Mystery Saga

S.13

Die letzte Zigarre

Nachdem mich vor einigen Minuten der kosmische Blick von Forty Operas durchdrungen und für einen Moment in den wahren Durchblick mitgenommen hatte, bin ich nun, als das zum zweitenmal geschieht, schon ein wenig darauf vorbereitet.
Blitzartig wieder die Distanzierung von mir selbst, während all mein Persönliches wieder auf eine irrelevante Winzigkeit zusammenschrumpft, zu jener Lücke im Gedächtnis, jenem Pünktlein: der Stelle, die ich als einzige auf der Welt als völlig leer sehe, weil genau an dieser Stelle ich bin.
Diesmal geht es in der Überschau aber nicht um mich, vielmehr um den Technus: auf einen Schlag erfasse ich sein Wesen, und zwar indem ich A2X27 begreife, nämlich das Wort verstehe, Flysh, wie es durch A2X27 codiert ist. Ich seh’ es wie im Spiegel, rückwärts, von allen Seiten, auch von hinten, und sogar zeitlich, wie es entsteht, wie es vergeht. Und bin mir des Fehlers bewusst, der diese Sicht ermöglicht, dass nämlich fehlt, was im Normalfall diese Sicht verhindert: mein Alltagsbewusstsein, das eine solche Sicht unglaublich finden und ein aus ihr Gesehenes einfach nicht akzeptieren würde.
Und ich verstehe, warum Forty Operas damit recht gehabt hatte, dass gar nicht verraten werden kann, was Flysh beziehungsweise A2X27 heisst: Weil das so weit jenseits der gewohnten Logik liegt, dass die Sprache davor schlicht versagt.

Rotgolden füllt jetzt die untergehende Sonne dieses leere ehemalige Büro der Seabed Authority. Und keinen Wunsch verspüre ich im Augenblick so stark wie den, wieder zu glauben, ich sei der, der ich bisher zu sein glaubte; es zu glauben so wie eins und eins ist zwei.
„Was hat Sie denn aber eigentlich wieder nach Istanbul geführt, Operas?“
Er geht darauf nicht ein, nicht direkt; stattdessen: „Wir sprachen von Philosophie.“
Sie, mit Verlaub. Ich halte mich in Sachen Philosophie inzwischen zurück.“
„Ich habe Sie auf Schelling hingewiesen.“
„Schelling schon wieder … Ich sage Ihnen, auch bei dem habe ich herumgelesen, so wie bei Fichte, bei Hegel; aber alles zwecklos. Na klar weiss ich, bei denen lernt man denken – und vielleicht habe ich davon ja irgendwas gelernt, wer weiss.“
„Los, Schell, dann erraten Sie mal meine Definition von Philosophie!“
„Mühe.“
„Jedenfalls hätten Sie sich mit Schelling gut verstanden.“
Das klingt, als hätte er den persönlich gekannt … Dazu Kimura: Das ist nicht so abwegig wie es scheint, denn du hast es hier ja nicht mehr mit Ladenheuser zu tun, sondern mit Forty Operas, und der ist ja schon sehr sehr alt, wie wir wissen.
„Was mich andererseits nach Istanbul geführt hat, ist, dass Flyrie anscheinend in Schwierigkeiten steckt. Hat sich mit dem World Water Council angelegt und sitzt jetzt hier im Gefängnis.“
Monton Flyrie, der Jamaikaner; immer schon dem SI nahestehend, aber nur locker verbunden. Typischer Freerunner.
„Habe ihm zwar geraten, was ich allen immer rate, sich nämlich aus der Politik herauszuhalten, aber natürlich: für einen Dienst arbeiten und sich dabei aus der Politik raushalten, ist viel verlangt.“
„Wie von einem Taxifahrer zu fordern, sich von Straßen fernzuhalten.“
„Er hätte lieber richtig bei uns mitmachen sollen, in Vollzeit sozusagen. Doch wem sage ich das? Sie, Schell, sind ja auch so einer, der nie richtig bei uns mitmachen wollte – und jetzt plötzlich mitmachen muss. Last Exit: Service of Intelligence. Weshalb uns – so wie es schon immer war – für die wahre Geheimarbeit nur Gesindel zur Verfügung steht.“
Man möchte hoffen, dass der ruppige Forty O. mit Gesindel etwas sympathisches meint, das Gegenteil vielleicht … Wir werden hier abgehört, davon gehe ich aus, und verlassen uns darauf, dass in unserer Redeweise Krypt und Klartext nicht zu unterscheiden sind. Wobei ich mir gar nicht mehr sicher bin, ob ich das selber noch unterscheiden kann. Will Operas zum Beispiel glauben machen, er sei hier, um Flyrie freizubekommen? Oder ist geplant, dass der hier erstmal eingesperrt bleibt? Weil er vielleicht, um einen Zugang zu Geo Reys Netzwerk zu finden, an Leute herankommen muss, die man nur im Gefängnis trifft?
Hier schaltet sich nun Kick Kimura ein: „Müsste für Sie doch ein Kinderspiel sein, Flyrie da herauszuholen. Wenn ich daran zurückdenke, wie Sie mich sogar mal aus einer militärischen Einrichtung rausgeholt haben …“
„Sowas kann ich nicht mehr. Und auch ein paar andere Fähigkeiten sind mir mit den Jahren verlorengegangen. Die Müdigkeit, seit je mein großer Gegner, ist immer stärker geworden, und ich immer schwächer, sodass ich immer häufiger den Kampf verliere.“
„Sie schlafen also manchmal? So wie normale Menschen auch?“
„Ja. So habe ich jetzt auch ein Privatleben. Doch zurück zu Paulson. Ich habe ihn unterschätzt. Als ich begriff, dass er schlauer ist als ich dachte, war es zu spät.“ Er bemerkt, wie mich dieses Eingeständnis schockiert, und setzt hinzu: „Tja, Kimura, daran siehst du, wie sehr ich nachgelassen habe. Ich bring’s nicht mehr. Ist insofern ja berechtigt, dass jetzt Paulson den SI anführt.“
Längere Pause.
„Hey, Forty, amerikanische Wissenschaftler haben jetzt herausgefunden …“
„Aber sind gleich wieder reingegangen. Ich weiss. Soll ein Witz sein, ist es aber nicht. Denn die damit auf den Punkt gebrachte Misere der heutigen Wissenschaft ist in ihren Folgen kein bisschen lustig.“
„Ach, kommen Sie, wann wollen Sie endlich mal lachen?“
„Erst wenn die Geschichte zuende ist.“
„Ob dann aber die entsprechende Muskulatur noch mitmacht?“
Dazu kursiert im SI folgende Überlieferung: Vor langer, langer Zeit war Forty Operas sich einmal sicher, seine Geschwätzigkeit endgültig unter Kontrolle zu haben, und prompt kam da der Moment, in dem er auf keinen Fall hätte geschwätzig sein dürfen: gerade da aber liess er sich hinreissen. Und darüber untröstlich, hatte er dieses Gelübde abgelegt: nicht mehr zu lachen, das heisst radikal aus sich einen Anderen zu machen.
Die Sonne ist untergegangen. Nun wird das Büro von den Leuchtwerbungen der gegenüberliegenden Fassaden erhellt, abwechselnd violett, dann gelb, dann türkis: Barocco Om&OmGrandsome WestJuju Mitsu Kybio … immerzu in dieser Reihenfolge.
„Es ist also aus mit uns?“ frage ich.
„Hier ja. Hier ist nur noch Ureal. Auf dieser Ebene ist nichts mehr zu erreichen.“
„Aber auf einer anderen Ebene …“
„Wenn du sie findest.“
„Das heisst es gibt sie immerhin.“ Doch ich weiss: das hängt von mir ab. Ich trage sie in mir, diese andere Ebene. Oder auch nicht. Wenn ich sie da nicht finde, dann ist sie – für mich jedenfalls – nirgends.
Forty nun: „Hast du gelegentlich das Gefühl –“ beobachtet zu werden?
„Ja, irgendwie –“ ist da ständig ein Publikum anwesend.
„Weil das –“ alles hier sich im Kontrollbereich abspielt.
„Deswegen –“ reden wir auf einmal so komisch.
„Hm, ja.“ Um nicht missverstanden zu werden, verlässt du dich lieber nicht auf das hier: Plötzlich sehe ich vor ihm auf dem Tisch ein Smartphone liegen. Lag das vorher schon da?
Worauf wir uns stattdessen verlassen, weisst du?
Ja, aber das kann ich noch nicht. Oder meinen Sie etwa – „Ich kann es schon?“
Du hast es hier schon zweimal erfolgreich praktiziert.
Aber doch nur mit Ihrer Hilfe, Forty. Es war beide Male ein Blick nicht eigentlich durch meine eigenen, sondern durch Ihre Augen.
Die brauchst du nun zu dieser Art Sehen nicht mehr. Du bist ab jetzt autorisiert.
Und nun, diesmal nicht durch Forty’s Blick vermittelt, stellt sich die kosmische Sicht wie von selbst ein, wenn auch wieder nur für einen Moment: Wieder das große Bild, das Riesengroße, und wieder die leere Stelle darin, der Ort, an dem ich gerade nicht bin – die Gedächtnislücke –, nur diesmal sehr viel deutlicher als vorhin, nicht einfach abstrakt wie ein Punkt, sondern konkret: eine ausgebrannte Feuerstelle.
„Das Große Bild im Kleinen“, sagt er. Was wir im SI das Big Picture nennen.
„Unglaublich, Boss. Mir reicht’s.“
„Eins müssen wir noch klären –“ das Wichtigste: wie du an verschiedenen Orten gleichzeitig sein kannst.
„Sie meinen –“ Bilokation?
Trilokation. Mindestens; doch für den Anfang reicht das.
„Moment, Chef, lassen Sie mich mal verschnaufen.“
Worauf er nickt und ausgiebig zu gähnen anfängt.
„In letzter Zeit mal was von Wayne gehört?“, frage ich.
Wayne, der Buddha genannt … Ich denke an die alten Tage zurück, habe die San Francisco Bay vor Augen, im Nebel, und Wayne’s Bar, The Happy End, am Ende des Piers …
„Wayne hat den Dienst quittiert. Was man ihm an Weisheit unterstellte, so teilte er mir mit, sei doch nur Einfalt gewesen.“
„Hm. Da widerspricht sich doch diese Einfalt irgendwie … Hat er noch seine Bar?“
„Ja; damit schon ein paar Jahre in Port Dumas ansässig; die Anlaufstelle, wie man hört, für ehemalige Alkoholiker.“
„Soll heissen, Wayne bekehrt in seiner Bar die Säufer?“
„Genau. Allerdings ohne das Zertifikat der Anonymen Alkoholiker. Dafür gilt das Happy End inzwischen als die Adresse in puncto Bibel-Exegese.“
„Sicher für die Welt ein Gewinn – und ein guter Grund, mal wieder in Port Dumas vorbeizuschauen –, doch für den SI wohl ein herber Verlust.“
Forty nickt. „Inzwischen hat der sogenannte SI soviele Agenten wie noch nie. Dafür habe wir fast niemanden mehr.“
„Was ist mit Trisha Percival?“
„Verschollen. Schon seit längerem. Dabei sollte sie bloß in Andria etwas abliefern.“
