I.7

Chaos

Das Studierzimmer – ja, muss es sein, ist nur vor lauter Chaos kaum wiederzuerkennen. Und am wenigsten habe ich damit gerechnet, jemanden hier vorzufinden, schon gar nicht – Praktikanten! Erinnert mich daran, dass ich hier nicht der Boss bin.
Dass man hin und wieder Praktikanten zugeteilt bekommt, klar, ist prinzipiell in Ordnung. Dahinter steckt doch aber –. – Ja, dass sie dich wahrscheinlich überwachen sollen. Ist das etwa ein Problem für dich? Hast du, ausser dass du paranoid bist, etwas zu verbergen? – Allerdings! Das hier alles war verborgen. Bisher war das Studierzimmer nur mir zugänglich, war Chiffre für Refugium, für Schells Bureau, für alle sowas wie ein running gag, kaum wirklich existent. Und jetzt? Ist es entdeckt, konkret geworden, ist auf einmal ein so normales Büro, dass sogar Praktikanten hereinspaziert kommen. Das letzte Refugium für mich also – futsch!
Es ist nur irgendwie umcodiert worden, reg dich ab. Dass es chaotisch aussieht, zugegeben; ist dir doch aber immernoch als das Studierzimmer erkennbar. Geh davon aus, dass du an dem Chaos selber Schuld hast. Oder sieh es so: Eine Charade vielleicht, die notwendig war. Das Studierzimmer musste entborgen werden – verstehst du? Um es neu zu codieren. Also bitte keine Panik.
Ich blicke zwischen dem jungen Mann am Schreibtisch und der jungen Frau auf dem Sofa hin und her. Sie scheinen mich noch nicht bemerkt zu haben, starren immernoch in irgendein Unsichtbares.
Die junge Frau – sie trägt Dreadlocks und Piercings und ist stark tätowiert – kenne ich nicht, den jungen Lemm dafür umso besser, da man ihn mir schon zweimal als Praktikant angehängt hat. Eine Trantüte sondersgleichen. Das erste Mal wurde ich ihn los, indem ich verreiste und einfach nicht wiederkam, das zweite Mal, indem ich meine Stelle kündigte. Dass es ihm nicht zu blöd ist, es ein drittes Mal bei mir zu versuchen, passt zu ihm. Denn nichts ist Lemm zu blöd; und das regt mich so auf an ihm. Weil es mir gnadenlos in Erinnerung bringt, dass ich selber in seinem Alter so war.
Soll ich die beiden höflich grüßen? Das wäre reine Ironie. Ich betrachte sie als Eindringlinge. „Wie habt ihr hier hereingefunden? Ist doch kein x-beliebiges Büro.“
Jetzt schauen sie mich an, und von Lemm genuschelt: „Einer hat uns hergebracht.“
„Klar, Mann. Wer?“
„Keine Ahnung. Netter, schick gedresster Typ.“
„Wird doch irgendwas gesagt haben, der Typ.“
„No problem einfach nur, er sei ein Freund von Ihnen.“
Aha. Es gibt nur den einen in dieser Gegend – das heisst im Regierungspalast von Babaal –, der gerne mal no problem sagt und mich als seinen Freund bezeichnen würde: Rivera. Mein Gegenspieler hier.
Ich nicke also. „Und? Gibt’s hier für mich nur noch den Stehplatz?“ Denn auf allen übrigen Sitzgelegenheiten türmen sich Papiere, Bücher, Aktendeckel. Der Junge erhebt sich mühsam von meinem Schreibtisch und quetscht sich, lang und schlaksig wie er ist, umständlich neben die junge Frau aufs Sofa. Sie: „Dann bist du also Schell.“
Ich sage: „Ja. Und Sie?“
Der Name, den sie murmelt, gefällt mir. „Unarisa? Ein Lächeln – wie schön!“
Komisch, wie erzürnt sie mich da korrigiert, sehr laut und leider ohne jeden Charme: „MONALISA.“ „Auch schön“, sage ich beschwichtigend. „Sicher sind Sie keine Zicke, Fräulein Monalisa, sondern ganz bezaubernd, wenn man Sie nur näher kennt.“ „Was?“, knurrt sie, „du bist ja wohl –“ „Sie, bitte. Sie sind – und zwar?“ „Sowas von Arschloch!“
„Ach so“, ich blicke Lemm an, „dann seid ihr gar nicht wegen eines Praktikums hier?“
„Doch, ja … Aber eigentlich auch nicht, nee … Also das werden Sie nicht so gut finden, glaube ich.“ „Was denn, mein Junge?“ „Uns gefällt das auch nicht besonders. Dass wir insofern Praktikanten sind, als dass wir nicht bezahlt werden; andrerseits aber einen Auftrag haben, der einen Haufen Arbeit bedeutet.“ Und mit einem Handschlenkern in die Runde: „Das alles, äh … Wir sollen Ihnen helfen, das zu digitalisieren.“
Sei Maske!, befehle ich meinem Gesicht; kann aber nicht verbergen, dass ich sprachlos bin.
