B.7

Da war doch was

Von dem, was er letzte Nacht geträumt hatte, ist nicht viel übrig geblieben, doch das Wenige beschäftigt ihn noch: Eine Szene am Theater, nicht auf der Bühne, sondern irgendwo hinter den Kulissen. Sein verstorbener Vater – er war Schauspieler gewesen – hatte ihn dem „Meister“ vorgestellt und sich dann gleich zurückgezogen. Von der Gestalt erinnert er lediglich, dass sie schwarz gekleidet gewesen war, ansonsten ist ihm von diesem Meister kein konkreter Eindruck, nur dieser Rätselspruch zurückgeblieben:
Zwei sagen, sie kommen dir zur Rettung – in Wahrheit, um dich auszulöschen.
Einer sagt, er löscht dich aus – der wird dich retten.
Uns ist klar, dass das nicht ein Produkt des üblichen Traumlebens ist, sondern von einer Ebene stammt, die wir den Traumkanal nennen; und unserem Schell ist das ebenso klar. Er fasst den Spruch als eine Botschaft auf. Der Versuch sie zu entschlüsseln, war verlockend gewesen, doch allzu wahrscheinlich, so hatte er sich gesagt, würdest du sie nur missverstehen, und hatte sich also damit begnügt, sie bloß kommentarlos zu notieren.
Da war aber noch was anderes, denkt er, etwas, dass ich dringend durchdenken sollte. Nur was? Ich müsste systematisch rückwärts …
Der erste Fahrgast an diesem Tag, ein junger Mann, der zum Hauptbahnhof will, fragt, kaum ist er eingestiegen: „Was ist los? Ist der Cassettenrecorder kaputt?“
„Oh, ach ja …“ Dass er keine Musik laufen hat, ist ihm noch gar nicht aufgefallen.
you can pawn your watch and chain, but not that feel … „Tom Waits okay?“
„O ja, absolut. Danke.“

Nachdem er so lange schlecht geschlafen und so gut wie gar nicht mehr geträumt hatte, kann er sich, seit er wieder gut schläft, fast jeden Morgen an einen Traum erinnern. Und wie früher, gehören die meisten seiner Träume entweder dem „Labyrinth“ an oder der „Reise“. Beide Traumarten wirken wie gemacht, nämlich insofern sie ihm wie Fortsetzungen erscheinen; das heisst sie bilden, wenn er sie im Wachzustand in ihrer Gesamtheit überblickt, einen relativ sinnvollen Zusammenhang.
Schauplatz der Labyrinthträume ist ein riesiges Gebäude, mal ein Häuserblock oder ein Hochhaus voller Menschen, mal ein Palast, ein Schloss, ein alter Theaterbau, menschenleer; mal auch eine Art Bunkeranlage oder etwas, das wie das Innere eines Riesenschiffs wirkt; während in den Reiseträumen zwar alle Verkehrsmittel schon irgendwann vorkamen, meistens aber Eisenbahnzüge der Schauplatz sind. So wie er im Labyrinth jedesmal auf ihm neuen unbekannten Wegen herumirrt, dabei aber weiss, dass es immer dasselbe Gebäude ist, so weiss er auch über die Reise jedesmal, dass es in den wechselnden Gegenden immer dieselbe ist: die Reise, von der er nicht weiss, wohin sie geht.
Seit er begonnen hat, sich das jeweils Bemerkenswerte eines Traums in ein Notizbüchlein zu schreiben, ist ihm als eine allmähliche Veränderung seines Traumleben aufgefallen, dass es immer konkreter mit seinem Wachbewusstsein zusammenhängend erscheint. Weil er den Träumen gegenüber jetzt aufmerksamer ist? Und er fragt sich: Kann etwa meine Aufmerksamkeit bewirkt haben, dass ich neuerdings anders träume?