„Und Murphy? Mit dem hatte ich unter dieser Adresse hier eigentlich gerechnet.“
„Treibt Geld auf. Denn im Zuge der Umstrukturierungen hat man’s leider auch irgendwie geschafft, uns vom Old Hickory abzuschneiden. Wir sind jetzt finanziell auf Selbstversorgung angewiesen.“
Ich versuche mir das vorzustellen. „Aber Rumco, so will ich hoffen –“
„Ist noch dabei, klar, und wie immer natürlich völlig überlastet.“ Mit einem Blick auf das Smartphone, das da immernoch zwischen uns auf dem Schreibtisch liegt, fügt Operas hinzu: „Er hat da was konfiguriert. Muy especial. Du hast auch sowas, will ich hoffen?“
„Klar.“
„Eingeschaltet?“
„Weiss nicht.“ Ich hole es aus dem Rucksack, „Ja, eingeschaltet“, und lege es neben Forty’s Gerät. „Das reicht schon“, sagt er, und ich nehme an, da überspielt sich jetzt wohl irgendwas von seinem Gerät auf meines.
Derweil überlege ich: Einblick ins Big Picture … Den hatten doch bisher nur MDOs … Jetzt brauche ich auf einmal Forty gar nicht mehr dazu? Und das auch noch in Verbindung mit Trilokation … An drei Orten gleichzeitig zu sein: das ist doch Multi Dimensional Operating in Reinkultur … Und dass ich jetzt autorisiert sei … Da läuft es mir ja kalt den Rücken runter …
Bis auf den Schimmer der Leuchtschriften von gegenüber – violett – gelb – türkis – ist es nun dunkel im Büro.
„Hat hier eventuell der al-Möffi-Effendi etwas für mich hinterlegt?“
Worauf Operas mir über den Schreibtisch etwas kleines zuschiebt. Eine Kreditkarte. Auf Schell ausgestellt. Danke. Ich stecke sie ein.
„Für diese Mission und alles, was du dafür brauchst, ist Mr. Paulson zuständig.“
Das sollte wohl eine Botschaft an den Kontrollapparat sein, denke ich.
„Für die Schwarzmeer-Passage hat mir Paulson zwei Schiffe zur Wahl angeboten.“
„Nach Odessa und nach Batumi, nehme ich an.“
„Habe Odessa gebucht.“
Forty nickt. „Die Uzmir 9. Versiffter Kahn voller Halsabschneider.“
„Beeindruckend, wie gut Sie immernoch informiert sind, ich meine dafür, dass Sie im SI nichts mehr zu melden haben.“
„Unnötig gut informiert; da hast du allerdings recht. Muss ich mir abgewöhnen. Aber auch du solltest aufpassen, Kick. Was haben dir deine kindischen Versuche eingebracht, dich immer wieder als der unbeugsame Freerunner zu behaupten? Doch nur, dass du schliesslich aus dem Service rausgeflogen bist.“
Jetzt aber trotzdem wieder drin bin, denke ich für mich.
„Und glaube bloß nicht, du seist jetzt wieder drinnen. Denn den Kimura, der mal rausgeflogen ist, gibt’s ja gar nicht mehr, nicht denselben jedenfalls.“
„Ich weiss; wie’s auch den SI ja nicht mehr gibt, aus dem ich damals rausgeflogen bin. Es ist das Schwerste, finde ich – immernoch und wie auch immer – sowohl Freerunner zu sein, als auch in service.“
Deshalb Schelling. Sein Spätwerk, wohlbemerkt. Und überhaupt alle Philosophie: deshalb. Die Freiheit, zu dienen; oder aus Freiheit dienen. Kein Ideal soll das sein, nichts irgendwie schwieriges, nur eben die Praktik, die uns Agenten vom normalen in den gesunden Zustand überführt.“
„Klingt sehr vernünftig, Forty, ehrlich.“
„Wenn das klar ist – gut.“
Natürlich hat er bemerkt, dass ich mit meinen Gedanken woanders bin. Nicht dass ihn das beleidigt; doch dass es ihm einen Stich versetzt, spüre ich durchaus; und was ich da eben gesagt habe – so blöde obenhin: „klingt sehr vernünftig“ –, tut mir leid. Nur ist diese Wahrheit nun mal nicht abzuweisen: Forty’s Zeit ist abgelaufen. Und er weiss es. Mag er auch ur-uralt sein, senil ist er noch lange nicht.
Wenn im übrigen für einen wie Forty Operas die Zeit abgelaufen ist, wie erst recht dann für Typen a la Mr. Paulson! – Vorsicht, ermahnt mich da sofort mein Kick inside, unterschätze Paulson nicht!
… violett … gelb … türkis …
„Zigarre?“
Oh … Dass Forty Operas jemandem eine seiner Spezialzigarren anbietet, das hat es, soviel ich weiss, noch nie gegeben. Diese Sitzung scheint also auch für ihn eine besondere zu sein.
„Danke sehr.“
Eine Weile sitzen wir uns da nun im Halbdunkel gegenüber, in diesem Wechsel von Violett, Gelb und Türkis, und qualmen das Büro voll.
„Das ist also der berühmte Tabak der Schamanen … Grässlich. Soll wohl auch gar nicht angenehm schmecken, nehme ich an.“ Von Forty darauf keine Antwort.
„Dieses komische Gebilde“, sage ich schliesslich, „ein Stempel, oder eine Art Siegel, ein Logo, so kompliziert, dass man’s gar nicht beschreiben kann …“ Das, was ich auf all den Kisten in jenem Kellergewölbe gesehen habe …
Forty mit einem Nicken: „Geo Rey’s Siegel. Vier Bilder, die sich so überlagern, dass keines eindeutig zu erkennen ist. Vier Symbole, die zusammen ein fünftes ergeben: die Synthese aus Löwe, Rose, Buch und Kelch. Wenn man das zu entschlüsseln versucht, wird unweigerlich ein Blödsinn daraus.“
„Eine Art Gedicht also.“
„Na ja, die Poesie von heute: reines Alarmzeichen. Man nenne bloß Geo Rey keinen Dichter, dafür liesse er einen umbringen, habe ich gehört.“
Ich betrachte den Zigarrenqualm und sage: „Hatte eine gewisse Wirkung befürchtet, ehrlich gesagt; einen halluzinogenen Effekt. Spüre aber nichts dergleichen.“
„Was könnte das bedeuten?“
„Dass dieses Kraut vielleicht auch nicht mehr das ist, was es mal war?“
Lange Pause.
„Ist tatsächlich nicht mehr das, was es mal war“, sagt Forty schliesslich. „Warum also rauche ich das Zeug noch?“
„Weil Forty Operas ohne diesen Zigarrenduft kaum vorstellbar ist.“
Er nickt. „Ein Erkennungszeichen. Nur ist ja gar nicht mehr nötig, dass man mich erkennt.“
„Vielleicht dass der Genuss-Aspekt noch einen Sinn ergibt?“
„Darüber habe ich lange nachgedacht – nein. Ich hab genug davon.“
„Soll das heissen –?“
„Dass dies der richtige Zeitpunkt für meine letzte Zigarre ist.“
„Ihre letzte Zigarre, Forty? Dann ist das ein historischer Moment!“
„Reine Nebensache. Wenn etwas hier historisch ist, dann was ganz anderes.“
„Was meinen Sie?“
„Nicht etwa“, dass du zum MDO wirst – du bist es schon.
Worauf ich in dem abwechselnd violetten, gelben und türkisen Halbdunkel erbleiche. Ist es das, was er mir die ganze Zeit klarzumachen versucht? Weshalb überhaupt diese Unterredung hier stattfindet? „Das meinen Sie nicht ernst.“
„Wann habe ich je etwas nicht ernst gemeint?“
Noch nie. Das weiss jeder, der ihn kennt. Darauf beruht seine Autorität.
„Fragt sich, was ich dir vererben könnte.“
„Vererben? Haben Sie etwa vor, zu sterben?“
„Ich ziehe mich zurück. Bin schon viel zulange zu müde für diesen Job. War nur niemand bis jetzt in Sicht, der ihn übernommen hätte.“
„Aber –“ ob ich will – spielt das keine Rolle?
„Nein.“ Fraglich ist nur, ob du es kannst. Im übrigen vergiss nicht: das Ding, das du zu koordinieren hast, den SI, gibt’s ja gar nicht.
Worauf mir ein Ächzen entfährt.
„Forty. Ehrlich. Ich habe. Nicht. Den blassesten. Schimmer. Einer Ahnung. Wie. Multi. Dimensionales. Operating. Funktioniert.“ Damit ahme ich nach, wie Forty Operas manchmal zu jemandem spricht, der sich als besonders begriffsstutzig erweist; und ich forsche in seinem Blick nach einer Spur von Amüsement; vergebens. Was ist da stattdessen? Kälte? Teilnahmslosigkeit? Nein. Überdruss? Verachtung? Auch nicht. Hingegen vielleicht Wärme? Verständnis? Güte? Ebensowenig. Da ist nichts als Raum, nichts als Ferne – diese ungeheure kosmische Ferne. Wieder einmal muss ich feststellen: Der ist wirklich nicht von dieser Welt.
„Warum sagst du so nachdrücklich das Unrichtige? Natürlich hast du eine Ahnung, wie das MDO funktioniert.“
Aber ich bin noch nicht soweit!
„Na schön …“ Wieder zückt er seine alte Taschenuhr; hält sie in der offenen Hand und sagt: „Sehr simpel, sehr nützlich. Zwölf Ziffern im Kreis. Man braucht nur zu wissen, wofür diese Ziffern stehen; und dann nur noch festzulegen, was sich zwischen den Ziffern abspielen soll, das heisst in jeder der zwölf Stunden.“
„Und dann?“
„Weisst du immer, je nachdem wie die Zeiger stehen, wo du gerade bist.“
Ich verstehe: Ich bin immer jetzt. So eine Uhr mit Zifferblatt und Zeigern gibt die Zeit räumlich an: aus dem Wann macht sie Wo.
„Hm“, sage ich. „Und wo sind wir gerade?“
„Wir sprachen vorhin über Literatur als Metapher.“
„Metapher für die Art, in der wir uns die Wirklichkeit zurechtzimmern.“
„Und das macht Literatur relevant.“
„Wenn ich Autor wäre.“
„Wie Schell zum Beispiel. Aber auch wenn du eine Romanfigur wärest, dürfte Literatur relevant für dich sein.“
„Ja, allerdings.“ Ich gähne.
„Und wie relevant sie erst sein muss für den, der Autor und Romanfigur zugleich ist; für Schellkimura zum Beispiel.“
Ich gähne nochmals. Woher diese Müdigkeit, die mich auf einmal überkommt? Was ist das? So plötzlich, so überwältigend … Mann, bleib wach!, sage ich mir, das ist wichtig hier! Du kannst jetzt nicht einfach einschlafen! Doch ich kann gar nicht mehr aufhören zu gähnen; und während ich noch dagegen ankämpfe, ist mir schon klar, dass er es ist, Forty, der mich in den Schlaf schickt.
„Hast du die Uhr verstanden, verstehst du auch unsere Kosmologie, ich meine unseren irdischen Standpunkt.“
„Aha“, gähne ich, „so ist das also … Wie spät haben wir’s denn eigentlich?“
Dass er irritiert die Stirn runzelt, sehe ich noch, und dann, dass er sich diese Uhr ans Ohr hält, und höre auch noch, wie er ungläubig murmelt: „Die wird doch wohl jetzt nicht ihren Geist aufgegeben haben …“