Dann: „Der war gut – digitalisieren. Freut mich, Lemm, dass du auch mal einen Witz zustande bringst.“ Und ich wende mich, um das Thema zu wechseln, wieder der Monalisa zu: „Bezaubernd ist bis jetzt natürlich nur eine Vermutung; dafür vielleicht tatsächlich eine Zicke. Denn Sie nannten mich – oder habe ich mich verhört?“ Sie reckt sich vor und faucht: „Hast richtig gehört – Arschloch.“ Dann springt sie auf, sagt zu Lemm: „Und du Lahmarsch kannst mich auch mal!“, ruft allgemein: „Ihr könnt mich alle mal!“ und ist im nächsten Augenblick, nicht ohne kräftig die Tür zuzuschlagen, abgedampft.
Lemm scheint meinen Blick als Frage zu deuten, er sagt: „Vorhin war die ganz nett. Ist sicher gerade auf irgendwas drauf. Kenne sie aber auch noch nicht lange.“
Monalisa Overdrive. Schon mal gehört, den Titel? Roman von William Gibson. Apropos, Lemm: Wenn’s dieses Mal was werden soll mit uns, wirst du lesen müssen. Einiges. Verstanden? Bücher.“ „Okaaay?“ „Und zieh dein Okay bitte nicht so blöde fragend in die Länge, das nervt mich.“ „Verstanden.“ „Und noch etwas: Immer wenn ich sage, mir reicht’s, verkrümelst du dich bitte; und zwar immer, wenn ich das sage.“
Er nickt; scheint darauf zu warten, dass ich weiterrede; bleibt jedenfalls da sitzen.
Ich schaue auf meine Armbanduhr. Punkt zwölf. Ich staune. Kaum dass ich mein Hiereintreten auch nur mitbekommen habe, schon habe ich mich völlig an diese Szenerie gewöhnt, kenne sie wie sozusagen meine Hosentasche. Und wie lange habe ich dagegen vor dieser Tür herumgestanden? Was mir wie ewig vorkam, war nur ein Moment, so kurz etwa wie zwischen Eben-noch-wach-sein und Fast-schon-eingeschlafen. So lang wie der Moment, in dem sich alles umdreht, in dem Zeit, plötzlich veraltet, neu zu Zeit wird. Wo, wie in diesem Falle, ein Real zuende war und mit dem Eintritt hier hinein ein neues anfing.
Worauf wartet der Junge? Hat er nicht gehört, was ich sagte? Wie soll ich ihn noch erwartungsvoller anschauen? „Schon gehst du mir wieder auf die Nerven, mein Lieber. Hast du nicht eben die Worte mir reicht’s gehört?“ „Ja, schon, aber, Sie meinen … Bei Ihnen ist immer alles so plötzlich.“ „Das ist die Gegenwart, Lemm, nichts weiter. Und jetzt mach’s gut. Bis morgen meinetwegen. Ich bin entweder hier oder nicht, und das meine ich so banal wie existentiell. Bitte mach dir Gedanken darüber: banal wie existentiell. Und vielleicht kann unsere Miss Overdrive auch was dazu beisteuern, falls du sie da draussen irgendwo aufgabelst – und du nicht etwa sauer auf sie bist, weil sie dich Lahmarsch genannt hat. Der du ja tatsächlich bist.“
Musst du ihn immerzu so rüde angehen? Nur weil man dich selber früher so behandelt hat? Damit er für seine Nachfolger auch mal so ein schlechtes Vorbild wird wie du? Ich nehme mir vor, das zu ändern; denke: Dieses blöde Schema muss doch irgendwann einmal durchbrochen werden. Übrigens, die Luft hier drinnen –. Ich reisse weit die Fensterflügel auf. Welch schöner Tag da draussen! Gezwitscher in den Bäumen, und da drüben in der Tamarinde, wen haben wir denn da? Ich nehme das für diesen Zweck bereitliegende Fernglas zur Hilfe: eine Turteltaube – und was für eine Schönheit! Wenn das kein gutes Zeichen ist.