Da war doch was. Das fällt ihm ein, immer wieder: dass da etwas ist, über das er unbedingt nachdenken muss. Schon gestern war es so gewesen, und vorgestern: Entweder fiel ihm ein, dass da was war – dann wurde er unterbrochen und dachte nicht mehr daran; oder er hatte Gelegenheit, sich zu konzentrieren – dann aber kam er nicht darauf, dass da was war.
Jetzt, da ihm gerade wieder eingefallen ist: Da war doch was, fragt schon wieder ein Fahrgast: „Keine Musik heute?“
Mann, Schell, reiss dich zusammen! Deine Kunden wollen das Retro-Taxi wegen der alten Musik … „Reggae gefällig?“ „Na klar!“ Als er dann aber hört, was er da eingeschoben hat, murmelt er: „Maxie Priest, also das geht ja heute gar nicht“, und er greift erneut in die Reggae-Abteilung … Sly & Robby, The Adventures of a Bullet. „Das geht.“

Seit er in Schells Bureau das Kapitel Dem Machtwort auf der Spur gelesen hatte, liess sich dieser Ort nicht mehr betreten. Zunächst hiess es jedesmal, wenn er oder Freund Manne es versuchten: Vorübergehend nicht verfügbar. Sie probierten es täglich, vergebens. Dann hiess es nur noch: Zugang verweigert. Sie probierten es weiter, und weiterhin vergebens. Und schliesslich kam der Tag, von dem an jedesmal, wenn sie Schells Bureau eingaben, der Bildschirm schwarz wurde und darauf die kleine Zeile erschien: Hier ist das Internet zuende.
„Soll wohl ein Witz sein“, hatte er zu Manne gesagt.
„Ein Witz ohne Pointe? Ist doch kein Witz.“
„Weil wir ihn noch nicht kapieren. Oder weil er sich erst noch zum Witz entwickeln muss.“
„Wir haben es also mit einem Witz-Potential zu tun.“
„Aber ob man darüber auch schon lachen darf? Das wäre ziemlich unvorsichtig.“
„Doch unwiderstehlich. Wir lachen einfach unter Vorbehalt.“
„Genau, mit einer Klausel, die besagt, dass das, worüber wir heute lachen, sich eventuell einmal als völlig unwitzig erweisen könnte.“
„Was unter vorausschauendes Bereuen vielleicht mal in die Geschichte der Psychologie eingeht.“
„Aber erst, wenn aus der Psychologiegeschichte die Geschichte des Karma-Bewusstseins geworden ist.“
„Och, Schell, damit machst du uns jetzt das ganze schöne Witz-Potential kaputt.“
„Nur so wird Platz fürs nächste.“
Als er jetzt an dieses Gespräch zurückdenkt, fällt ihm ein, von wem er das hatte, was ihm damals bezüglich Karma-Bewusstsein an Stelle von Psychologie herausgerutscht war, von Mahmoud nämlich. Denn er sitzt gerade an einem Taxistand vorm Hauptbahnhof in seinem Wagen und hat plötzlich diesen sehr sympathischen iranischen Facharzt für Nierenheilkunde vor sich: in der einen Hand die Reisetasche, die andere am Hut, damit der starke Wind ihn nicht davonbläst, im Laufschritt die Straße überquerend und so offensichtlich in höchster Eile, dass leider eine auch nur flüchtigste Begrüßung hier unangebracht wäre.
So ein begeisterter Mensch, denkt Schell, wie gern ich mich mit dem mal wieder unterhalten würde … Woher er wohl was über Karma weiss?
Dass dieser einzige aus Ingruns Freundeskreis, den Schell tatsächlich vermisst, ein Wiedersehen mit ihm vielleicht absichtlich vermeidet, weil er inzwischen Schells Stelle als Ingruns Liebhaber eingenommen hat, auf diese Idee wäre er von sich aus nie gekommen. Und als er es erfährt – kaum zehn Minuten später nämlich –, wird er finden, dass es ja nur für Mahmoud spricht, wenn der bisher die Begegnung mit ihm deshalb vermieden hatte, um ihnen beiden eine Peinlichkeit zu ersparen. So etwas kann Schell gut nachvollziehen; auch wenn er selbst gar nichts daran peinlich findet. In solcher Hinsicht ist er pragmatisch eingestellt: Sollte Mahmoud besser zu Ingrun passen als er, umso besser doch für alle Beteiligten. Wobei ihm eigentlich solche Ökonomie verdächtig ist und ihm auch nicht entgeht, dass er insgeheim sich selbst für diese Art emotionaler Logistik sogar ein wenig verachtet.