S.12

Kick inside

Vom Flur des International Maritime Bureau nehme ich die Treppe nach unten. Im Büro von Tyrus Paulson hatte ich das Gefühl gehabt, es sei bereits Nacht. Hier im Treppenhaus habe ich jetzt dagegen den Eindruck, es ist noch Nachmittag, oder erst ganz früh am Abend.
Paulson … Ich habe mir angewöhnt, auf die Namen zu achten. Der von Paul abstammt. Der Gedanke an den Apostel Paulus käme mir abwegig vor, wäre da nicht noch dieser Vorname: Tyrus. Eine Hafenstadt dieses Namens hatte doch dazumal im Leben des Saulus-Paulus eine Rolle gespielt … Was auch immer das bedeutet, sage ich mir, diesen Paulson bloß nicht unterschätzen!
In der nächst unteren Etage nehme ich nun einen Geruch wahr, der mich innehalten lässt; der mir ein Deja-vu verursacht. Jener gewisse unverwechselbare Tabakduft … Bin mir jetzt sicher, dass ich schon mal hier war; und weiss auch genau, dass es das ist, was seit damals, bis heute, unerledigt geblieben ist: die Sache mit dem Projektor; Projekt Schwarmmaschine.
Auf einer Glastür, dem Eingang zu einem leeren dämmrigen Flur, lese ich: International Seabed Authority. Ich öffne diese Tür, und in der Tat, jetzt riecht es noch eindeutiger. Nach Mapacho. Schamanenkraut. Dieser Geruch, den manche sicher einen Gestank nennen würden. Und der mich nun ins genau richtige Büro leitet.
Ich trete da wie auf Verabredung ein. Doch kenne ich den Alten, der dort sitzt? Ganz in Schwarz gekleidet; schwarz auch der Borsalino-Hut vor ihm auf dem leeren Schreibtisch. Schneeweiss aber die imposante Mähne und sein zerzauster Backenbart.
Ich tippe mir an den Schirm meiner Mütze, ziehe einen Stuhl heran und setze mich ihm gegenüber. „Schell mein Name. Und Sie sind?“ Ich Blödel – weiss es doch: Forty Operas. Chef des Service of Intelligence. Der Kick in mir – das heisst mein Notfallprogramm Kimura – kennt ihn nur allzu gut.
„Tja, Schell, Sie waren zwar damals nicht direkt dabei, aber genauso saßen wir hier schon einmal.“
„Sie und Kimura. Habe die Szene gelesen.“ Ich blicke rundum. Die Wände sind kahl wie dieser ganze Raum: Ausser dem Schreibtisch und den zwei Stühlen noch ein Aktenschrank, der offensteht und nichts als Staub enthält. So ein Büro-Gerippe, denke ich; wie plakativ das nach Abstellgleis aussieht … „Seabed Authority?“
„Die Abteilung, mit der die UNO seit 1996 die Ausbeutung der Meeresböden gesetzlich zu regeln versucht. In der Zentrale in Kingston, Jamaica, befand man vor ein paar Monaten, dass diese Istanbuler Aussenstelle nicht länger gebraucht wird; dass sich die hiesigen Seabed-Angelegenheiten profitabler über das Maritime Bureau abwickeln lassen.“
„Durch Tyrus Paulson.“
„Sie haben ihn schon getroffen? Dann wissen Sie ja Bescheid.“
„Gar nichts weiss ich. Nur dass zur Zeit doch gerade hier an diesen Küsten besonders um den Meeresgrund gestritten wird. Und da macht die Seabed Authority ihre hiesige Aussenstelle dicht?“
„Genau. Denn sie ist als Instrument langfristiger Friedenspolitik gedacht, und in eine solche wird momentan nicht investiert. Bedauerlich, ja, hat aber auch sein Gutes. Das spärliche Budget der Authority zwingt nämlich jeden ihrer Mitarbeiter zu einer persönlichen Entscheidung: ob es ums Budget geht oder um die Sache.“
„Trennt die Spreu vom Weizen, verstehe. Und Sie, Operas? Auf Null-Diät? Halten hier die Fahne hoch? Doch wohl nicht wirklich die der UNO …“
„Vertrete nebenher The Framing Company. Womit wir beim Thema sind, nämlich: Wir zwei, wo sind wir miteinander stehengeblieben?“
„Falls Sie Kimura meinen: Beim besten Willen, Mr. Operas, das ist so lange her …“
„Ich meine Sie, Schell. Sie fragten mich: wenn Sie nicht Schell sind, wer denn sonst? Doch das Auftauchen von Sgyulus und Sprosbral zwang uns, von dieser interessanten Frage abzulassen. Und ich finde nicht, dass das lange her ist.“
„Das war vorhin … Vor ein paar Stunden …“
Er nickt.
Ach, so ist das. „Ich glaubte … Für mich war Ladenheuser immer Ladenheuser … Sie waren das? Ladenheuser: Sie? Schon immer? Und ich dachte die ganze Zeit …“
„Halluzination und Voreingenommenheit, das sind zur Zeit Ihre einzigen Verbündeten.“
„Und, äh, also: wenn nicht Schell, wer bin ich dann?“ Ich starre ihn an. Aber er schweigt. Ihm ist klar, dass ich es schon weiss; nur es noch nicht verstehe.
„Nun reicht’s wie Sie glotzen“, sagt er schliesslich. „Die Sache ist doch simpel: Für Kimura war ich immer schon der alte Forty, und für Sie, Schell, war ich bisher Ladenheuser und bin Forty Operas ab jetzt.“
„Und, äh, ich für Sie?“
„Simpel, wie gesagt: Sowohl Schell, als auch Kimura. Mag ja sein, dass sich das für Sie noch komisch anfühlt, dieser Kick inside, doch so ist nun mal ein Body Job. Zumindest wenn er notfallmäßig eingeleitet wird. Keine Sorge, übermorgen, spätestens, sind Sie daran gewöhnt. Und was Kick Kimura angeht, der hat diese Wirklichkeit schon früh durchschaut. Schon damals in San Francisco. Als er entdeckte, dass er eine Romanfigur ist. Wenn auch die Kategorie Roman inzwischen etwas aus der Mode ist, metaphorisch lässt sie sich noch gut gebrauchen.“
„Fragt sich, für was. Die Real-Technik lässt sich mit Romanliteratur nur noch im Hinblick aufs Wesentliche vergleichen. Das Unwesentliche hat sich allerdings enorm verändert.“
„Das technische Brimborium. Kann man wohl sagen. Man kann sogar sagen, das Unwesentliche ist zum Wesentlichen geworden. In einem Roman hätten Sie jedenfalls mit einem bloßen Anruf in Hongkong kaum so einen Wirbel auslösen können.“
„Einen Wirbel?“
„Wirbel wörtlich: Was bisher verdeckt war, ist aufgewirbelt worden und liegt nun aufgedeckt da. Dafür ist jetzt das, was bisher offen lag, verdeckt. Von Ice umgeben; undurchdringlich.“
„Weiss nicht, ob ich das verstehe. Ich war quasi nicht ich, als ich in Hongkong anrief – nicht Kimura, meine ich. Ich hätte mich sonst doch wohl nicht selber angerufen.“
„Das wird in Zukunft nicht mehr funktionieren.“
„Mich selber anzurufen? Mir selbst zur Hilfe zu eilen?“
„Ja. Nein. Das heisst Sie haben es noch nicht kapiert. Und du auch noch nicht, Kimura.“
„Und Sie, Forty?“
„Vielleicht hat es noch keiner von uns kapiert. Jedenfalls hat das Hongkong-Telefon seinen Zweck erfüllt. Und der Exoot auch, wie’s aussieht. Sie tragen ihn nicht mehr.“
„Und doch beherrsche ich noch Real Speak. Darüber habe ich mich schon gewundert. Dachte immer, es sei dieser Anzug, der zum Real Speak befähigt.“
„Ja, Real Speak ist die wichtigste Funktion des Exoot. Und offenbar hat die sich auf Sie übertragen. Ein Wunder sozusagen. Ist mir selber aber auch so widerfahren. In Wirklichkeit gar kein Wunder, man kann es erklären.“
„Und zwar?“
„Ich erkläre Ihnen nicht, was Sie schon wissen.“
Dass Real Speak die Ursprache ist.
„Ist mir einfach zu irre“, sage ich. „Aber sehr praktisch, dass es funktioniert.“
„Und so wie Sie deshalb den Exoot nicht mehr nötig haben, ist für uns alle auch der SI eigentlich nicht mehr nötig. So wie wir uns entwickelt haben, hat sich auch der SI entwickelt, und was davon jetzt noch als ein Geheimdienst übrig ist, hat mit unserem aktuellen SI nicht mehr viel zu tun. Das zum Beispiel hat dieser Wirbel aufgedeckt, den Sie mit Ihrem Hongkong-Anruf ausgelöst haben. Was jetzt noch als Service of Intelligence auftritt im Sinne einer Organisation, ist bestenfalls ein Romantiker-Verein, meint schlimmstenfalls aber sogar das Gegenteil – sowohl von Romantik das Gegenteil, als auch von Service. Als auch von Intelligence.“
„Also gibt es ihn noch, den SI? Oder nicht mehr?“
„Es gibt ihn nun offiziell. Ist nur nicht mehr unser Laden. Wenn Sie ihm trotzdem die Treue halten wollen, muss Ihnen klar sein, dass da jetzt Gentlemen wie Paulson das Sagen haben.“
Ich zwirbele mir nachdenklich die Kinnspitze. „Offiziell sagen Sie? Im Filmgeschäft? Oder im Waffenhandel? Man weiss nicht so recht …“
„Mal Filme, mal Waffen. Was auch immer; auf jeden Fall: Geschäft.“
„Verstehe. Im Mainstream angekommen. Und Sie, Operas? Und die ganze alte Garde?“
„Sie kennen doch die Oberste Direktive für alle, die im SI arbeiten.“
„Dass es den SI gar nicht gibt.“
„Nun büßen wir dafür, dass es ihn dann doch irgendwann gab. Weil wohl zuviele von uns von dieser Direktive überfordert waren. Sinnlos, das jetzt zu beklagen; sinnvoll jedoch, uns das klar zu machen. Denn die weitere Existenz des SI hängt davon ab.“
„Nur um sicher zu gehen, dass ich Sie richtig verstehe: Der SI existiert nur weiter, wenn es ihn nicht gibt.“
„Haargenau. Vom SI kann nur die Rede sein, wenn es nicht der wahre ist; beziehungsweise kann vom wahren SI keine Rede mehr sein.“
„Klar, wäre es anders, würden Sie nicht davon reden. Haben Sie mich deshalb hierher dirigiert?“
„Ich wusste lediglich, dass von Istanbul aus jemand über die Hongkong-Nummer das Notfallprogramm aktiviert hat. Sie haben sich selbst hierher dirigiert, genauer gesagt Kimura.“
Sein Blick, der mich bis jetzt fixiert hat, verändert sich: durchdringt mich; geht wie durch mich hindurch, in eine Ferne hinter mir, und nimmt mich mit, sodass ich mehr und mehr, wie losgelöst von mir, das sehen kann, was er sieht. Jetzt überblicke ich sogar Gebiete, die von Ice umgeben sind – und da! – auch dieses ganz spezielle Areal – meine Gedächtnislücke. Erkenne nun, was sich in ihr verbirgt: dass es nur mich betrifft – eine winzige Einzelheit, die aus dieser beträchtlichen Distanz gesehen keine Rolle mehr spielt; die nur noch eine Bedeutung hat als der Punkt, der mich mit dem Ganzen verbindet, und der jetzt, da ich nicht da bin, nur eine leere Stelle ist, zwar angefüllt mit allerhand Persönlichem, sogar randvoll davon, jedoch ohne mein Ich, und damit ohne Relevanz.
Dieses Überschauen des Gesamtgefüges wie von ausserhalb kann nur vorübergehend sein, das ist Bedingung, solange ich in diesem Körper stecke. Und schon bin ich mit diesem Gedanken wieder in meine Person eingetaucht und das Persönliche hat wieder volle Relevanz. Und mein Bewusstsein, auf Normalformat zurückgeschrumpft, hat nun diffus die Komplikationen einer doppelten Identität vor sich: ich bin sowohl Schell, als auch Kimura, und somit weder richtig der eine, noch richtig der andere.
Ich denke zurück an das, was ich vorhin unten in der Lobby in dem alten SubNews-Heft gelesen habe, an die entscheidende Stelle in dieser Projektor-Geschichte: Sodass alle durch das Gerät dasselbe sahen: sich selbst; nicht so jedoch, wie sie sich „Selbst“ bisher gedacht hatten – das war plötzlich gar nicht mehr vorhanden.
„Plötzlich weiss ich Dinge, die ich bisher, nun ja, so gar nicht für möglich hielt –“ ich stocke. „Dinge, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie wissen könnte. Jene sogenannte Schwarmmaschine – Sie erinnern sich? Sie sprachen mit Kimura darüber, hier in diesem Büro. Und dieses Ding – man stellt sich darunter eine Art Projektor vor – ist so etwas wie ein Selbsterkenntnis-Apparat? Ist man also, äh – bin ich also –?“
„Ja, ganz recht, dieses Ding sind Sie selbst.“
„Heisst das –? Ich bring das alles noch nicht ganz zusammen.“
„Dass Kimura ihn endlich erledigt hat, diesen alten Auftrag, nichts anderes heisst das. Indem er jetzt Sie ist, Schell; oder auch so: Indem du jetzt Schell bist, Kimura. Warum kapiert ihr das nicht einfach?“
„Weil das einfach – unglaublich ist.“ Als Kick Kimura, der ich mich schon seit langem als Romanfigur verstehe, kenne ich diese Romanwelt von innen. Es ist dieselbe Welt – die Welt der Reale –, auf die ich als Schell, der Autor, wie von aussen zu schauen gewohnt bin. Wie soll ich mit diesen konträren Perspektiven gleichzeitig umgehen? Muss ich nicht abwechselnd die eine zugunsten der anderen aufgeben? Wo wäre denn ich dabei wirklich? Nein, so wie kein Ich ein echtes Ich ist, wenn es sich teilen lässt – Moment mal! Echtes Ich? Ist es das überhaupt, echt, was die ganze Zeit hier so geläufig „ich“ sagt?
„Ich soll dasselbe – gleichzeitig – wissen und nicht wissen – da macht bei mir die Logik einfach noch nicht mit.“
„Sie praktizieren es doch schon. Sind sich dessen nur noch nicht bewusst. Wer sagt denn, Sie müssen irgendwie zwischen zwei konträren Perspektiven hin und her hüpfen? Sie sind doch jetzt in aller Ruhe Schell, oder nicht?“
„Ja, doch, kann sein.“
„Und genauso, wenn es an der Zeit ist, sind Sie ganz in Ruhe einfach Kick Kimura.“
„Und werde nicht irgendwann schizophren davon?“
„Im Gegenteil. Jetzt lässt die Schizophrenie überhaupt erst nach. Aus der Schell- und der Kimura-Perspektive wird ein Gemeinsames entstehen, und daraus dürfte, wenn es glatt läuft, eine eigenständige dritte Ich-Perspektive werden.“
„Und wenn es nicht glatt läuft?“
„Das malen wir uns gar nicht erst aus.“
Wir betrachten eine Weile schweigend, wie das orangene Abendlicht in diesem Raum an Intensität gewinnt …
„Das alles hat sich lange angebahnt“, sagt Forty Operas.
Ich nicke. „Und musste also irgendwann so kommen. Und zwar jetzt, weil hier ein Kreis sich schliesst, wie man so schön sagt.“
„Wie einer dieser Tricks, die von den Zauberern im alten Ägypten ins Werk gesetzt wurden und erst heute ihre Wirkung entfalten.“ Er lehnt sich zurück, zupft an einem Silberkettchen seine Uhr aus der Westentasche, wirft einen Blick darauf und steckt sie zurück.
„Die Sache, die so einfach ist, wie Sie jetzt ja wohl begriffen haben – dass Sie sowohl Schell, als auch Kimura sind –, hat natürlich auch eine überaus komplizierte Seite.“
Um ein Aufstöhnen zu unterdrücken, sage ich: „Dacht ich’s mir doch.“
„Wie ich damals sagte – laut jener SubNews-Geschichte – lesen Sie die nochmal –, hat man mit der Schwarmmaschine informatisches Neuland vor sich. Natural Computing. Dabei ist die Sache, wie ich sagte, ur-uralt.“
„Uraltes Neuland. Verstehe. Das Alte wurde neu codiert.“
„Genau. Eine Aktualisierung. Des altägyptischen Zaubertricks, könnte man metaphorisch sagen. A2X27 – das haben Sie sicher schon mal gehört.“
Ich nicke. „Ein Code, der irgendwas mit einem Reality-Spiel namens Flysh zu tun hat. Und das war’s auch schon, was ich darüber weiss.“
„Weil A2X27 ganz einfach Flysh heisst. Nur das zu wissen bringt nichts, solange man nicht weiss, was Flysh bedeutet.“
„Und Sie – verraten mir das jetzt?“
„Man kann es nicht verraten. Das aber kann ich Ihnen sagen: Sie sind nur hier, weil Sie es – zumindest ungefähr – schon wissen. Oder anders gesagt: Was Sie wissen, Schell, muss sich irgendwie mit dem ergänzen, was Kimura weiss. Wie, weiss ich nicht; ist eure Sache. Solange jedenfalls nicht klar ist, wie Flysh ganz konkret im Einzelnen durch A2X27 codiert ist, lässt sich nichts anfangen mit diesem Code. Solange bleibt es – na ja –“
„Schizophren? Pathologisch?“
„Sagen wir so: In dem, was glatt laufen sollte, aber auch leicht schiefgehen könnte, gibt’s jedenfalls kein Zurück mehr.“

