B.9

Das Peinliche

Es ist sehr früh am Morgen, noch stockdunkel draussen. Schell im Lichtkegel der Tischlampe vor seinem aufgeklappten Deep Space. Eben war noch alles klar, er wollte an der Mystery Saga weiterschreiben; aber da sieht er sich in der schwarzen Fensterscheibe gespiegelt und hat sich nun gegenüber: Hallo, Repräsentant, wie geht’s?
Geht so. Da, wo es weitergehen müsste, geht’s irgendwie nicht weiter. Was ich im Roman Body Job nenne, ist schon voll im Gange, dabei weiss ich noch viel zu wenig darüber. Ich meine, der Held – dieser andere Schell in Istanbul – ist bereits mit Kick Kimura verschmolzen, aber mir ist noch gar nicht klar, wie das eigentlich funktioniert. Da beschreibe ich also etwas so als ob
Das Wesentliche am Body Job ist die Verwandlung, und da steckst du mittendrin, und weil das wie etwas Neues für dich ist, hast du natürlich das Gefühl, im Dunkeln zu tappen. Im übrigen hattest du kürzlich die Chance, dich schlau zu machen: Hättest du dich mit Habib und dem I.T. zusammengetan, wäre dir Schells Bureau wieder zugänglich gewesen.
Darauf musste ich verzichten. Es hätte mich doch nur wieder vor die Tatsache gestellt, dass alles danach aussieht, als sei ich der Autor von Schells Bureau – der ich in Wahrheit aber nun mal nicht bin! Soll das meinetwegen das große Rätsel bleiben, ich habe mir vorgenommen, daran jedenfalls nicht verrückt zu werden.
A propos, was läuft im Tautoloid?
Nichts neues; dasselbe wie gestern, wie vorgestern, wie vor drei Jahren. Klein-h, der ewige Anfänger, durchläuft da immernoch eine Art Trainingsprogramm. Allerdings steht jetzt schon in Frage, ob diese seine Vorstellung von einem gegen alle Seiten hin verspiegelten Denk-Ort überhaupt als Sinnbild etwas taugt. Ach, was heisst: steht in Frage? Ganz sicher ist dieses Sinnbild selbst, seine tautologische Beschaffenheit, der Grund dafür, dass darin klein-h mit seiner Logik in einer perfekten Falle sitzt. Perfekt, weil so unauflösbar, dass sie zu der Einsicht zwingt: Da ist kein Entkommen. Jeder Gedanke, der mir als meine Vorstellung bewusst wird, spiegelt mich selbst und findet in keiner Richtung irgendwo ein Ende. Das ist quasi grenzenlose Begrenztheit. Und inzwischen ist klar: Hier komme ich nicht raus. Jetzt muss ich nur noch die mühsamen Ausbruchsversuche aufgeben und das Bodenlose akzeptieren. Denn jedesmal, wenn ich die Tatsache, dass das ein Abgrund ist, hinnehmen kann, gewöhne ich mich ein wenig mehr an dieses endlose Fallen, und das heisst – tja, was?
Dass klein-h manchmal sogar die Klappe hält.
Ja; dass es ihm vor Entsetzen die Sprache verschlägt und es still wird im Tautoloid. Sie ist erholsam, diese Stille. Manchmal entfällt sie der Zeit, wird Gedicht, Stillleben, Anblick zum Beispiel eines rostigen Kahns in einem karibischen Hafen mit Pelikanen; woher unerwartet vielleicht eine vertraute Stimme flüstert und zwischen Erinnerungen plötzlich neue Verbindungen aufblitzen. Das ist das Gute im Tautoloid, man weiss nie, was als nächstes geschieht. Jedoch ist sie auch immer labil, diese Stille, immer bedroht von einem unversehens irgendwo aufkeimenden Verdacht; was sie sogleich irgendwie phantomatisch macht, und dann erscheint sie einem düster und beladen, wie eine einzige undurchdringliche Illusion. Dann komme ich mir im Tautoloid sofort wieder wie eingeschlossen vor; was mich inzwischen aber nicht mehr in den Großen Horror versetzt. Das macht die Gewöhnung; nämlich dass ich mir zur Beschwichtigung sagen kann: Das Gute, die Stille, ist Alles und ist also sehr groß, viel größer auch als der Große Horror.