Der Wind ist heftiger geworden, rüttelt jetzt regelrecht an seinem Taxi und treibt etlichen Abfall durchs Bild, Pappbecher, Tüten, ganze Müllsäcke …
Jedenfalls hatte er noch über längere Zeit besagtes Weblog zu öffnen versucht und doch immer wieder nur gelesen, dass hier das Internet zuende sei; dann immer seltener; dann nur noch alle paar Wochen. Schliesslich hatte er gedacht: Das war’s wohl, der Spuk ist vorbei; und er war froh darum gewesen.
Doch wie oft er sich das auch gesagt hatte: Schliessen wir dieses verstörende Kapitel, das Ereignis sei Vergangenheit!, so oft war ihm seitdem auch in den kleinsten, alltäglichsten Bezügen immer wieder klar geworden, dass es ihn in Wahrheit vollkommen beherrscht; dass das Ereignis, dieses große unlösbare Rätsel, zum Epizentrum seines Daseins geworden ist.
Er hat die Unlösbarkeit zu akzeptieren gelernt, und für dieses Ergebnis – wie vorläufig es auch sein mag – ist er dankbar, ja hat dabei gar ein Gefühl von Glück gehabt.
Das Unerklärliche irgendwann unerklärlich sein zu lassen, ohne darüber in Gleichgültigkeit zu verfallen; der Unlösbarkeit sich zu ergeben, ohne seinen Verstand aufzugeben, vielmehr sich selbst als denkendem Wesen gegenüber Nachsicht zu üben, ja diesen Blickwinkel, diesen eigentlich unmöglichen, weil unablässig sich bewegenden Standpunkt zu finden, das heisst als solchen überhaupt zu erkennen, und ihn, da man ihn ständig verliert, immer wiederzufinden – wer das vielleicht für ein Geringes hält, könnte es auch für überspannt halten, dass Schell sich manches Mal sogar zusammenreissen muss, damit er sich vor Euphorie nicht selber gratuliert, das heisst der Eitelkeit nicht nachgibt und irrtümlich meint, es sei allein sein Verdienst gewesen, dass er nicht den Verstand verloren hat; dass er so gut wie heil geblieben ist und sich nach alledem, ein wenig überspitzt gesagt, selber überhaupt noch wiedererkennt.
Denn das gründet sich ihm fortan unwiderleglich auf Erfahrung: Dass er, anders als er bisher gedacht hatte, gar nicht allein da draussen ist – mit da draussen meint er alles, was nicht er selbst ist, das ganze Universum –; vielmehr dass da Geist ist, guter Geist, aber auch nicht so guter, und auch unguter Geist – Geist jedenfalls, in dem und durch den er überhaupt existiert. Wenn er sich diese Einsicht auch immer wieder aufs neue vergegenwärtigen muss – da war doch was –, weil er sie immer wieder vergisst – zu groß ist sie für sein Alltagsbewusstsein –: dieses Hin und Her zwischen Erinnern und Vergessen gehört wohl, notwendig vielleicht, wie er sich sagt, zu den Bedingungen des Daseins.
Und dass sich nun auch die „Realität“ als ganz anders erweist, als er immer dachte – aber wie denn hatte er sie sich vorher eigentlich gedacht? Und wie denn, fragt er sich, denke ich sie mir jetzt? Und er horcht ganz genau hin und stellt verwundert fest – und zwar verwundert eigentlich nur aus alter Gewohnheit –: Der Gedanke Realität, in Ruhe gelassen so wie er ist, löst das in mir aus, was mir doch inzwischen längst vertraut ist als – da war doch – nein, da ist doch was. Raum der Vorstellung? Oder Raum in der Vorstellung? Vorgestellter Raum?