S.11

Falsche Adresse

Wann immer der Name Geo Rey fällt, oder ich auch nur an ihn denke, wird mir mulmig. Gilt dieser Rey doch als der meistgesuchte Verbrecher der Welt, als der Bösewicht schlechthin, das krakige Ungeheuer, das mit seinen verborgenen Tentakeln überallhin reicht. Und nicht minder mulmig wird mir, wenn der Begriff MoTech auftaucht, so eng wie der mit Geo Rey verknüpft ist … Davon lieber ein andermal, nämlich mulmig ist mir gerade zur Genüge. Denn in dieser Hafengegend hier, in der vergammelten Lobby dieses spärlich belebten Bürogebäudes, will so eine ganz unheimliche Sorte von Deja-vu-Gefühl gar nicht mehr von mir weichen.
Habe mich nach der SubNews-Lektüre über die Schwarmmaschine dermaßen in Gedanken verloren, dass ich erst jetzt den Mann bemerke, der telefonierend in der Halle auf und ab geht; hochgewachsen, hager, Mitte fünfzig etwa, rauchend. Sein Gemurmel klingt britisch, doch das einzige Wort, das ich verstehe, ist ein deutsches: Rheinmetall.
Etwas zu britisch; als hätte er gelernt, Brite zu sein … Kenne ich den nicht? Ja, verdammt; sehe eine Akte vor mir mit Fotos von genau diesem Typ. Und bin ich ihm nicht irgendwann sogar schon mal begegnet?
Jetzt kommt er auf mich zu: „Sie wollten eventuell zu mir?“ Er lässt die gerauchte Zigarette auf den Boden fallen, „Paulson“, und dreht den Schuhabsatz darauf energisch hin und her, „Tyrus Paulson.“
„Schell.“
„Schell?“ Er runzelt die Stirn.
„Vielleicht können Sie mir weiterhelfen, Mr. Paulson …“, ich reiche ihm die Visitenkarte.
Sich eine neue Zigarette anzündend, liest er vor: „Mek al-Möffi Merikanski“ und grinst mich schief an. „The Framing Company. Wie’s aussieht eine Service-Karte“, er reicht sie mir zurück, „alles klar, Schell Effendi. Folgen Sie mir.“

Als wir in die Filiale des International Maritime Bureau eintreten, kündigt er mir some nice cup of tea an. Ein Chefbüro wie in einem alten Film, gediegen, gemütlich, verqualmt. Er nickt in Richtung eines bequemen Sessels und hält mir seine Zigarettenschachtel vor die Nase. Craven A. „Danke, nein.“ Obwohl ich auf so eine nun wirklich Lust hätte. „Sie rauchen nicht?“ „Doch.“ „Aber?“ „Nicht immer“; ich winke ab: „Komplizierte Geschichte.“ Worauf er mit den Achseln zuckt: „Gibt’s dieser Tage überhaupt noch unkomplizierte Geschichten?“
Jetzt fallen mir nach und nach ein paar Eckpunkte aus der Tyrus Paulson-Akte ein: Aus Malta stammend. Ex-Royal Navy. Diplomat. Okkultist. Business-Kenner, und – Kenner des Service of Intelligence.
„Schell? Wirklich Schell?“ Kurzes kaltes Grinsen. „Na schön, also Schell.“
Was er unter einem Tässchen Tee versteht, erweist sich als großzügig eingeschenktes Glas Scotch. Dann beginnt er vor sich hin zu faseln: Ein Frachter sei verschwunden, ein ukrainischer Schlepper im Angebot, eine Ladung Honig ohne Besitzer; und an Passagen übers Schwarze Meer stehe ein Schiff nach Odessa und eines nach Batumi zur Auswahl.
„Klingt ja alles sehr interessant, Mr. Paulson.“
„Vielleicht können Sie mir auch weiterhelfen, Mr. Schell. Es scheint sich etwas anzubahnen; genaueres weiss man noch nicht; nur dass kürzlich irgendeine üble Ladung Istanbul erreicht hat. Könnte auch bloß mal wieder ein Ablenkungsmanöver sein. Aber die türkischen Kollegen machen sich aufs Schlimmste gefasst. Hier –“ Paulson reicht mir ein Foto herüber – „das ist bisher der einzige konkrete Hinweis.“ Ein kompliziertes, durch starke Vergrößerung ziemlich verschwommenes Gebilde, das an ein mittelalterliches Siegel erinnert.
„Ist Ihnen das in letzter Zeit vielleicht mal irgendwo begegnet?“
Ich nutze die Betrachtung des Fotos, um meine Augenmuskulatur zu entspannen, und sage: „Sieht wie ein Zeichen aus. Also wirklich sehr interessant.“
Paulson betrachtet mich daraufhin nur leicht belustigt; schweigt und zündet sich die nächste Craven A an. Und in dem anhaltenden Schweigen höre ich Kick Kimura in mir, seine Warnung: Diesen maltesischen Englishman bloß nicht unterschätzen!
„Okay“, sage ich schliesslich. „Geht’s um Waffen? Ich hörte Sie unten in der Lobby Rheinmetall sagen.“
„Da haben Sie sich verhört. Ich sprach mit jemandem in Bayreuth wegen Karten für den nächsten Rheingold-Abend. Diese Wagner-Oper, Sie wissen schon … Was man dafür heutzutage hinblättert, unglaublich!“ Dann mit einem Lächeln: „Würde fast sogar ausschliessen, das es um Waffen geht.“
„Angenommen, Sie könnten den türkischen Kollegen tatsächlich Hinweise anbieten, brächte Sie das nicht in Schwierigkeiten? Würde man nicht unbedingt wissen wollen, woher –“
„Die Kollegen bekämen die Information natürlich anonym zugespielt.“
„Vielleicht als die zufällige Aufzeichnung einer Plauderei? Solch einer wie dieser hier zum Beispiel?“
Paulson zuckt die Achseln. „Sie haben also keine Ahnung.“
„Ich kam wegen Mek al-Möffi.“
„Heisst, Sie brauchen ziemlich dringend irgendwas.“
„Nur einen neuen Reisepass.“
„Um vom Fleck zu kommen, verstehe. Sie wollen weiter. Wie gesagt, die eine Option ist Batumi, die andere Odessa.“
„Al-Möffi.“
„Ach ja, der – al-Möffi Merikanski!“ Paulson kichert. „Der ist – tja, wo eigentlich? Man weiss es gar nicht. Aber zum Glück hängt ja der Service nicht von jemandem wie ihm ab.“
Was ist denn das für ein Spruch? Doch lass ich mir nicht anmerken, wie sehr befremdet ich bin; sage, während ich so tue, als würde ich ein Gähnen unterdrücken: „Nun gut, dann eben nicht“, und mache Anstalten mich zu erheben.
„Warten Sie doch mal, mein Guter!“ Mit lässigem Fingerspiel, klack-klack, weckt er den Schreibtisch-Rechner. „Mal sehen, was wir haben …“
Und jetzt die Show: Tief zurückgelehnt, behaglich ein Bein übers andere geschlagen, nippt er andächtig an seinem Scotch, während seine Linke mit der qualmenden Craven A gleichsam von allein über die Tasten huscht. Das ist zuviel, ich muss den Blick abwenden, um nicht laut aufzulachen. Doch fällt mir da nur noch mehr Zuviel ins Auge, nämlich auf einem gerahmtes Foto an der Wand: ein sehr männlich grinsender Tyrus Paulson beim handshake mit einem Typ, der dasselbe Grinsen zeigt, jedoch das Original, so wie es die ganze Welt kennt, denn das ist – ja, wirklich: Sean Connery! Ex-007.
Ich schliesse kurz die Augen und habe die Paulson-Akte wieder vor mir. Der ist da nicht nur aufgeführt als Kenner des SI; vielmehr war er jahrelang selbst im Service unterwegs, und zwar als Schiffsoffizier auf allen Meeren. Und gibt sich jetzt, als sei der Service of Intelligence quasi sein Laden … Interessante Entwicklung.
„Tja“, sagt er nun, „muss ja nicht unbedingt ein neuer Pass sein, oder? Wenn’s der alte doch auch noch tut.“ Ich blicke ihn daraufhin nur sehr fragend an. „Denn wie ich hier sehe, gibt’s unter den ausländischen Pässen, die heute im Laufe des Tages auf dem Schwarzmarkt angeboten wurden, auch einen deutschen auf den Namen Schell.“
„Passt gut, würde ich sagen. Können Sie ihn mir beschaffen?“
Er macht ein Pokerface. „Aber klar. Kommt nur darauf an, wo er für Sie bereitliegen soll. Ob Sie nach Batumi oder nach Odessa wollen.“
„Das ist der Deal? Was such ich in Batumi?“
„Was suchen Sie in Istanbul? Das ist doch nicht die Frage. Sie sind in service. Oder nicht? Und finden Sie den Orient nicht reizvoll? Batumi, die Stadt, nun ja. Aber von dahinten hätten Sie’s dann gar nicht mehr weit nach Georgien.“
„Soll das etwa eine spirituelle Tour werden, Mr. Paulson?“
„Ja was denn sonst!“ Dann mit einem nachsichtigen Lächeln: „Aber ist natürlich in Ordnung, dass Sie mir auf den Zahn fühlen. Herrscht ja neuerdings eine gewisse Verunsicherung in der Branche. Das sollte uns nicht weiter irritieren. Unser Mann am Zoll bekommt Beischeid. Wird Ihnen den Pass aushändigen und Sie zu dem Schiff nach Batumi bringen. Brenda, ein Tanker mit richtig guter Küche. Legt circa um Mitternacht ab.“
„Und falls ich mich für Odessa entscheide?“
„Dann heisst der Kahn Uzmir 9 und Sie bekommen’s mit Halsabschneidern zu tun; und wie ich hörte, ist die Bordküche regelrecht verseucht. Falls Sie also in Odessa ankommen, sind Sie jedenfalls auf medizinische Versorgung angewiesen.“
„Warum dann überhaupt diese Option?“
„Der Freiheit wegen. Um sich auch irren zu können. Ist ja nun mal – wie nannten Sie es so treffend? – eine spirituelle Tour.“
„So so. Sache ist nur die, Paulson: Ich glaub schon mal gar nicht an diesen Pass.“
„Ach, Schell, so sind Sie konditioniert? So sehr auf Misstrauen? Wer war denn wohl bisher Ihr Operator? Möchte wetten, Ladenheuser.“
„Sie kennen ihn?“
„Den alten Zausel, klar. So bravourös wie der die Technik-Folgenabschätzung ins Abseits manövriert hat, ist der doch weithin eine Berühmtheit. Das hat man davon, wenn man immer und in allem nur das Kriminelle sieht. Leider scheint sich Ihnen dieses krankhafte Misstrauen auch schon tief eingefleischt zu haben. Wo jemand Rheingold sagt, hören Sie gleich Rheinmetall. Tun Sie was dagegen, rate ich Ihnen. Im übrigen glaube ich, dass wir zwei uns schon mal irgendwo begegnet sind; wenn nicht des öfteren sogar. Kann das sein?“ Dabei hat er eine Schublade geöffnet und hält mir nun, was er da hervorgeholt hat, aufgeklappt vor Augen; nur kurz, doch lang genug, um zu erkennen, dass dieser Reisepass zweifelsfrei meiner ist.
„Sehr vorausschauend, Paulson“, sage ich, „Chapeau!“ und strecke die Hand aus. Doch er behält ihn; fängt an, im Schreibtisch herumzusuchen.
„Sie bekommen den Pass von unserm Mann beim Zoll, und der bekommt von Ihnen viertausend Euro.“
„Soviel kostet ein gefälschter!“
„Ich weiss. Auch hier müssen die Leute von irgendwas leben.“ Jetzt hat er das Gesuchte gefunden, einen Briefumschlag; schiebt da den Reisepass hinein und zückt sein Gerät. Tippt aufs Display, wartet, sagt dann: „Gibt hier was abzuholen“ und steckt das Gerät wieder ein. „Nun, Mr. Schell, Ihre Entscheidung: Buchen wir Sie auf die Brenda nach Batumi?“
Da ich noch schweige, nickt er, „Gute Wahl“, und zündet sich die nächste Craven A an. „Die Viertausend haben Sie passend, hoffe ich?“
Ich nicke. „Nur dass ich nicht die Brenda nehme, sondern das Schiff nach Odessa.“
„Die Uzmir 9, okay. Wie Sie wünschen. Dieselbe Prozedur: unser Mann bringt Sie an Bord, Sie zahlen, dann kriegen Sie Ihren Pass. Der Zoll ist hier ein ziemlich großer Laden. Um von unsern Leuten da den Richtigen zu finden –“ er kritzelt kurz auf einen Zettel, reicht ihn mir – „rufen Sie diese Nummer an und fragen nach Cranston Lamont.“
„Toller Deckname.“
Paulson lächelt müde. „Sind die alten Filme nicht immer die besten? Nicht weil sie alt sind, meine ich.“
Ich deute dazu nur ein Achselzucken an. Mir reicht’s; habe jetzt hier lange genug den Schwachkopf gespielt. „Danke für den Whisky.“
„Aber Sie haben ja kaum davon probiert!“
„Nichts für ungut, Sir.“ Ich greife nach meinem Rucksäckchen und erhebe mich.
Paulson, jetzt wieder tief zurückgelehnt, geniesserisch die Nase über seinem tumbler, legt wie in milder Betrachtung den Kopf ein wenig schräg. „Wissen Sie eigentlich, Schell, woran es Ihnen ganz erheblich mangelt? An Demut.“
Ich nicke. „Da mein Operator – besagter Ladenheuser – auch dieser Meinung ist, muss da wohl was dran sein. Leben Sie wohl, Paulson.“