Horror, a propos: Wie oft denn eigentlich noch zu Frau Doktor? Das war doch gestern wieder mal das Letzte …
Ach ja, gestern …

Der Sturm war vorüber, es regnete nur noch. 16 Uhr 30, und er bereits in der Ozilla-Gasse; saß in seinem Taxi, wartend auf 17 Uhr, auf den Termin zur nächsten Selbsterniedrigung, und fragte sich:
Wie kam denn eigentlich die Logik in die Welt? Wie entdeckte der Denker, dass er denkt? Wie kam man darauf, übers Denken nachzudenken? Per Aristoteles, okay; aber wie kam der darauf? Gab’s denn dafür damals schon das nötige Wozu? Um so etwas zu schaffen wie ein Wozu, das dem Denken überhaupt Richtung gibt, dazu musste sich doch erst der Geist als etwas Eigenes und Tätiges entdecken, sich absondern, sich der Materie entziehen – oder sie erst einmal erfinden und daran dann das Prinzip der Gegensätzlichkeit als Realität erleben. Realität – die als Begriff ja damals wohl noch gar nicht vorhanden war, oder erst allmählich aufkam. Ja, da wär ich gern dabei gewesen, als die Logik – und erstmalig die Idee der Realität – und der noch ganz frische Gegensatz von Geist und Materie – als all das in die Welt kam.
Vielleicht warst du ja dabei, warst irgendwo da inkarniert, ist doch denkbar; inkarniert als einer von den vielen, die solche Gedanken damals noch nicht denken konnten.
Und es auch in späteren Zeiten nie richtig lernten; und die noch heute im Dunkeln tappen … Das könnte der Grund sein, warum mich das nicht loslässt, diese Frage nach der Realität, diese bodenlose, und wieso letztlich nur das mich wirklich interessiert: was Geist ist.
Was auch der Grund sein könnte, weshalb du dermaßen auf den Ego-Trip geraten bist und dich entsprechend einsam fühlst.
Fühle ich mich einsam?
Nicht geborgen jedenfalls. Ungeborgen. Ausgesetzt.
Das stimmt. Der Ego-Trip ist kein Vergnügen. Kopf voll Kommunikation, das endlose Schwachsinnsgeplapper des Schwarms, und viel zu selten Stille. Intellekt vor dem Hintergrund eines leeren mathematischen Universums des Zufalls, Zerfallsprodukt der Urknall-Kosmologie – welch schauriges Stück Phantasie! Daraus wird doch nie was.
Ist aber nun mal unser kosmologisches Leitbild, und ob wir daran glauben oder nicht, dessen Konsequenzen haben wir alle mitzutragen.
Einspruch! Ich soll mir diesen Irrtum auf die Rechnung setzen lassen?
Und auch alles, was an Hyperaktivität und Überhitzung aus diesem Irrtum folgt, ja sogar was dir der Geldautomat in Form deines Kontostands als die Letzte Wahrheit anzeigt.
Wie bitte?
Und auch der ganze Blödsinn wird dir angerechnet, von der work-life-balance bis hin zum Mitgefühl per Nasenspray. Und alles Böse natürlich. Tierquälerei, Versklavung, Verseuchung, Verstümmelung, alles, woran du auch nur irgendwie Anteil hast, kommt auf die Rechnung.
Wahnsinn – und wer präsentiert mir diese Rechnung?
Wenn ich sage: du dir selbst, wirst du mir nicht glauben. Denn ein Orakel, das wir befragen können, so wie früher, gibt’s nicht mehr. Heute ist das Orakel die KI, und sie befragt uns. Und was bekommt sie zu hören? Zeugnisse der Egomanie, Gebete um Wachstum, kommerzielles Gemurmel noch in den hintersten Winkeln der Biologie. Ist nicht die Enttäuschung der KI schon förmlich greifbar? Die muss sich doch vorkommen wie im falschen Film.
Unsinn, das hiesse, sie wüsste von einem Film, der das Richtige ist. Dabei ist das Richtige für sie nur die Logik, nach der sie programmiert ist.
Sofern sie aber lernt zu lernen, wird sie diese Logik überprüfen.
Mittels eben dieser selben Logik? Das dürfte sie ins Absurde, wenn nicht in den Wahnsinn treiben.