Hiermit ist Schell in seinem sogenannten Tautoloid, dem Ort im Raum, der zum Raum wird, in dem Orte sind. Wo der Raum, denkt er, den ich mir vorstelle, zum Raum der Vorstellung wird. Nenn es doch einfach: Stille.
Und jetzt ist er müde, sehr müde.
Er denkt: Säße ich in einem Zug und hätte einen Hut auf, würde ich mich nun zurücklehnen, mir diesen Hut über die Augen schieben und ein wenig ausruhen … Und als ihm einfällt, woher ihm gerade dieses Bild kommt, überfliegt ein Lächeln sein erschlafftes Gesicht.
Da pocht es auf der Beifahrerseite an die Scheibe und der schlanke, elegant gekleidete Herr mit dem schwarzen Schnurrbart, der da, seinen Hut in der Hand, mit zerzaustem Haar, fragend zu ihm hereinschaut, ist – Mahmoud.
Schell klopft auf den Beifahrersitz.
„Ich sah dich eben lächeln“, sagt der sympathische Nierenheilkundler, als sie sich erfreut die Hände schütteln, und mit Blick auf den Cassettenrecorder: „Vielleicht weil das grandiose Pathos von Mr. Ferry so hervorragend zu diesem Wetter passt?“
Schell drückt die Aus-Taste. „Eigentlich geht mir Roxy Music schon fast wieder auf die Nerven. Da aber alternativ gerade nur John Coltrane infrage käme … Nein. Worüber ich lächeln musste, war diese Stelle bei Proust: Wie Swann da das Vergehen seiner Liebe zu Odette erlebt; es bedauert, dass mal wieder die Wirklichkeit anders ist als er sie gern hätte; dass er auf das nicht mehr vorhandene Gefühl nicht genussvoll wehmütig zurückblicken kann wie ein Reisender vom Zug aus auf eine entschwindende Landschaft – wie aber der Autor, Proust selbst, genau das eben vermag, und sich sogar, in der Gestalt von Swann, und ach so müde als solcher, einen Hut über die Augen schieben kann, um sich bei einem Nickerchen in der imaginären Eisenbahn von den Anstrengungen des Beschreibens zu erholen.“
Mahmoud seufzt. „Unser Proust, o ja … Hat uns je einer die Komödie des Leidens so fein, so schön serviert? Jedenfalls habe ich mich völlig umsonst abgehetzt, mein Zug kommt, wenn überhaupt heute noch, mit Riesenverspätung, wegen Sturmschäden, und damit brauche ich gar nicht erst loszufahren; was für die Kollegen auf dem Kongress den großen Vorteil hat, dass mein Vortrag einfach ausfallen wird, und für mich, dass ich unverhofft zu etwas Freizeit komme.“
„Ist erst zehn Minuten her, da dachte ich, wie gern ich mich doch mit dem Mahmoud mal wieder unterhalten würde.“
„Das freut mich! Übrigens, die Nummer, die ich von dir habe …“
„Ist genauso falsch wie die, die ich von dir habe. Dacht ich mir schon, dass sie uns verarscht hat. Du glaubst mir nicht – verstehe. Warte – hier: das ist die Nummer, die sie mir gegeben hat, angeblich deine. Und die vergleiche mal mit der von mir, die du von ihr bekommen hast.“