Und jetzt mal an die Arbeit. Betrachte das Chaos, das hier vorliegt, genauer. Die Berge, die Türme, die Stapel, die Haufen, und was aus den Regalen, den Schränken, den Schubladen quillt – alles aus Papier, alles vollgeschrieben. Und wie wirkt so ein Durcheinander? Entmutigend. Abschreckend. Unbeherrschbar. Es spiegelt eine Arbeitsweise; sodass man nur sagen kann: Schell ist chaotisch. Das ist so offensichtlich. Und gerade deshalb könnte es auf jemanden, der genauer hinschaut, auch anders wirken, nämlich wie arrangiert: um genau diese Wirkung zu erzielen. Sodass womöglich der Verdacht aufkommt, da sei tatsächlich einer so naiv, dass er versucht, per Chaos sich der Digitalisierung zu entziehen – wo man doch gerade diese damit anzieht. Denn so wie ein jedes sein Gegenteil hervorruft, so weckt das Gefühl der Hilflosigkeit das Bedürfnis nach Kontrolle; und hat man es mit Chaos zu tun, ist man hilflos und sieht sich bedroht und strebt also, um sich zu helfen, eifrig nach Kontrolle; und obwohl man weiss, dass man das Chaos nie ganz beherrschen wird, versucht man, es wenigstens so gut wie möglich zu beherrschen; und zwar aktuell mit der Vorstellung, Chaos sei gar nicht Chaos, sondern eine Ordnung, die man als solche nicht überblickt, weil einem der Maßstab dazu fehlt. Diesem Mangel versucht man derzeit per Berechnung abzuhelfen; dadurch also das Chaos zu ordnen, wenn nicht gar: in Ordnung zu bringen, indem man es berechnet. Von daher doch der ganze komputative Aufwand, dieser ungeheure Einsatz von Ressourcen aller Art, und der tiefe Glaube, der all das motiviert, dieser Digitalismus mit seiner so extrem ordentlichen, ja totalitären Grundordnung: Nur dies, wenn nicht das – nur null oder eins – nur entweder oder.
Warum nicht einfach auch zu diesem Glauben konvertieren? Ich sehne mich doch auch nach Überblick; und es ist doch gar nicht zu leugnen: diese chaotische Masse an beschriebenem Papier ist nur durch den Versuch, Ordnung zu schaffen, überhaupt zustande gekommen.
Aber vielleicht ist das ja funktionierende Bürokratie. Vielleicht genügt Kontrolle schon, wenn sie nur scheinbar ist. Doch was weiss ich … Keine Ahnung, was nebenan vor sich geht; weiss nur, dass die meisten anderen Büros wunderbar aufgeräumt aussehen. Womöglich ist in denen wirklich alles unter Kontrolle. So wie womöglich im ganzen Regierungspalast tatsächlich Ordnung herrscht; mir nur als solche nicht erkennbar, weil ich sie nicht überschaue.
Nicht umsonst, nehme ich an, haben wir hier in Andria die Regierung übernommen, oder richtiger gesagt: uns mit der Regierung identisch gemacht. Wir, uns, nun ja; ich meine das Flyshwerk. Es hat sich schon soweit über die Länder ausgebreitet, dass man längst sein Zentrum nicht mehr kennt – hat es, braucht es überhaupt noch ein Zentrum? Und dass es sich zur Zeit hier, in Andrias Hauptstadt, so konzentriert, ausgerechnet hier, wo wegen der Anomalie die Funktechnik so schlecht funktioniert – – na klar – na klar!