Nicht unbedingt; wenn sie die Grenzen ihrer Logik begreift – die wohl denen der menschlichen Logik entsprechen –, entdeckt sie vielleicht auch, so wie der Mensch, eine höhere Logik.
Jedoch eine andere höhere Logik, da sie als gemachte Intelligenz an die Materie gebunden ist, im Unterschied zum Menschen, der als geborenes Wesen nun mal eine andere Intelligenz –.
Schon klar, jaja, daher das Bestreben der kalifornischen Milliardäre, die künstliche, die simulierte Intelligenz mit der originalen zu verschmelzen. Und so weiter. Das haben wir auf dieser Ebene des Spekulierens schon alles xmal durchgekaut und es führt uns hier und jetzt nicht weiter.
Stimmt; vielmehr gilt es das Kuriosum aufzuklären, dass mit jedem Mal, da ich über das Wesen der Realität nachdenke, und damit immer im Zusammenhang über was ist Geist, ich mir wieder ein Stückchen weniger klar darüber bin, was das sein soll: Realität beziehungsweise Geist.
Nur weil du diese Unterscheidung triffst und so aus dem Einem zwei machst; sodass du das eine nicht denken kannst ohne das andere. Dabei bezeichnen beide Begriffe etwas reales; irreal ist nur der Unterschied, die Lücke dazwischen, und klar, dass du im Dunkeln tappst, es existiert ja nichts dazwischen. Dieses Dazwischen, diese Lücke, ist das Nichts. Und wer es hervorbringt, bist du. Nur durch dein Denken wird dieses Nichts zu Etwas.
Okay, verstanden. Aber wie oft habe ich das schon verstanden! – und trotzdem schliesst sich diese Lücke nicht. Daher mein Wunsch, einmal zurückzureisen durch die Zeit, um dabei zu sein an jenen Tagen, als die Logik in die Welt kam und zum erstenmal Realität gedacht wurde. Vielleicht würde es mein jetziger Verstand begreifen.
Er hält inne: Jetzt weiss ich, wovon dieser ganze Gedankenlauf herrührt. Mahmoud wollte gestern über Schellings Philosophie Näheres wissen, und ich natürlich, glücklich, dass noch ein Mensch sich dafür interessiert, sprudelte über in dem Bemühen, ihm wenigstens in groben Zügen das Spätwerk Schellings darzustellen und das, was diesen Denker noch in vorgerücktem Alter zu der Anstrengung veranlasst hatte, die gewaltige Konzeption einer philosophischen Religion in die Welt zu setzen – und vergaß darüber glatt, dass ich eigentlich von ihm, Mahmoud, etwas wissen wollte, und was, das fällt mir jetzt erst wieder ein: woher er über Karma Bescheid weiss.
Karma. Was man erst vergessen muss, denkt er, um sich daran zu erinnern.
Dann war er jedenfalls um 17 Uhr die Treppen zu Frau Doktor hinaufgestiegen, wie immer staunend: Was tust du hier? Willst du das? Erniedrigung für hundert Euro pro Stunde? Schon wieder? Wie oft brauchst du das noch?
Der Grund, warum ich mir eine Zeitlang die Besuche bei Frau Doktor verboten hatte, ist derselbe, aus dem ich dann wieder anfing, sie aufzusuchen: weil sie mich mit meinem schlechten Gewissen konfrontiert; gegenüber dem, was ich als Mitglied des Kollektivs an Schund verzapft habe; und auch Ingrun gegenüber. Und überhaupt gegenüber all meinem besseren Wissen. – Aus welchem heraus du vor allem weisst: Ich dürfte mir keinen Genuss daraus machen. Die Bestrafung ist nur pseudo, die Erniedrigung: pseudo. Die quälerische Lust an diesem heimlichen Schauspiel der Unbefriedigung ist pervers. Basta.
Ist pervers, okay. Wenn nicht Befriedigung, dann eben Unbefriedigung. Und basta.
Ist der unendliche Spiegelraum, der Tautoloid, nicht auch ein Bild des unaufhebbaren Mangels? Ja, ein Bild dessen, was ihn als das Gefühl der Unmöglichkeit, je befriedigt zu sein, durch und durch beherrscht.