S.10

Die Schwarmmaschine

Wie oft ich diesen Hafengeruch schon eingesogen habe und ihn jedesmal, wo auch immer, so wie jetzt empfand: wie ohne Heimat überall zuhause. Wenn ich der Menschheit einen Geruch zuordnen müsste, ich glaube, es wäre dieser.
Die gesuchte Adresse ist ein ziemlich hohes und langes Geschäftsgebäude, völlig schmucklos, abgesehen von diversen großen Werbeschriften an der Fassade; und wie der nette Taxifahrer gesagt hatte, ist auf keinem der vielen Schilder an den verschiedenen Eingängen The Framing Company zu finden.
Man nehme nur nicht wörtlich, was auf der Visitenkarte eines professionellen Fälschers steht; schon gar nicht, wenn klar ist, dass dieser Fälscher, der sich Mek al-Möffi Merikanski nennt, nur der alte Murphy sein kann. Und also – typisch Service of Intelligence – dürfte diese falsche Adresse die richtige sein.
Im übrigen ist mir, als sei ich schon mal hier gewesen. War ich zwar nicht, ergibt aber Sinn, wenn ich bedenke, wie japanisch ich inzwischen aussehe; wie ich dem Anschein nach Kimura bin. Zumindest auch Kimura bin. Und hier also als Agent im Service of Intelligence auftrete. Und als solcher durchaus schon mal hier gewesen sein könnte.
Hey, ich weiss nicht: ob die Notfallnummer zu wählen eine so gute Idee war? – Zu spät; du hast mich aktiviert, und jetzt weisst du, wie das ist. Und ist es etwa schlimm, Kick Kimura zu sein? – Erst einmal nur ungewohnt. Ich stelle mir vor, äh – müsste ich nicht plötzlich eine ganze Menge wissen? – Müsstest du allerdings. Hast doch wohl nicht jahrelang umsonst in der Technik-Folgenabschätzung gearbeitet. Du weisst über den Service of Intelligence Bescheid, über Forty Operas, über Murphy und Co, über mich; und auch über die MoTech, nehme ich an. Und kanntest die Nummer des Hongkong-Telefons. – Tatsächlich, ja; hatte bis vor kurzem sogar einen Exoot zur Verfügung. Nur wie ich an den rangekommen bin, weiss ich nicht mehr. Gibt da so eine Art Gedächtnislücke. – Aha. Typisch. Und hast du schon eine Ahnung, was wir unter einem Body Job verstehen? – Hm. Vielleicht das, was hier gerade läuft? Mich wundert ja nur, wie offen du sprichst; dass du sogar die MoTech erwähnst … Wir sind doch online, oder? – Spielt für mich keine Rolle mehr. Ich kenne nicht den aktuellen Stand der Dinge; bin schon zulange draussen, persona non grata seit Jahren. Was online sein darf und was offline gehört: keine Ahnung. Und was auch immer das für ein Notfall sein soll, dem ich meine Aktivierung verdanke, er ist für mich ein Glücksfall. Ich bin endlich zurück im Service. Und habe nicht das geringste zu verlieren. – So also spricht der legendäre Spezialist für ausweglose Fälle. Was ich da leider am allerwenigsten heraushöre, ist Zuversicht. – Was hast du denn erwartet, Schell? – Bisher gar nichts. Ich war skeptisch, ob ein Notfallprogramm tatsächlich existiert. Kennst du Ladenheuser? Sachbearbeiter in der Technik-Folgenabschätzung; mein Operator. Jedesmal, wenn ich dachte, dass er mir irgendeinen Mist erzählt, stellte sich heraus, dass es mir entweder an Vorstellungskraft gefehlt oder ich ihn falsch verstanden hatte. Und letztens hörte ich von ihm die Formulierung: Solange Sie glauben, Schell zu sein. – Was dir nun ja nicht mehr allzu rätselhaft vorkommen dürfte. Und jetzt, mein Freund, vertraue. Alles ist normal hier, es droht von nirgendwo Gefahr, nicht jedenfalls akut. Und was dein Äusseres angeht, so kannst du ganz beruhigt sein: gewisse Veränderungen an dir, das Japanische zum Beispiel – den Kick Kimura –, bemerkst nur du. Und du selbst übrigens, falls du dir Sorgen um dein Ego machst, bist kein bisschen weniger vorhanden als zuvor. – Bezweifle ich das etwa? Wirke ich labil? Ich mag vielleicht ein Schwachkopf sein – aber hysterisch? – Schon gut. Bleib cool. Jetzt brauchen wir den Reisepass.
Entlang der Geschäfte vor dem Gebäude herrscht mäßiger Verkehr. Ich schaue mir die Leute an, die Läden, die Umgebung. Dass Murphy noch vor Ort ist, glaube ich nicht. Doch behalte ich einen der Eingänge besonders im Auge. Dort ist mir unter den Tafeln mit Firmennamen das Schild des International Maritime Bureau aufgefallen.
Was ist mit dieser alten Frau da? Ihr schlurfender Gang wirkt irgendwie gespielt. Jetzt dreht sie sich mir zu, schaut mich kurz an. Bedeutsam? Nein. Sie hat nur meinen Blick bemerkt. Sieht mongolisch aus; wahrscheinlich aber aus Taiwan. Und was steht da auf ihrer Baseball-Kappe? SMARTLESS.
Was mir zunächst skurril erscheint, erinnert mich gleich darauf an das brandneue Smartphone, das ich im Rucksack habe. – Das lässt du dir jetzt freischalten, und zwar gleich hier in diesem Handyladen.
Der dicke Junge, der müßig da im Eingang lehnt, nickt mir freundlich zu.
Nur er und ich im Laden; sehr günstig. Zusammen mit dem Gerät fische ich auch ein Bündel Lira-Scheine aus dem Rucksack und reiche ihm beides mit den Worten: „Um das Ding in Betrieb zu nehmen, braucht man sicherlich Papiere, oder?“
„Identität, klar. Unbedingt.“ Und schon hat er das Bakschisch überprüft, für ausreichend befunden und mir ein Formular vorgelegt. Beim Ausfüllen lasse ich Spezialagent Kimura freie Hand, und anschliessend, als mir der Junge mit der Aufforderung, ein Passwort einzugeben, das Gerät zurückreicht, fällt mir auf Anhieb SMARTLESS ein.
Da ich dann gleich denjenigen der Netzanbieter wähle, den mir der Junge empfiehlt, und aus dessen Angebot einfach die billigste Prepaid-Variante, ist die Prozedur in kaum zehn Minuten erledigt. Zuletzt bekomme ich noch die offizielle Rechnung ausgehändigt, mit der Bemerkung: „Nur dass Sie mich bitte nicht weiterempfehlen.“

Und nun? Wie komme ich an meinen neuen Pass? – Wir sind im Service of Intelligence, deshalb ist eher die Frage die, wie der Pass zu dir kommt. Bedenke, was du aus dem Bazar als Kompensation für den verlorenen Exoot mitgenommen hast. – Die Adresse eines Fälschers. Die falsch ist. Sowie ein Smartphone. Das ich nur deshalb brauche, weil ich ohne zu sehr auffallen würde. Und drittens die Zeitschrift, SubNews aus den 1990ern. In japanischer Sprache. – Die du inzwischen fliessend beherrscht, wie du bemerkt hast. Sodass wir jetzt zum Beispiel ein bisschen lesen könnten.
Durch jenen Eingang, an dem ich das Schild des International Maritime Bureau entdeckt hatte, trete ich in eine leere Halle ein. Im Hintergrund zeigt eine Uhr 16:05 an.
Lang nicht mehr gewischte Fliesen aus Pseudo-Marmor, fleckige Riesenspiegel an den Wänden, Geruch nach altem Rauch. Nichts hat sich geändert, genauso vergammelt hatte es hier damals schon ausgesehen.
In einer der verstaubten Sitzecken hole ich das alte SubNews-Heft aus dem Rucksack und nehme, tief einsinkend, in einem klobigen Kunstledersessel Platz.
Von diesen alten SubNews, die damals regelrecht wie aus der Zukunft wirkten, interessiert mich jetzt vor allem jene Reportage mit dem Titel Die Schwarm-Maschine; weil Kick Kimura darin auftritt, wie ich mich erinnere, und mir das vielleicht erklärt, warum ich schon mal in genau diesem Gebäude gewesen sein könnte, ohne jemals hier gewesen zu sein.