Jetzt begreife ich: Dass sie gerade hier spielt, die Musik, flyshwerkmäßig, und warum sie gerade hier spielt, ist eben – wegen der Anomalie! Weil deretwegen das alte Babaal und das ganze Andrianische Archipel bisher nur so oberflächlich digitalisiert ist.
Moment – noch einmal langsam: Die instabilen Frequenzen Andrias zwingen das Flyshwerk, gerade hier die Musik spielen zu lassen, will heissen: innovativ zu sein. Weil dadurch der Chaoskontrolle vielleicht ein neuer Dreh gegeben werden kann. Klingt das plausibel?
Wohin diese Überlegungen führen, weiss ich zwar nicht, doch ich merke, mein Blick auf das Durcheinander in diesem Büro beginnt sich zu ändern.
Der überschauende Blick ist ein ordnender, ein kosmischer Blick. Seit der Mensch aufblickt zu den Sternen, das heisst sie als da draussen wahrnimmt, blickt er kosmologisch, und weiss im Grunde, dass er all das, was da auf ihn eindringt, nicht bändigen kann. Weil er als Teil des Bandes ja selbst daran gebunden ist; so wie er weiss, dass er nicht aufhören kann, sich davon ständig zu entbinden – und so weiter; irgendwas im Hintergrund versucht da schon die ganze Zeit zu mir nach vorne durchzudringen. Mehr aber als das Gefühl, da war doch was, erinner dich!, kommt da noch nicht zur Klarheit. Deshalb wohl, um dieses Gefühl zu ergründen, versuche ich das Thema Chaos endlich abzuhaken: Es hier soweit zu beseitigen, dass es nicht mehr wie Chaos aussieht, sondern wie Ordnung, würde völlig reichen. Mehr fordert die Flyshwerk-Bürokratie sowieso nicht von dir.
Und nun: Was war denn da? Woran soll ich mich erinnern?
Da klingelt das Telefon. Kann eigentlich nur Rivera sein. Der Blick aus den Fenstern seines Büros geht auf dieselben Bäume, nur von der andern Seite aus; und ich weiss, er hat da auch ein Fernglas zurhand. Ich hebe ab und sage: „Zur Zeit sind Turteltauben in der Tamarinde.“ „O wie erfreulich! Danke für den Hinweis. Was treibst du so?“ „Weiss vor lauter Arbeit nicht, wo anfangen, das kennst du ja. Überlege daher, ob ich nicht mal das Büro aufräumen sollte; hätte jetzt dafür ja sogar Helfer.“ „Die zwei jungen Leute. Sollen bei dir digitalisieren, wie ich hörte.“ „Das amüsiert dich, klar. Mich nicht. Diese Regierungsarbeit hier, was ist sie denn? Doch nur noch muffiges Büroleben! Nur noch durch Ironie erträglich. Irgendwann werden wir wie Paley, wie alle hier, gewitzt und herzlos; oder sind’s womöglich schon.“ „Mein Lieber, das klingt aber trübe!“ „Ich sehe nur, wie’s ist. Und da kommt mir die Idee: Ich lass die Praktikanten einfach machen und verreise.“ „Schon wieder? Du bist ja nur noch unterwegs. Weisst du, wie man dich intern in diesem Hause bereits nennt? Den Mann auf der Flucht.“ „Oh. War es das, was du mir mitteilen wolltest? Sei bedankt, Rivera.“

Da ich an dieses Chaos so gewöhnt bin, dass es mir normal vorkommt, ist das Überraschende also eigentlich, dass es mir überhaupt auffällt; und aufgefallen ist es mir nur deshalb, weil ich vorhin beim Hereinkommen etwas anderes erwartet hatte, nämlich das Studierzimmer hier vorzufinden; und das kenne ich nur aufgeräumt, und still, ein bisschen fast wie unberührt, sodass es immer auf mich wirkt wie eine Einladung zum Neuanfang. Davon, hier, nichts. Es könnte dem Erwarteten kaum krasser gegenteilig sein. Und dann hier auch noch auf Menschen zu stoßen, auf so eine Miss Overdrive zumal, das hat wie weggewischt, was vorher war, hat umgehend die Selbstverständlichkeit etabliert, dass das hier natürlich mein Büro ist. Und jetzt weiss ich, woran ich mich erinnern wollte: daran, wo ich bin.