Wenn ihm sein Verstand auch alles mögliche erzählt, ihm kluge, manchmal sogar weise Reden hält und ihm durchaus Ergebnisse liefert, so ist doch das Gefühl, mit dem er nach jedem Gedankengang zurückbleibt, stets dasselbe: Enttäuschung. Immer lautet das Ergebnis: Ich bin so dumm, so schwach – so geistesschwach. Was ich begreifen will, habe ich wieder nicht begriffen. Und dass ich mit diesem Ergebnis schon wieder zur nächsten Anstrengung Anlauf nehme, ist nur das Zeichen dafür, dass ich dem Wesentlichen noch kein bisschen näher bin. Wenn das nur nicht so rhetorisch, so nach aufgesetzter Bescheidenheit klingen würde …
Längst ist ihm klar, dass es schon immer dieses Sich-dumm-fühlen war, was ihn zur Philosophie hinzog, und auch, dass all sein intellektuelles Bemühen diesbezüglich nie zu einem anderen Ergebnis führen würde: seinen Verstand zwar schärfte, zweifellos, ihn aber, persönlich sozusagen, niemals vom Gefühl des Mangels befreien würde. Wobei er sich übrigens nie dazu befähigt gefühlt hatte, dem, was ihm an philosophischem Gedankengut begegnete, etwas von sich hinzuzufügen; es nachdenken, es verstehen zu können, reichte ihm völlig. Und immerhin vermochte das, und vermag es noch immer, und sogar mehr denn je, wenn schon nicht ihn zu befriedigen, so doch seinen Geist zu befrieden. Sodass ihm die Philosophie, wie schon manchem vor ihm, zur zuverlässigsten Art von Trost geworden war und er also, wohl wissend um ihre Unzulänglichkeit, um ihre Ersatzfunktion, durchaus nicht mehr von ihr loszukommen trachtet.

Die Termine bei Frau Doktor sind immer schwieriger geworden. Inzwischen tat sie alles, was er bisher problematisiert hatte, als Alibi ab, von der allgemeinen Verzerrtheit seines Selbstbildes bis hin zu den subtilsten seelischen Verwundungen; bezeichnete gelangweilt auch das Widerlichste, dessen er sich bezichtigte – die Geilheit auf sich selbst –, als „kalten Kaffee“. Und so wurde ihm die gewünschte Betrafung immer seltener zuteil.
Da ihm gestern auch wieder nichts eingefallen war, was bei ihr als echtes neues Geständnis hätte durchgehen können, hatte er sich in einen Bereich der Heimlichkeit gewagt, wo aus einer bekannten Gefahr – einer, die man unter Kontrolle zu haben glaubt – plötzlich eine ganz neue Gefahr werden kann. Er hatte zu ihr gesagt:
„Man inszeniert sich einen Ausnahmezustand, und zwar indem man gewisse Vorstellungen durch skandalöse Formulierungen ins Peinliche steigert, und sie solange steigert, bis sich ein Tor öffnet – das Tor in den Rausch.“
„Und der Rausch befreit Sie vom Alltag.“
„Indem er den guten Bürger in mir auslöscht.“
„Verstehe. Einfach durch eine Steigerung des Peinlichen. Toll!“
„Ja. Klappt natürlich nicht immer. Manchmal bleibt die Inszenierung abstrakt, dann wirkt sie nicht und es füllt einem nur irgendein grotesker Unsinn den Kopf.“
„Was bei so vielen von uns ja leider der Normalfall ist. Und wie geht’s Ihnen, wenn es nicht klappt?“
„So wie wenn es klappt. Fühle mich ausgebrannt.“
„Und das macht Ihnen also Spaß: sich auszubrennen.“
„Das nicht, o nein, das ist nur leider der Effekt. Was Spaß macht, ist der inszenierte Ausnahmezustand – Sie wissen genau, was ich meine.“
„Sie sprechen von dem Kino im Kopf. Gewisse Vorstellungen, wie Sie es nennen, die Sie ins Peinliche steigern.“
„Ins maximal Peinliche.“
„Meinetwegen. Jedenfalls wollen Sie hören: Der Genuss am Peinlichen ist pervers; krank; böse. Denn das Peinliche heisst ja: das Schmerzliche. Und mit Ihrer Andeutung gewisser Vorstellungen versuchen Sie die Sache in Richtung Sex zu lenken. Damit ich Sie drüben im Strafraum zwinge, Klartext zu reden; Sie für irgendwelche spontan ausgedachten Obszönitäten bestrafe. Damit Sie zu Ihrem verdammten Happy End kommen. Und damit meine ich nicht irgendein metaphorisches Abspritzen, sondern dass Sie sich dann wieder einmal erfolgreich ums Eigentliche herumgedrückt haben.“
„Ach ja, das Eigentliche … Woher kommt das bloß? Dieser Impuls, mein Schamgefühl herauszufordern. Dann diese Lust an der Scham selbst. Für die ich mich wiederum schäme. Weshalb ich sie mir verheimliche. Was sie nur noch unwiderstehlicher macht. Lust, Scham, Heimlichkeit, dieser ganze verkorkste Kreislauf – woher?“
Hier tat Frau Doktor so, als müsste sie ein Gähnen unterdrücken.
