehen … Hätte mir das genauer anschauen sollen.
Was lagert da? Sprengstoff? Chemikalien? Oder eine besondere Maschine in Einzelteilen? Wahrscheinlich nur Konsumramsch aus Fernost. Vielleicht Honig oder so. Gasmasken. Heroin. Oder auch nur Haschisch. Womöglich ist der Stempel das Entscheidende, das Siegel. Um das Gerücht über eine besonders brisante Lieferung in Umlauf zu bringen. Um die Agenten vor Ort so auf Trab zu halten, dass sie von dem eigentlich interessanten Geschäft, das hier gerade abgewickelt wird, nichts mitbekommen.
Geht’s vielleicht um MoTech? Ist da womöglich Geo Rey im Spiel?

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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