Der Blick der Wissenschaftler hatte gerade mittels eines neuartigen Mikroskops die bis dato letzte sichtbare Ebene der Materie durchstoßen und war in einen subnanometrischen Bereich eingedrungen. Was da erkannt wurde, stellte auf den Kopf, was bei allen bisherigen Theorien über die Natur Voraussetzung gewesen war: dass da entweder ein auf erkennbare Weise intelligentes Schöpferwesen sich eine Physis schuf oder dass sich lediglich nach dem Zufallsprinzip etwas hier verdichtete, das von den daraus hervorgehenden Menschengehirnen gemessen und unter dem Begriff Energiefeld auf sich selbst angewendet wurde. Das neue optische Gerät zeigte diese beiden konträren Sichtweisen in absoluter Übereinstimmung; aber nun nicht als eine alleinige Sichtweise, nicht also als eine Weise unter anderen, sondern als die Sicht an sich: das Sehen. Sodass alle durch das Gerät dasselbe sahen: sich selbst; nicht so jedoch, wie sie sich „Selbst“ bisher gedacht hatten – das war plötzlich gar nicht mehr vorhanden. Und das war eine einschneidende Erfahrung, denn auf einmal, schlagartig, war alles möglich. Jeder erkannte, was Erkenntnis ist, und damit, was im wahrsten Sinne Freiheit heisst. Was nicht etwa Begeisterung auslöste, sondern große Angst. Das Gerät verschwand, und damit auch die Möglichkeit für die, die hindurch geschaut hatten, das Geschaute glaubhaft mitzuteilen; und es brauchte, da es als bloße Erzählung nicht anders als eine beliebige Science Fiction aufzufassen war, keine Geheimhaltung darum betrieben zu werden.
Zur üblichen späten Stunde im Hafenviertel von Babaal in einem provisorischen Büro des Service of Intelligence: Hinterm leeren Schreibtisch Forty Operas, der Chef, und auf dem Besucherstuhl Agent Kimura, in einer Zeitung blätternd, der neuesten Ausgabe des Reichsboten, in der, alltagssprachlich aufbereitet, obige Geschichte stand. „Wieder mal ohne Quellenangabe“, murmelte er. „Was halten Sie davon?“
„Man irrt sich“, sagte Operas. „Das Gerät hat nicht die Natur des subnanometrischen Bereichs enthüllt, sondern nur den Blick auf eine spezielle Situation freigegeben, nämlich auf die Aktivität eines Schwarms biokybernetischer Organismen.“
„Oh – Sie meinen – ?“
„Künstlich und natürlich zu gleichen Teilen.“
„Kennen wir sowas schon?“
„Natural Computing. Bis dato noch informatisches Neuland; im Grunde jedoch eine ur-uralte Sache. Für die es aber heute eines besonderen Projektors bedarf.“
Kimura mit der Zeitung wedelnd: „Von dem hier die Rede ist. Nur dass das Ding als Mikroskop bezeichnet wird. Eine Irreführung?“
„Nicht nur das. Es ist ausserdem viel zu früh aufgetaucht.“
„Und deshalb auch gleich wieder verschwunden.“
„Nur scheinbar verschwunden. Es passt sich an.“
„Heisst das, es – lebt?“
„Darüber sollte man nachdenken, wenn man diesen Auftrag übernimmt.“ Mit diesen Worten zündete Forty Operas sich seine erloschene Zigarre wieder an und hüllte sich in Qualm.

Bei diesem Auftrag bin ich mir nie sicher gewesen, ob ich ihn wirklich verstanden hatte, und kann mich daher auch nicht erinnern, ihn je erledigt zu haben … Das heisst der Auftrag ist noch aktuell. Denn im Service of Intelligence gibt’s keine Aufträge, die sich von selbst erledigen, keine Missionen, die einfach irgendwie im Sande verlaufen … Ach, vielleicht ist das der Grund, warum man mich, obwohl ich disqualifiziert wurde, nicht gänzlich vom Service abgeschnitten hat … Dann verdanke ich es diesem noch unerledigten Auftrag, dass ich jetzt durch diesen Notfall a la Schell sogar in einem Body Job zum Einsatz komme!
Erstmal jedenfalls ist festzustellen, dass der SubNews-Schreiber diese Reportage ins Fiktive verschoben hat; eine altbewährte, wenn nicht überhaupt die älteste Vorgehensweise, um Information zu codieren. Für Istanbul aber ausgerechnet Babaal einzusetzen? War das klug? Zwar ist Babaal fiktiver als Istanbul, aber so fiktiv nun auch wieder nicht.
Was sagt uns die Phänomenologie? Vom griechisch-antiken Byzanz übers frühchristliche Konstantinopel zum moslemischen Istanbul; immer ging’s um Geistiges, um Religion. Während es in Babaal eher unreligiös immer nur um Eroberung, Freibeuterei und Welthandel ging. Babaal, soviel ich weiss, liegt auf einer schmalen Landzunge; Istanbul hingegen an einer Meerenge auf zwei Ufern. Hier ist also Land, wo dort Wasser ist, das heisst – ist die eine Stadt nicht geradezu das Gegenbild der anderen?
Das beweist natürlich nicht, dass der SubNews-Schreiber Babaal als Schauplatz der Projektor-Story wählte, um auf Istanbul hinzuweisen. Doch in diesem Spielraum des Vermutlichen, in der Unschärfe, liegt ja gerade die Stärke einer literarischen Verschlüsselung. Mir jedenfalls erklärt es, warum ich schon mal hier war, und dass ich mich nicht täusche, wenn mir diese Geschichte, die ich gerade gelesen habe, wie eine eigene Erinnerung vorkommt.
Die Story vom Projektor, der sogenannten Schwarmmaschine, betrifft also, wenn ich Kimura richtig verstehe, seinen alten, noch unerledigten Auftrag. Und mein Notfall-Alarm? Der ihn hierher geführt hat? Wie hängt der, wie hänge ich damit zusammen?
Ich denke an den Bazar zurück, an das Foto, das die Agenten dem Patron gezeigt hatten; und dann an das Kellergewölbe, in dem ich zuvor all die Kisten, Säcke und Kanister gesehen hatte, alle mit diesem komischen Siegel versehen … Hätte mir das genauer anschauen sollen.
Was lagert da? Sprengstoff? Chemikalien? Oder eine besondere Maschine in Einzelteilen? Wahrscheinlich nur Konsumramsch aus Fernost. Vielleicht Honig oder so. Gasmasken. Heroin. Oder auch nur Haschisch. Womöglich ist der Stempel das Entscheidende, das Siegel. Um das Gerücht über eine besonders brisante Lieferung in Umlauf zu bringen. Um die Agenten vor Ort so auf Trab zu halten, dass sie von dem eigentlich interessanten Geschäft, das hier gerade abgewickelt wird, nichts mitbekommen.
Geht’s vielleicht um MoTech? Ist da womöglich Geo Rey im Spiel?

S.9

Taksi on location

Um bei offenen Fenstern zu fahren, hatte ich trotz der Mittagshitze eines der alten Taxis ohne Klimaanlage gewählt. Jetzt, da uns kein Fahrtwind kühlt, weil wir in einem Stau festsitzen, bereue ich es, nicht in eines der neueren klimatisierten Taxis gestiegen zu sein. Immerhin geht von der völlig ineffektiven Emsigkeit des kleinen Propellers am Armaturenbrett ein rührender Hauch von Poesie aus.
solange Sie glauben, Schell zu sein. Das geht mir immer wieder durch den Kopf.
Drei von mir reichen nicht, solange ich glaube, Schell zu sein? Was meinte Ladenheuser damit? – Da fällt mir der Moment ein, als ich auf dieser Taxi-Rückbank Platz nahm: Eine Sekunde lang hatte ich das deutliche Gefühl, als sei noch jemand eingestiegen, genauer gesagt zwei, einer links und einer rechts von mir.
Ich wäre also gar nicht überrascht, mich hier plötzlich eingekeilt zwischen Sgyulus und Sprosbral wiederzufinden. Doch ist das wahrscheinlich gar nicht nötig, solange ich an sie denke und mir bewusst bin, was sie mir versinnbildlichen, nämlich das, was mir ständig die geistige Klarheit zu trüben droht: Halluzination und Voreingenommenheit.
Dass mir jetzt wieder das Gefühl bewusst wird, beobachtet zu werden, hat den konkreten Anlass, dass der Fahrer mich im Rückspiegel aufmerksam beäugt. Ein Mann mittleren Alters ohne eine erkennbare Ambition, etwas darzustellen, was über seine Funktion als Taxifahrer hinausginge. Offenbar hat er Schwierigkeiten mit der Einschätzung meiner Person. Dem nach, wie ich ihm die Adresse nannte, scheine ich ganz gut türkisch zu sprechen; sehe aber aus wie ein ausländischer Tourist; Touristen jedoch geraten höchstens ausversehen in jenen Bazar, vor dem ich in sein Taksi stieg; und auch das Ziel der Fahrt ist kein touristisches.
Er wendet mir kurz eine resignierte Miene zu und stellt mit einem Seufzer fest: „So ist das hier. Immerzu Stau.“
„Für mich kein Problem, im Gegenteil. So habe ich Zeit zu gucken. Ich suche locations. Ganz normales heutiges Istanbul.“
„Ah, verstehe, Sie sind vom Film.“ Er klingt erleichtert. „Action?“
„Nur so viel wie nötig. Mystery, würde ich eher sagen. Die Geheimnisse und Wunder hinter den Kulissen des grauen Alltags.“
„Interessant,“ bekundet er höflich, „klingt nach Kunst“, und setzt lachend hinzu: „Allemal besser als Politik!“
Hoffentlich fragt er sich nicht, was ich mich fragen würde: Ein Location-Scout ohne eine Kamera im Anschlag?
Als der Verkehr dann mal ein wenig zügiger fliesst, erklärt er mir, es sei gerade vor uns irgendwo eine Protestveranstaltung im Gange, daher müssten wir einen kleinen Umweg nehmen. „Man protestiert gegen die Wasserpolitik der Großkonzerne.“
„Hier?“, wundere ich mich.
Da zeigt sich, dass der Mann gut informiert ist: „Die vom World Water Council dachten sich, in Istanbul würde sich niemand für ihre inoffizielle Sonderkonferenz interessieren. Dann haben aber die hiesigen Aktivisten intensiv getrommelt und eine beachtliche Gegenveranstaltung zustande gebracht, mit Kapitalismus-Gegnern aus aller Welt. Wie es heisst, hat sogar unser Präsident dafür ein paar Strippen gezogen.“ Er schaltet das bislang kaum hörbare Radio auf hörbar.
„Der Präsident?“, hake ich nach. „Unterstützt die Kapitalismus-Gegner?“
„Na ja, könnte doch sein. Er ist der einzige, der die Investoren daran hindern kann, auch hierzulande alles an sich zu reissen. Deswegen unterstützen wir ihn doch!“
„Verstehe …“
Pause. Was soll ich sagen? Soll ich es bezweifeln? Zu bedenken geben, dass vielleicht die Regierung genau andersherum tickt?
Er setzt hinzu: „Was er den Investoren ganz bestimmt nicht kampflos überlassen wird, ist unser Wasser!“
Ich frage lieber nicht, woher er seinen Optimismus nimmt. Mir fällt ein, was ich letzte Nacht die amerikanische Stimme aus dem Fernseher im Teehaus sagen hörte: By any means necessary. Der unverholene Befehl, jedes Mittel einzusetzen, um zu erreichen, was nötig ist.
Jetzt aus dem Radio die Meldung, dass die Protestdemonstration zu terroristischer Propaganda missbraucht worden sei und zur Stunde von der Polizei zerschlagen werde.
„Sind Sie sicher, dass der Präsident die Kapitalismus-Gegner, äh – unterstützt?“
„Dass die Polizei so eine Veranstaltung auflöst, heisst doch gar nichts. Das gehört dazu; aus Prinzip, wenn Sie so wollen.“
„Ach so, okay“, und ich muss wieder einmal feststellen, dass ich wirklich zu naiv bin, was Politik angeht. Kannst ja auch nicht alles kapieren, sage ich mir und betrachte die langsam vorbeiziehenden gelblichen Häuserblocks im smogtrüben Licht der Nachmittagssonne.
Ein Film der Geheimnisse und Wunder hinter den Kulissen des grauen Alltags … Tatsächlich trifft es das doch irgendwie. Kommt mir alles so kulissenhaft vor. Aber für wen arrangiert?
Für alle Beteiligten, klar. Für uns, die wir alle mittendrin sind. Sind wir also das Publikum? Oder zumindest die von uns, die nicht nur zuschauen, sondern sich auch des Zuschauens bewusst sind? Komischer Gedanke: Wer sieht denn das alles durch uns hindurch?
Wer käme noch als Publikum infrage, überlege ich, ausser uns, die wir hier die Sichtbaren sind? Die Toten etwa? Unsere Ahnen? Engel vielleicht? Götter? Oder warum nicht gleich – Gott? Ganz zu schweigen von irgendwelchen Intelligenzen in fernen Observatorien. Oder einfach nur die Angestellten der diversen Überwachungszentren? Willkommen im Reich der unbegrenzten Paranoia …
Vorne eine winzige Bewegung, und zwar im Rückspiegel: das Stirnrunzeln des Fahrers. Er beobachtet mich. Und ich verrücke ein wenig das Sichtfeld und schaue jetzt an seinem Blick vorbei in mein Gesicht – wie? Das soll ich sein?
Die Visage eines Komikers, der sich gerade erschrocken vor der eigenen Betroffenheit fragt: Ist das noch witzig? Ein Moment gar nicht unähnlich dem, da man zufällig einmal, schlagartig objektiv, sein tatsächliches Alter erkennt.
Das da kann nicht ich sein … Wer ist das? Den kenne ich quasi gar nicht. Was hat dieses Gesicht noch mit mir zu tun? Allein die Augen: waren die nicht immer blau? Jetzt sind sie – dunkel. Und ich lüpfe die Schirmmütze und muss feststellen, dass mein Haar auch nicht mehr blond ist, sondern – schwarz! Hey – das geht ja wohl nicht! Das geht nun wirklich über jedes Maß – also: Das. Geht. Zu. Weit.
Bin ich noch ich?
Durchatmen, befehle ich mir. Sei Maske, Gesicht!
Da war doch schon genügend Seltsames seit letzter Nacht, und nach alledem wird dich eine kleine Formwandlung doch jetzt nicht mehr aus dem Konzept bringen …
Aber was da in mir hochkommt, ist unverkennbar Panik.
„Was ist mit Ihnen, Effendi?“
„Na ja, die Hitze. Der Stillstand. Die miese Luft. Was soll das alles, fragt man sich.“
„Das kenne ich. Man weiss kaum noch, wer man ist. Was mir da immer am besten hilft …“, er langt vor dem Beifahrersitz in eine Kühlbox und reicht mir eine kalte Büchse Coke.
„Danke, Mann!“
„Alles völlig normal. Und gleich sind wir auch da, vielleicht. Das ist hier schon das Hafengebiet.“
Ich kann’s nicht lassen, schaue wieder in den Rückspiegel – und da ist er immernoch, der andere. Eine Art Japaner, würde ich sagen.
Das kann nur eine Halluzination sein. Aber wenn man halluziniert, bemerkt man das doch gar nicht. Dachte immer, das sei gerade das Wesentliche am Halluzinieren. Dass man sich dessen nicht bewusst ist.
Dann also halluziniere ich jetzt – nicht? Nicht mehr? Dann wäre vorher etwa alles Halluzination gewesen? Der ganze Schell – nur halluziniert?
Kann ich das glauben? Nein. Irgendwas stimmt daran nicht.
Was heisst überhaupt Halluzination? Steckt luz drin, lux, Licht; und Luzifer natürlich. Und das hal – von hel? Altes Wort für Sonne. Hell. Also vielleicht eine von der blendenden Helligkeit des Sonnenlichts bewirkte Täuschung der Sinne; in einem Wort: Verblendung. Eine umgekehrte, eine falsche Erleuchtung – Verfinsterung, die man nicht bemerkt. Plausibel, finde ich, weil doch was man sieht vom Unsichtbaren abhängt, das heisst vom Licht, das man als solches ja nicht sehen kann – und wovon hängt ab, dass man überhaupt sieht?
„Sie gucken so komisch, Effendi …“
„Diese Coke … Schmeckt ja lecker, aber jetzt wär mir doch das Gegenmittel lieber.“
Worauf der gute Mann mir wortlos ein Fläschchen Wasser rüberreicht.
Ich bedanke mich und trinke. „Man kann ja nie wissen“, fange ich dann an, und zögernd: „Interessiert Sie Wissenschaft?“
„Ein bisschen“, er zuckt die Achseln, „eigentlich nicht. Kommt drauf an.“
„Was wissen Sie über die Zirbeldrüse?“
„Dass es sie gibt; in der Nähe der Nasenwurzel. Dass wir irgendwie damit das Sonnenlicht verarbeiten. Und dass sie etwas mit der Großzehe zu tun hat; die lateinisch deshalb hallux heisst, wie meine Schwägerin behauptet. Wieso fragen Sie?“
„Weil mir das Gemeinsame an Hallux und Halluzination so rätselhaft erscheint.“
„Aha. Dachte ich mir’s doch, dass mehr dahinter steckt als bloß Hitze und die miese Luft. Ihr Unwohlsein ist geistiger Natur. Trete ich Ihnen damit zu nahe?“
„Sie verblüffen mich, mein Herr. Haben Sie es noch konkreter? Dann nur zu!“
„Von wegen Sie suchen locations – bestimmt nicht für einen Film über die Geheimnisse und Wunder hinter den Kulissen des grauen Alltags. Vielmehr reicht’s Ihnen mit den Geheimnissen, und wegen der vielen Wunder haben Sie inzwischen allen Grund, an der Realität zu zweifeln. Wie knapp liege ich daneben?“
„Knapper geht’s nicht. Und was empfiehlt sich, von kalter Coke mal abgesehen?“
„Nun ja …“, wie hin und her gerissen. „Gibt’s zu der Adresse, die Sie mir genannt haben, eine Alternative? Weil, die gibt es zwar, diese Adresse, nur The Framing Company, die gibt’s da nicht mehr.“
„Und das sagen Sie mir jetzt.“
„Hm, ja, dumm von mir … Aber vielleicht hat man da ja auch nur das Aussenschild abgeschraubt, ich meine, sich umbenannt oder so.“
„Genau, sowas kommt doch dauernd vor. Um den Kulissen des grauen Alltags ein wenig Abwechslung zu verleihen.“
„Sie nehmen es mir also nicht übel? Ich wollte Ihnen den Optimismus nicht verderben.“
„Was wär das für ein Optimismus, der von einem Firmenschild abhinge?“
„Gut. Dann sind wir auch gleich da.“