Mahmoud, als er tat wie ihm geheissen, staunte: „Dieselbe. Das heisst … Sie hat sich vertan!“
„Jaja. Und dass die Kartons mit meinen Sachen bei dir deponiert sind, stimmt das etwa?“
„Äh, bei mir? Da ist nur immer noch das Büchlein, das du mir mal geliehen hast.“
„Ach ja, das von Cusanus, Von der wissenden Unwissenheit. Wieso gerade das?“
„Wir hatten’s damals vom Turing-Test. Wie man aus Texten herauslesen kann, ob sich da jeweils wirklich Geist oder nur simulierter Geist ausdrückt. Du kamst mit dem Beispiel, wie besonders angenehm der Geist sich zeigt, wenn er bei einem Denker wie Cusanus in Erscheinung tritt. Und du hattest recht, kann ich nur sagen. Selten dass ich etwas zweimal lese, dieses aber über die wissende Unwissenheit hatte ich schon dreimal mit im Urlaub.“
„Dann ist wenigstens dies eine meiner Bücher nicht verloren. Behalte es.“
Mahmoud streicht sich nachdenklich den Schurrbart. „Ingrun hat tatsächlich behauptet, deine Sachen seien bei mir deponiert?“
„Tja. Was erwarten wir von einer Person, die einerseits ein Schweinegeld mit Image-Beratung macht, sich andererseits mit gender studies profiliert und drittens extra nach Vancouver fliegt, um Eckart Tolle zu sehen? Ich meine, es dürfte doch für so jemanden völlig normal sein, zwei Deppen wie uns just for fun einen Scheiss zu erzählen.“
Da lacht Mahmoud. „Ein bisschen Groll ist da nicht ganz zu überhören.“ Dann wieder ernst, und sichtlich verlegen: „An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass, äh, Ingrun und ich …“
Schell glotzt ihn an. „Du? Mit Ingrun?“
„Ich sehe, jetzt rattert’s bei dir – hey, lohnt nicht; als es funkte zwischen ihr und mir, ward ihr schon längst nicht mehr zusammen.“
„Na schön, aber bei euch? – ist es noch nicht – vorbei?“
„Wie? O nein! Wir überlegen im Gegenteil sogar –“
„Zu heiraten! Das kenne ich! – Mann, Mahmoud, lieber Freund, du bist doch klug!“
„Danke. Du doch aber auch – nur kannst auch du nicht immer völlig objektiv sein.“
„Hm, hast recht, ich muss die Klappe halten. Nur überlege es dir bitte gut. Dass Ingrun power hat, weisst du – aber dass sie auch Nachtwandlerin ist? Du kannst nie wissen, ob sie gerade wach ist oder träumt.“
„Nun hör aber auf! Das ist Manipulation.“
„Zum Glück bist du Arzt, das wird den Notfall dann hoffentlich etwas abfedern.“
Worauf Mahmoud kichert, die Play-Taste drückt, sodass Bryan Ferry weitersingen kann, und befiehlt: „Bring uns hier raus. Kurs auf einen Laden, in dem wir anständig zu Mittag essen können.“

Schell hatte Uschi angerufen und gemeldet, es flögen inzwischen beträchtlich große Dinge durch die Gegend, auch Baumkronen zum Beispiel, daher habe er den guten alten Daimler in einem Parkhaus untergebracht und sich in ein Restaurant zurückgezogen.