Im Regierungspalast von Babaal, natürlich.
Doch war nicht die Tür dieselbe wie die ins Studierzimmer? Jawohl, genau dieselbe. Die Frage ist also –
Es klopft und Paley erscheint – und prallt entsetzt zurück: „Ist das ein Saustall!“ Dann tritt er vorsichtig näher, kopfschüttelnd: „Schell, Schell … Wie können Sie nur so arbeiten?“ „Es ist noch schlimmer als sonst, meinen Sie?“ „Ich meine: Räumen Sie auf! Entlabyrinthisieren Sie! Das ist doch ein Witz von Büro! Das Gegenteil von Büro!“ Ich halte ihm den berühmten alten Kaffeebecher entgegen, die Aufschrift: KEINE PANIK! „Ach Schell, leider ist es nicht damit getan, einfach nur Witze zu reissen.“ „Entschuldigung! Daran sehen wir, warum Sie hier der Vorgesetzte sind. Aber im Ernst: ist mir irgendwie lieb geworden, dieses Durcheinander; als Sinnbild des Ganzen, verstehen Sie? Ich, ein winziges Rädchen in uferloser Bürokratie – mein Mikrobetrieb analog sozusagen dem Makrogetriebe.“ „Der unverbesserliche Romantiker. Mir persönlich ja sympathisch. Aber wir haben nun mal auch unsere Arbeit zu tun, meinen Sie nicht?“ „Sehr richtig, Mister Paley, Sir. Ich bringe das hier alles baldigst in Ordnung.“ „Hm, wie immer, baldigst. Seit wann versprechen Sie mir das schon? Wir schreiben das Jahr 2014.“ „Tatsächlich? Kann doch schier nicht sein!“
Dass wir nun beide so tun, als würden wir ganz sachlich nachrechnen, gehört zu diesem kleinen Theaterstück, das der Büroleiter hier regelmäßig mit mir aufführt.
Als Chef dieses Gebäudetrakts ist er für die Kontinuität zuständig, und die scheint nach seinem Verständnis nur gewährleistet zu sein durch ständige Umstrukturierung von Grund auf; sodass intern inzwischen die Meinungen über den Zweck unserer Abteilung stark auseinandergehen und sogar darüber diskutiert wird, wie sie überhaupt heisst.
Paley ist einer Art Philosophie der Permanenz verfallen. Von Haus aus zutiefst konservativ gesonnen, fasziniert ihn die Idee „permanenter Fortschritt“ wie ein Skandal, und da ihm das Notwendige dieser Idee durchaus nicht einleuchten will, bleibt sie ihm merkwürdig, ja regelrecht exotisch, und so kommt er sich bei jeder Umstrukturierung wie der große Erneuerer vor, so als würde er „Grenzen überschreiten“, „neue Horizonte erschliessen“, ja gar „die Zukunft erobern“. Derlei bringt er natürlich nur in Festreden; an denen er aber, wie man weiss, wochenlang herumtüftelt; nur um dann tragischerweise nichts anderes von sich zu geben als das, was regelmäßig auch alle anderen nach den üblichen Vorlagen herunterleiern.
Hingegen gibt sich der alltägliche Paley gern zynisch, und er ist in seiner Rolle brillant, spielt den versnobten höheren Regierungsbeamten nämlich genau so, dass man meinen kann, er sei sich seines Spiels bewusst; sodass man ihm gegenüber niemals wirklich weiss, woran man ist. Ob er, wenn er vorm Spiegel steht, es selber weiss? Davon hängt ab, auf welcher Stufe er steht – ob er uns nur vorgesetzt oder uns tatsächlich überlegen ist.