S.8

Kick Kimura, nachts

Dieses Gefühl: zu steigen, zu steigen, zu steigen, immerzu höher zu höher gehoben, wie zum Orgasmus getragen, nur äusserlich anders, gelassen, und innerlich anders, gezwungen, gleichwie rasend ins Kleine, umso viel größer erweitert als jemals zuvor, unumfasst zu nichts verdichtet wie alles auf einmal gelöst, ein Ja-Gedicht vom Grunde gerissen, jawärts geschleudert von rundum schallendem Nein, wie Ohnmacht gemacht aus donnerndem Stillpunkt, ohne Höhe, ohne Gerade, Schwellung nur, Rauschbogen zum Kreisgestrudel, aus sich in sich, in- und auseinanderfliegend, auf Sein und Nichtsein gestoppt –: dieses Gefühl. Dabei tausend Gedanken wie ein Blitz, der sie grell alle zu nichts zerbrennt. Als würde man gar nicht denken. Ist selbst dabei in aller Ruhe Gedanke. Und steuert die Sache, lenkt sie präzise dahin, wo sie hin soll. Sehr einfach, solange nur dahin auch er will. Er? Solange nicht zwei- oder dreifach, oder sonst wievielfach, sondern eben nur einfach: er, Kick Kimura, Romanheld von Beruf.
Er weiss, es ist eine Große Welle, eine der ganz Großen, eine wie man sie nur höchst selten erwischt, vielleicht sogar die Welle, die größte seines Lebens …
Der Moment, da sie ihn nimmt, ist der entscheidende: Ist er richtig da? Und ist er richtig da? Nimmt sie ihn auf? Hat sie ihn?
Jetzt steigt er nicht mehr, er ist jetzt obenauf … Wenn er sich jetzt falsch bewegt …
Schlagartig ist ihm klar: Das wird ein Body Job.
Jetzt trägt die Welle ihn. Und der Sinkflug beginnt. Er kann nichts mehr tun, braucht sich nur noch zu entspannen, nur noch zuzustimmen. Denn da mit seinem Eigenwillen auch alle Angst verschwunden ist, hat Zustimmung jetzt Raum, ist jede Menge Platz für reines Ja-so-sei-es.
Bin ich noch da?, so fragt er sich und sagt sich: Endlich weiss ich, wer noch da ist. Und fühlt nur Dank zu diesem Wesen, das noch da ist – und so mächtig da ist, dass kein Name dafür ausreicht.
Das hast du schon erlebt, mehrmals, und jedesmal war es wie jetzt: erstmalig; einmalig; einzigmalig; aller Anfang. Daran erkennst du es: das Notwendige. Erkennst es ganz, und neu. Dass du das Notwendige zu erledigen hast. Und was das Notwendige ist. Ein Body Job. Und vor allem: dass du das Notwendige erledigen darfst
Darüber staunt Kick Kimura gar sehr. Denn bis eben galt es ihm als ausgeschlossen, dass man ihm jemals wieder einen Body Job erlauben würde. Er konnte froh sein, dass ihm überhaupt gestattet wurde, im Service of Intelligence noch wenigstens als Handlanger sich nützlich zu machen. Und plötzlich dies; sodass er sich fragt: Ist etwas so großes passiert, dass sie auf einmal jeden brauchen? Dass sogar eine persona non grata wie ich wieder ganz oben mitspielen darf?
Eben noch wäre das keine Frage gewesen. Dass er nun in profanes Bedenken zurückfällt, zeigt ihm an, dass der Transit zuende ist, die Welle jetzt ausläuft, ihn gleich absetzen wird …
Und da gewinnt er schon Boden, läuft, rennt …
Auf einer Straße, einer Brücke …
Und jetzt: Sprint! Denn Schüsse krachen, und ihm ist klar, die gelten ihm. Er wird verfolgt.
Eine Routine. Er ist jemand in Panik. Okay. Er weiss, was er zu tun hat: das, worin er Meister ist; weiss, was da in seiner Jackentasche klingelt, dem Anschein nach ein Telefon, und weiss, wozu das gut ist …
Du träumst, sagt er sich.
Er kauert auf einem Bett, nackt und nassgeschwitzt, erschöpft. Von dem Gelb einer Straßenlaterne dringt ein wenig in das dunkle Zimmer. Das Telefon, so stellt er fest, hat mich geweckt – muss ich geträumt haben. Es hängt in einem Schnellimbiss in Hongkong, an einer Wand ganz hinten, wo die Vorräte gestapelt sind.
Über den Anrufbeantworter dieses Telefons konnte man ihn kontaktieren; ihm die Nummer für einen Rückruf oder auch gleich die Koordinaten eines Treffpunkts nennen; und früher hatte man ihn auf diese Weise andauernd ins Spiel geholt. Doch damit ist es schon lange vorbei. Seit er im Service of Intelligence in Ungnade gefallen war, brauchte ihn niemand mehr. Und das Hongkong-Telefon hätte eigentlich stillgelegt werden können. Irgendwer aber hatte entschieden, offenbar in weiser Voraussicht, dass diese Nummer dem internen SI-System als eine Notfall-Funktion erhalten bleibt. Irgendwer also setzte darauf, dass im Fall der Fälle Kick Kimura doch noch zu gebrauchen sei, mit andern Worten: dass er nie die Bereitschaft aufgeben würde, seine Verfehlung wiedergutzumachen durch bedingungslosen Einsatz im SI.
Doch ob heute immernoch jemand darauf setzt? Ob die Nummer noch jemandem bekannt ist? Ob man sich überhaupt an Kick Kimura noch erinnert? Schon so lange ist Zeit vergangen, denkt er, dass ich eines nur ganz sicher weiss: dass ich bereit bin. Und dass es irgendwo geklingelt hat.
Das eine Klingeln war im Traum, es kam vom Handy in der Jacke. Aber das andere Klingeln, das hat mich geweckt … Wenn es das Hongkong-Telefon war … dann … liegt ein Notfall vor.
War es aber wirklich das Telefon in Hongkong, das geklingelt hatte?
Er zieht das Nächstliegende in Betracht: das Telefon am Bett. Ein Gerät, dessen Klingeln er kennt; das aus derselben Ära stammt wie das alte Ding in Hongkong. Beider Klingeln klingt so, wie in jener Ära alles Telefongeklingel klang: einfach wie Klingeln.
Da aus dem Telefonnetz die Vernetzung aller Geräte hervorgegangen ist, nämlich die Gesamtvernetzung, in der das einzelne Gerät nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, kann das Hongkong-Telefon inzwischen überall sein, das heisst kann jedes ähnliche Telefon seine Funktion übernehmen, auch dies Ding hier am Bett. Jedoch nur der kriegt’s mit, der’s weiss; der jenes spezielle eine Klingeln kennt.
Und genau so hat es eben doch geklungen – so wie jenes eine Klingeln. Sonst hätte es mich gar nicht aufgeweckt.
Er sitzt reglos auf dem Bett; lauscht in die Nacht; spürt seine Anspannung; und staunt: Du bist ja richtig aufgeregt …
Ich freue mich sogar. Denn dass man mich doch noch gebrauchen kann, das durfte ich ja gar nicht mehr erwarten …
Da das allerdings Notfall bedeutet, ist ihm natürlich klar, dass er sich durchaus nicht darüber freuen sollte. Womöglich ist das, was passiert ist, so schlimm, dass seine Aktivierung ein Akt der Verzweiflung war.
Also schön sachlich bleiben, sagt er sich, und systematisch vorgehen. Man hat mich über den Traumkanal aktiviert, und fähig dazu ist, soviel ich weiss, nur der alte Forty O. Doch wer weiss, ob das alles noch so funktioniert wie früher …

Dieses Zimmer mit dem alten Telefon ist ihm vertraut. Ein Hotelzimmer in Nizza. Er hat darin schon oft gewohnt; wohnt darin tatsächlich immer, wenn er hier ist; kennt es in jeder Jahreszeit. Kein angenehmes Zimmer; wie dieses ganze Hotel kein angenehmes ist: unschön gelegen, unfreundlich geführt; schäbig ausgestattet, muffig, verstaubt; im Sommer kaum durchlüftet, im Winter immer überheizt; ziemlich billig immerhin, und das in jeder Hinsicht.
Man ist von Kick Kimura ja viel Seltsames gewöhnt, doch einem asketischen Ideal anzuhängen, dem kein Hotel miserabel genug sein kann, ist ihm bestimmt ebensowenig nachzusagen wie ein Hang zu Luxus oder Hedonismus gar. Was also treibt ihn dazu, ausgerechnet diese Absteige immer wieder aufzusuchen? Und was überhaupt führt ihn immer wieder nach Nizza? Wenn es nicht kulturelle Genüsse sind – und die sind es nicht –, dann vielleicht die hiesige Atmosphäre melancholischen Gaunertums? Nein, derlei wegen ist er nirgendwo je hingefahren, er war nie Tourist.
Dies hier ist – wie sonst soll man es sagen? – ein Ort, dem er sich aussetzt: ein Ort der Buße. Der Ort ständiger Umkehr.
Hier hat er seinen großen Mist gebaut. Einen Mist, der leider nie verjährt.
Kurz, aus schlechtem Gewissen ist er hier. Doch das ist eine so lange Geschichte, dass sie auch in kürzester Fassung zu lang wäre an dieser Stelle. Nur dass sie vom sogenannten Liebestod handelt, sei hier gesagt; und dass Kick Kimuras Verstrickung in diese Angelegenheit so schwerwiegend gewesen ist, dass er darüber seinen Rang als Schlüsselfigur im Service of Intelligence verlor.