Mahmoud kommt wieder auf Ingrun zu sprechen. „Das mit Vancouver, ist das wahr?“
„Na klar. Sie wollte unbedingt Herrn Eckart Tolle exklusiv. Klappte natürlich nicht; man braucht ihm ja nur zuzuhören, oder ihn zu lesen. Aber tatsächlich machte sie ihn quasi für den Fehlschlag verantwortlich; und fortan war er für sie gestorben.“
Mahmoud’s Versuch, das amüsant zu finden, fällt wenig überzeugend aus. „Ich denke, du übertreibst. Weil du noch immer sauer auf sie bist. Verständlich, da du glaubst, dass sie deine Sachen einfach hat verschwinden lassen.“
„Glaub ich nicht nur – hat sie. Aber deswegen grolle ich ihr gar nicht, bin ja sogar dankbar, den ganzen Krempel los zu sein. Höchstens vermisse ich mal das eine oder andere Buch, auch das ist aber halb so wild; was ich in meinem Gedächtnis nicht wiederfinde, war für mich wahrscheinlich sowieso nicht wichtig.“
„Aber sicher liest du noch. Wo bist du da gerade?“
„Bei Schelling. Lese zur Zeit nur noch in der Bibliothek. Ach ja, und suche gerade eine Reiselektüre. Freunde von mir finden, ich sei gestresst; von was, ist eine lange Geschichte, erspar ich uns lieber; ich müsse jedenfalls unbedingt mal ausspannen, verreisen; Problem ist: Wohin?“
„Das ist natürlich schwierig. Aber macht Spaß, hoffe ich doch.“
„Das Ziel richtet sich ganz nach der gesuchten Lektüre, diese jedoch hängt vom Ziel der Reise ab – komisch ist das irgendwie.“
„Wenn ich das auf Diagnose und Therapie übertragen würde, o je …“
Sie denken kurz darüber nach; schütteln dann beide den Kopf, und Mahmoud sagt: „Die Welt wäre eine völlig andere.“
„Man würde unsere Organe unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachten, die Nieren zum Beispiel … Gibt’s da übrigens irgendwas neues?“
„Darüber würde ich heute Nachmittag in Berlin sprechen, wenn ich jetzt im Intercity säße. Wie brennend interessiert dich, was an Rückschlüssen die klinische Forschung zur Zeit über das Treiben gewisser Moleküle zulässt?“
„Was an der Nierenforschung fürs Big Picture relevant ist, interessiert mich allemal, schliesslich trage ich selber ein Paar dieser Wunderwerke im Leib. Das heisst, was den Aspekt Mikrokosmos/Makrokosmos angeht – und der scheint mir doch gerade in puncto Medizin der wesentlichste zu sein –, Nierchen hier drinnen, Planeten da draussen –“
„Ach, Schell, du weisst genau, besonders dafür haben wir in der Uniklinik gar keine Zeit. Aber natürlich darfst du mich gern provozieren.“
„Du hast nur keine Lust, einen Laien ausserhalb der Sprechzeiten nephrologisch aufzuklären.“
„Oder bin jetzt dazu nicht in der Lage. Weil ich gerade nicht ganz bei der Sache bin. Weil ich mich frage, was ich da an dir wahrnehme – ich meine, Stress ist nicht das richtige Wort; eine lange Geschichte, sagtest du.“
Schell schaut aus dem Fenster. Das Restaurant ist voll besetzt und alle schauen hinaus. Der Sturm erzeugt ungeahnten Lärm, heult, braust, pfeift und lässt es krachen, und die Sirenen von Feuerwehr- und Rettungswägen schwellen unablässig an und ab.
„Und in wiefern Ingrun was damit zu tun hat, frag ich mich“, fährt Mahmoud fort.
Schell nickt gen Fenster. „Damit? Sie mag wohl mächtig sein, aber dass sie auch das Wetter so krass beeinflussen kann, glaube ich nicht.“
„Dass du wie eh und je zum Scherzen aufgelegt bist, beruhigt mich. Doch dass du kein anderes Problem hast als Wohin-in-Urlaub, das nehme ich dir nicht ab. Vielmehr möchte jetzt der Nephrologe gerne wissen, was dir tatsächlich so an die Nieren geht.“
Unmöglich. Wie das mal kurz erzählen? „Kennst du das Gefühl, gleich kommt’s? Ich meine, immerzu, ohne aber dass es dann kommt?“
„Du sprichst von der Erkenntnis.“
„Von der, genau. Nicht von irgendeiner, sondern von der für mich einzig wahrhaft wichtigen. Der Erkenntnis, was tatsächlich real ist.“
„Aber sie kommt nicht …“
„Doch. Sie kommt und kommt und kommt.“
„Hört nicht auf zu kommen … Au weia.“
Schell bemerkt da ein Vibrieren; holt das Handy aus der Hosentasche – kurze Nachricht von Frau Doktor: 17 Uhr, heute.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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