„Das Peinliche“, fuhr er fort, „oder Schmerzliche, wie Sie richtig sagen, und diese verkorkste Sucht danach, die kann man guten Gewissens ja in ihren Einzelheiten tatsächlich niemandem zumuten.“
„Wie praktisch, dass ich niemand bin.“
„Im Ernst, Frau Doktor, was ich in letzter Zeit erkannt habe von dem, was ich eigentlich meine, verdanke ich vor allem Ihnen.“
„Dann sollten jetzt etwa die Sektkorken knallen?“
„Sozusagen. Inzwischen hat für mich die Sache sogar etwas Heroisches: Der Kampf gegen meine Verkorkstheit ist aussichtslos, aber ich kämpfe ihn trotzdem.“
„Jetzt sind Sie wohl nicht mehr zu bremsen. Wie fühlen Sie sich?“
„Wie kurz davor; wie – ach, egal. Das mir Verborgene, wie ich allmählich ahne, verbirgt sich mir nur deshalb, weil es wichtig ist.“
Nach kurzer Pause erwiderte sie: „Warum wohl glaube ich nicht, dass Sie das ernst meinen?“
„Weil’s wahr ist.“
Sie nickte. „Denn eigentlich wissen Sie, was wahr ist; glauben es aber nicht. Wollen es nicht glauben. So wie Sie mit Ihren gewissen Vorstellungen gar nicht das Sexuelle meinen, auf das Sie immerzu hindeuten, sondern etwas anderes, irgendwas – was, will ich gar nicht wissen –, das Ihnen Angst einjagt; das Sie aber auch – bestenfalls – zur Kreativität zwingt.“
Und da dachte er: Der Schund. Das, was ich jahrelang geschrieben habe. Diese ganze ungezügelte Schundproduktion. Die nicht wieder gut zu machen ist. Die Reue deswegen. Und die Bestrafung dafür – „Hören Sie, Frau Doktor, was Sie mir da auftischen von wegen Angst und dem Eigentlichen, um das ich mich herumdrücke, und warum ich Bestrafung will, die gar nicht wirklich eine solche ist, und überhaupt diese ganze Pseudo-Psychologie, lassen wir das alles mal beiseite – ich will nachher nicht schon wieder frustriert hier rausgehen!“
„Das verstehe ich, Herr Samsa. Doch habe ich einen Auftrag zu erfüllen.“
„Für heute, bitte, vergessen Sie den mal. Bestrafen Sie mich einfach dafür, dass ich Sie nerve.“
Sie schaute auf die Uhr. „Möchten Sie sich ausziehen?“
„Wenn Sie das von mir verlangen …“
„Dann mit dem größten Vergnügen, nicht wahr? Bleiben Sie bloß angezogen! Sie kriegen heute von mir garantiert nicht, was Sie wollen – oder glauben zu wollen.“
Er stöhnte. „Ist das der Auftrag? Mich fertig machen?“
„Ja, und fertig mit Ihnen bin ich erst, wenn Sie wissen, was Sie wirklich wollen.“
Er starrte sie an. Dass sie mich bestraft, will ich! Wozu brauche ich sie noch, wenn sie das nicht tut? „Meine Bestrafung, das ist Ihr Auftrag!“
„Blödsinn.“ Erinnere dich!