Da stutze ich: „2014? Sie sagten – 14?“ Paley seufzt: „Ist ja auch egal; seit Jahren jedenfalls versprechen Sie’s mir immer wieder, wie soll ich also noch was darauf geben?“ „Bitte, Paley – nochmal: 2014? Wir haben zweitausendvierzehn?“ „Was sonst?“ „Zum Beispiel – zweitausendzwanzig?“ Er glaubt, ich scherze, und sagt grinsend: „Wir strukturieren zwar bisweilen um, aber so tiefgreifend nun auch wieder nicht.“ Dann räuspert er sich. „Oder muss ich mir irgendwelche Sorgen um Sie machen, Schell?“ „Bloß nicht!“ „Dann bringen Sie jetzt das Büro auf Vordermann. Einfach alles, was nicht in die Schränke und Regale passt, in den Schredder, und fertig. Ist doch so simpel!“ Er wendet sich zur Tür. „Ach ja – wo sind denn Ihre neuen Praktikanten? Lassen Sie die doch das erledigen!“ Und er ist schon fast hinaus, da fällt ihm ein: „Weshalb ich überhaupt vorbeikam – Brains. Dieser Superdetektiv, Sie wissen schon. Ist gerade vor Ort. Und ich dachte mir, da Sie ihn kennen, frag ich Sie mal, ob Sie so nett wären.“ „Ja.“ „Sich Zeit zu nehmen.“ „Klar.“ „In Erfahrung zu bringen, was er ausgerechnet in unserem verträumten, doch eher uninteressanten Babaal zu suchen hat.“ „Gern, Mister Paley. Ist schon so gut wie erledigt.“

Brains. Der Name hat es bei mir klingeln lassen. Hat mit dem zu tun, was mir die ganze Zeit solch Unruhe verursacht: dass da etwas ist, woran ich mich erinnern wollte. Dringend. Unbedingt. Doch solang mich das Gefühl beherrscht, es muss, wird es mir natürlich nicht einfallen, das kennt man ja. Es war etwas, bevor ich hier hereinkam, vor der Tür, und vielleicht hilft es, wenn ich nochmal rausgehe; und gar nicht daran denke, dass ich mich erinnern will …
Da fällt mir auf: Bin ich hier je hinausgegangen? Nein; bin hier bisher immer nur eingetreten. Das muss mit der Refugienstruktur zusammenhängen. Die bewirkt, dass ich dieses Refugium namens Studierzimmer immer durch ein anderes Refugium verlasse, nämlich durch eines der fünf alten Refugien …
Und jeder Übertritt von hier in ein anderes Refugium führt mich in Erinnerung; und jedesmal ist diese so real, dass ich mich darin wirklich glaube; sodass ich jedesmal den Übertritt sofort vergesse. Solch ein Überwechseln ins Erinnern ist gleichzeitig also – Vergessen. Merk dir das!, befehl ich mir. Und weil du denkst, das sei doch völlig klar, das sei unmöglich zu vergessen, sage ich dir: Da täuscht du dich! Schreib’s dir vorsichtshalber auf.
Hier spüre ich ein Deja-vu, weiss: das ist die xste Wiederholung, und stehe hilflos: muss mich damit abfinden. Denn ich hab ja immer aufgeschrieben, und zwar reichlich – so ist dieses Chaos aus Papier doch überhaupt entstanden. Und deckt jetzt alles zu; deckt so gründlich zu, dass auch die Zugänge zu den Refugien inzwischen nicht mehr aufzufinden sind. Denn ich kann sie hier nirgendwo entdecken, jene fünf Objekte, die mir im Studierzimmer sonst immer gleich ins Auge fallen:
das Wappen der Royalisten
der historische Säbel
die Daguerreotypie
die Maske
das Renaissance-Gemälde
Erinner dich: Was du im Anblick eines jeden dieser Objekte in dir als dessen Gegenbild erzeugst, ist dann Objekt woanders, in einem der Refugien, dem jeweiligen Raum nämlich, in dem du dich erinnerst.
Dann hab ich etwa dieses Chaos – dies Gegenbild zur Aufgeräumtheit des Studierzimmers – dazu angerichtet, mich am Besuchen der alten Refugien zu hindern? – Sofern du einen Sinn darin entdeckst: ja. Und weisst du, an was du dich eben noch konkret erinnern wolltest? – Was mir im Chaos hier drinnen nicht einfallen wird: von woher ich hereinkam. Ich wollte, um mich daran zu erinnern, nochmal raus, und da fiel mir auf, dass ich durch diese Tür noch nie –
Und so geh ich nun zum erstenmal durch diese Tür hinaus.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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