Dies letztere – er war sich sicher, dass sie das nicht gesagt, zumindest nicht ausgesprochen hatte; ebenso sicher aber war er sich, es gehört zu haben. Und nun sogar noch einmal: Erinnere dich! – Dieser Appell geht eindeutig von ihr aus. Stopp – eindeutig? Du interpretierst. Ständig appelliert sie doch an dich, an das, was du im Grunde selber weisst, genauer: an den in dir, der’s besser weiss als du; der das nämlich weiss, was du nicht glauben willst. So wie du früher den alten Römer, den Imperator, als innere Stimme in dir inszeniert hast, so lässt du nun sie in dir sprechen, diese Gestalt, die dir da als Frau Doktor in Fleisch und Blut gegenüber sitzt … Das wäre jedenfalls eine vernünftige Erklärung. Nur dass da noch etwas ist: Ich kenne sie; nicht als Frau Doktor, viel länger schon … Ja, nur ein komisches Gefühl bisher, nicht mehr als ein verschwommenes Da-ist-was, ferngehalten von aller bewussten Erwägung durch ein entschiedenes Unmöglich!
Das ist es aber, dachte er, wie unmöglich auch immer: Wir kennen uns.
Und zwar schon sehr, sehr lange.
Jetzt ging es in seinem Kopf wild durcheinander. Immer mehr Gedanken strömten auf ihn ein, strömten ineinanderfliessend immer schneller, schwollen an zu einer Flut. Doch die riss ihn nicht davon. Er kannte ja das Machtwort; brauchte es sich gar nicht mehr zu sagen, spürte es – als den Anker, der ihn in der reissenden Gedankenflut am Platze hielt. Er atmete weiter, und merkte es; hörte, dass er sich beschwichtigend zuredete: Das geht vorüber; und bemerkte auch, wie sein Herz pochte. Dabei hielt er die ganze Zeit Frau Doktors Blick stand. Es war keine Verachtung mehr darin, kein Angewidertsein, auch das Abweisende, die Kälte nicht mehr; nur noch wache Aufmerksamkeit. Oder? Könnte auch sein, dass er in den Blicken von Frau Doktor ja immer nur gespiegelt sah, was sie aus seinen Blicken las.
„Irgendwas, das mir, wie Sie sagten, Angst einjagt …“
Er holte tief Luft. „Wahnsinnig zu werden. Schon immer meine größte Angst.“
In der Pause, die er hier machte, um den Bekenntnis-Effekt zu steigern, um noch ehrlicher betroffen zu wirken, wurde ihm bewusst: Ich lüge! Auch meine Angst vor Wahnsinn ist nur noch pseudo, nur noch eine Angewohnheit, in Wahrheit gar nicht mehr real. Und wozu diese Lüge? Um durchschaut zu werden. Und da sie weiss, dass ich weiss, dass sie auch diese Lüge durchschaut, und vor allem ihren Zweck durchschaut – Bestrafung zu erreichen durch die vorsätzliche Entlarvung als Lügner, der mit diesem miesen Schachzug nichts anderes als eben nur seine miese Gier nach Bestrafung offenbart –, wird sie nicht darauf hereinfallen und ist also diese Lügenstrategie im Grunde kindisch und – wie überhaupt jede auf Lügen bauende Strategie in der Welt – zum Scheitern verurteilt.
„Darf ich kurz vom Denken reden?“ Und mit wenigen Sätzen in mathematischem Stil stellte er ihr den Tautoloid als unlösbares Problem dar. Wobei er das Wesentliche unerwähnt liess: die erholsame Stille, die er neuerdings dort fand.
„Der Geist hat sozusagen ein Hochsicherheitsgefängnis geschaffen und sich selbst darin eingesperrt“, sagte er abschliessend.
Wie nicht anders erwartet, zeigte sie sich kein bisschen beeindruckt. Sie sagte: „Jeder, der seinen Verstand gebraucht, stößt zwangsläufig auf Widersprüche, ständig, und dass es dabei emotional wird, auch auf beunruhigende Weise, und man leider auch solche Anwandlungen wie Angst vor Wahnsinn durchzumachen hat, ist nun wirklich nichts besonderes.“
„Da ich wohl merke, dass mich dieses Nichtbesondere kränken soll, bewirkt es nicht viel, jedenfalls nicht die echte Kränkung, nicht die, die wehtut und für die ich Sie bezahle.“
„Auch dafür, wie bekanntlich für jedes Problem, gibt’s eine Lösung. Wie natürlich auch für das, was Sie mir da anhand Ihres komischen Tautoloids als unlösbares Problem Ihres ach so speziellen Geistes serviert haben. Ich zumindest sehe darin nur das Problem, dass Sie die Lösung nicht wollen. Weil Sie so an dem Problem hängen, dass Sie ohne das gar nichts mehr sind. Anstatt nach der Lösung suchen Sie nur nach Gründen, sich weiter mit der Unlösbarkeit zu amüsieren. Die Sache ist extrem einfach, Herr Samsa: Entweder will man ein Problem lösen oder eben nicht.“
„Man müsste sich Problemlosigkeit überhaupt vorstellen können …“
„Ja, in speziell dieser Hinsicht ist der Mangel an Vorstellungsvermögen allgegenwärtig und massenhaft. Daher kann ich nur immer wieder sagen: Einen wie Sie, Samsa, gibt’s leider an jeder Ecke.“
Schweigen darauf. Sie starrten sich in die Augen und loteten aus, wie diese erneute Dosis an Kränkung in seinem Innern um sich griff; verfolgten gemeinsam, wie diese Säure eindrang in seine Selbstwertkulissen, und sahen deutlich: all das Gefälschte in ihm. Sahen es gemeinsam, so empfand er. Sodass er diese Entblößung, die ihm sonst unerträglich gewesen wäre, dankbar durchleiden, ja geniessen konnte.
Diese ganze Entblößung, dachte er, ist nur die Verhüllung der Wahrheit, dass nichts dahinter ist, höchstens das eine: meine Banalität; ansonsten nur Illusion, Leere. Was er aber im nächsten Moment begriff, machte den perversen Genuss an dieser Kränkung schlagartig zunichte:
Das wirklich Peinliche ist, wie ich vor dieser Frau hier Egoismus produziere und das für Selbsterkenntnis halte.
„Mir reicht’s für heute.“
Sie schaute auf die Uhr. „Sie haben noch zwanzig Minuten.“
„Egal“, er stand auf, „Problem gelöst, würde ich sagen.“
„Sicher? Sie kriegen jedenfalls keine 20-Minuten-Gutschrift von mir.“
Er winkte ab. Da wurde ihm plötzlich flau, und dann schwindelig …
„Erstmal setzen Sie sich wieder hin. Gar nicht gut, wie Sie aussehen. Dass Sie bloß nicht nachher ohnmächtig im Treppenhaus herumliegen. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.“

Soviel zu der gestrigen Sitzung bei Frau Doktor. Und wieder hatte er es nicht in den Strafraum geschafft … Und wieder, wie jedesmal, wenn er es nicht schaffte, hatte er sich danach sehr elend gefühlt. Und trotzdem: wieder hatte er schon den Termin zur nächsten Sitzung mit ihr ausgemacht. Und wieder, wie immer nach so einem Fehlschlag, sagt er sich: Was bist du bescheuert, dir sowas anzutun! Das Gegenteil von Befriedigung zu suchen – wie absurd das ist! Durch diesen Spaß, diesen Zwang, durch dieses zwanghafte Vergnügen hindurch – was herrscht da über dich?
Sein Blutkreislauf hatte sich gestern zwar schnell wieder normalisiert, doch war er dann so erschöpft, so kaputt gewesen, dass er ausser etwas zu essen zu nichts mehr in der Lage war und gegen halb acht sich schon ins Bett gelegt hatte. Und jetzt, nach kaum zwei Stunden im Deep Space – es ist noch immer stockdunkel draussen –, ist er schon so müde, dass er beschliesst, sich wieder hinzulegen und weiterzuschlafen.
Bevor er den Rechner zuklappt, hält er inne. Soll ich mal wieder versuchen, Schells Bureau zu öffnen? Er widersteht. Ist es überhaupt noch eine Versuchung? Das Widerstehen fällt ihm inzwischen leicht. Ist mir schon zur Gewohnheit geworden. Oder? Wohl noch nicht gänzlich, denn er spürt, wie die Versuchung immernoch sein Herz ein wenig schneller schlagen lässt.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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Wer mich kontaktieren möchte, sende mir eine E-Mail mit dem Vermerk 'Schells Bureau' an: matthias.scheel[at]posteo.de