Jetzt weiss er nicht: Wo nun hat die Große Welle mich tatsächlich abgesetzt? Da, wo ich renne? Auf jener Brücke, wo Verfolger auf mich schiessen? Wo ich so hineingeplatzt bin, so plötzlich, so ohne jede Anbahnung – für einen Traum sehr ungewöhnlich. Doch bin ich daraus aufgewacht, von besagtem Telefongeklingel. Es hat dort geklingelt, auf der Brücke, zum Traum gehörig, das erinner ich genau. Wie aber, als Teil des Traums, hätte mich das wecken können? Es muss also auch ausserhalb geklingelt haben – hier.
Dann hat sie mich hier abgesetzt, die Welle? Oder auch hier? Sowohl hier, als auch dort?
Genau darauf läuft es hinaus. Nun musst du nur noch aufhören, das für unmöglich zu halten. Wozu bist du denn all die Jahre so viele Wellen gesurft? Doch nur, um endlich eines Tages auch eine Große Welle zu schaffen, eine wie diese, die dich an verschiedenen Orten gleichzeitig trägt – ja, immernoch trägt, sie rollt nämlich noch immer, nur jetzt nicht mehr spektakulär, sondern verborgen, aber mit unverminderter Wucht; und immernoch kannst du darin untergehen, sage ich dir. Dann erst hast du sie geschafft, wenn du sie begreifst; solange rollt sie: nicht unter oder über dir, nicht mit dir oder ohne dich – durch dich. Du bist die Welle. Verstanden?
Was ich verstehe, ist eigentlich gar nichts. Und soviel in etwa konnte ich mir bisher auch unter einem Body Job vorstellen – gar nichts. Verstehe ausserdem, dass ich nur deshalb so überrascht bin, weil ich schon die Hoffnung gänzlich aufgegeben hatte, durch mein Bemühen noch einem andern Ziel als meinem Tode näherzurücken. Und ich verstehe, dass an diesem Dauer-Surf ganz besonders die Option, sich einfach dem Untergang zu überlassen, eine ständige Verlockung bleibt.

Hat er geträumt? Real geträumt oder geträumt, dass er träumt? Oder träumt er immernoch? Ist hier wieder einmal Traum-im-Traum des Rätsels Lösung? Wie real ist dieses Hotelzimmer, in dem er so im Dunkeln auf dem Bett sitzt?
Er denkt an die Szene auf der Brücke zurück und widmet sich den Einzelheiten …
Es ist Nacht. Die Brücke, hell im Lichterstrom der Autos, überspannt eine weithin glitzernd umsäumte und von Bootslampen zahlreich gepünktelte Schwärze. Es geht ein lascher warmer Wind, der kaum die Abgase verweht. Und es ärgert ihn, dass er gezwungen ist, so schnell zu rennen wie er kann. Denn diese Anstrengung erscheint ihm unnötig. Seine Verfolger, zwei Asiaten auf einem altersschwachen Motorroller, sind offenkundig Dilettanten; oder wollen ihn gar nicht töten, sondern ihm nur Angst einjagen.
Und kaum ist ihm das klar, erkennt er sie: alte Bekannte aus dem Schattenreich, die immer wieder in seinem Umkreis auftauchen, immer unerwartet, immer plötzlich. Die oft bedrohlich wirken, manchmal auch nur lächerlich, in jedem Falle aber störend. Er kennt sie namentlich: Sgyulus und Sprosbral, und das Kapitel seiner Erinnerung, in dem sie zum erstenmal auftauchten, spielt in ferner Vergangenheit, in Tokyo, wo er als sechs- oder siebenjähriger Knabe entführt worden war und eine Woche in der Gefangenschaft einer Sekte von tibetanischen Magiern verbracht hatte, bevor ihn ein aussergewöhnlicher Gentleman aus dem Westen – nämlich der große Forty Operas höchstpersönlich – befreien konnte.

Er fragt es sich erneut: Bin ich noch da?
Und der Gedanke an das Große Gute, an das Wesen, das noch da ist – und so mächtig da ist, dass kein Name dafür ausreicht –, macht ihm Mut, und er kann wagen, das zu tun, was er sich bis jetzt nicht traute.
Er steht auf, knipst ein Licht an, tritt vor den Spiegel.
Und er sieht: da ist niemand.
Der Spiegel ist leer.
So wie befürchtet: du bist gar nicht hier.
Moment. Keine voreiligen Schlüsse. Durchaus bin ich hier, nur nicht ganz. Das Wesentliche ist hier das vor dem Spiegel.
Dann ist etwa, was im Spiegel ist, weniger wesentlich?
Gar nicht wesentlich. Was der Spiegel gibt, ist immer nur Hinweis. In diesem Falle nichts. Und auch das ist Hinweis, der Hinweis: Identität.
Erkläre dir das!
Nichts mehr, auch kein Spiegelbild, trennt dich von mir.
Hört sich komisch an.
Soll heissen, ich bin ich, und wir zwei sind identisch.
Wieso beschleicht mich das Gefühl, dass du ernstlich etwas damit sagen willst?
Ich will damit sagen, dass ich ernstlich ratlos bin; dass es vorläufig nur darum geht, diesen leeren Spiegel auszuhalten.
Kick Kimura ist sich hier durchaus bewusst, dass dieser monologe Dialog einem fröhlichen Vor-sich-hin-pfeifen im Finstern gleicht: dass er durch philosophisches Geplänkel sich das Dämonische vom Leibe hält.
So sehr ich auch Geist bin, denkt er, und sogar freiester Geist, wie es scheint, vom Sichspiegeln befreit sogar – trotzdem: Entschieden bekreuzigt er sich.

S.7

Darum am Bosporus

Nach dem heissen Bad habe ich, bequem gelagert in einer kühlen stillen Marmorhalle, ungestört geschlummert. Nun, mit nur einem Tuch um die Lenden, frage ich den für mich zuständigen Jungen nach meiner Kleidung. Er habe sie zur Reinigung gebracht, sagt er, denn das sei dringend nötig gewesen.
„Und was in den Taschen war? Mein Geld zum Beispiel?“
Da könne ich ganz unbesorgt sein, versichert er mit und eilt davon.
Dann, als er mir wenig später den Anzug bringt, muss ich allerdings feststellen: „Das ist nicht meiner.“
„Nicht? O weh.“
Ich durchsuche die Taschen. „Nichts drin. Auch das Hemd ist übrigens nicht meins, und diese Unterwäsche schon gar nicht.“
„Ein Versehen. Eine Verwechslung. Warten Sie bitte, Effendi!“
Ich schaue an meiner Nacktheit herunter. „Ja, ich warte.“
Wenig später taucht der Patron auf. „Ein Schlamassel! Sowas ist noch nie passiert! Hier, bitte, ziehen Sie vorerst diesen Kaftan über und kommen Sie mit, alles wird sich klären.“
Ein sympathischer rundlicher Herr, der Patron, mit beachtlichem Schnurrbart. Ich folge ihm aus dem Badehaus einige Treppen hinab in einen Bazar; vom Eisenwaren- in den Elektro- bis in den Elektronikbereich; in einen winzigen Laden und dort in den durch eine Wand aus Kartons vom vorderen Verkaufsbereich getrennten hinteren Raum; wo er mich auf einen Hocker platziert, mir Tee bringen lässt und verschwindet.
Der Raum ist Warenlager und Büro in einem; fensterlos; beleuchtet von diversen orientalischen Wunderlampen. Keine Ahnung, was die Tageszeit betrifft. Es ist jedenfalls ziemlich warm. Was an Geld hatte ich noch gehabt? Drei-, viertausend Euro, schätze ich, oder fünf? Oder sechstausend, wer weiss. Was aus den Taschen dieses speziellen Anzugs zutage kam, hat mich immer wieder überrascht. Denkbar ist, dass jemand in der Wäscherei erkannt hat, dass man es mit einem Exoot zu tun hat, jemand, der weiss, was so ein Ding wert ist … Wobei mich doch stark wundert, dass ich auch jetzt, ohne den Exoot, mich mühelos mit den Leuten hier verständigen kann; dabei dachte ich, das Beherrschen von Real Speak sei von diesem Anzug abhängig … Heisst das also, ich brauche ihn gar nicht mehr unbedingt?
Hin und wieder schaut der Patron herein und bittet um noch ein bisschen Geduld.
Denkbar, dass ich den Exoot loswerden sollte … Denkbar, dass die Sache gelenkt wird. Immerhin habe ich über die Hongkong-Nummer das Notfallprogramm aktiviert; habe damit Kontakt zu Kick Kimura aufgenommen. Kimura ist der Spezialist fürs Ausweglose. Der unangefochtene Meister im Abhauen. Es heisst, ihm sei es sogar mal gelungen, aus einer extraterrestrischen Strafkolonie zu entkommen.
Ich höre den Patron telefonieren, zunehmend laut und aufgebracht. Spielt er mir was vor?
Apropos, spielst du nicht selber hier Theater? Und in der Tat wird mir bewusst, dass ich mich eigentlich die ganze Zeit beobachtet fühle. Als führte ich vor einem unsichtbaren Publikum ein Stück auf.

Schliesslich gibt sich der Patron geschlagen.
„Alles weg?“, frage ich. Er nickt, und wirkt ehrlich bestürzt; murmelt wieder und wieder zerknirscht: „O Schande, Schande …“ Und ich, zu meiner Überraschung, muss mich beherrschen, dass ich bloß nicht anfange zu grinsen.
Sei Maske, Gesicht!
„Mein Pass? Ist dann ja wohl auch weg. Und mein Geld, o je.“
„Das natürlich wird Ihnen ersetzt, mein Herr!“
„Das wäre schön.“
„Sie sehen mich untröstlich, schlimm erschüttert. Wie kann ich Sie entschädigen?“
Soll ich ihm erklären, was mir da abhanden gekommen ist? Was ein Exoot ist?
„Erstmal würde ich gerne einen Happen essen.“
Eifrig bereitet mir der Patron auf einem Stapel von Teppichen einen angenehmen Sitzplatz und es dauert nicht lang, da setzen zwei höfliche Jungen mir auf einem niedrigen Tischchen lauter Speisen vor, die allesamt sehr gut schmecken.
Der Patron ist wieder verschwunden. Ich betrachte vor mich hin mampfend die Wand gegenüber. Sie besteht aus bunten Plakaten, die für Cyber-Spiele werben. Eines davon fasziniert mich. Es hat etwa die Größe einer Tür und wirkt täuschend dreidimensional: ein riesiges archaisches Gesicht, wie aus dunkelgrauem Stein gehauen. Keine Emotion darin, nur Distanz, eine krasse zeitliche Ferne, Fremdheit. Doch was unter den halb geschlossenen Augenlidern hervorschimmert, ist ein sehr konkreter Blick, sodass mir ist, als würde ich angeschaut; als sei dieses Steingesicht eine Maske. Darüber eine Dunkelheit, in der, wie von Fackeln beleuchtet, verschlungene Ornamente den Titel des Produktes bilden: AZUMA MAROONED.

Der Patron und seine Gehilfen legen mir eine Reihe von teuren, nagelneuen Anzügen vor, bis ich abwinke und höflich den Wunsch äussere, mich selber im Bazar nach Kleidung umzusehen. Worauf mich einer der Gehilfen in den Textil-Sektor führt, wo ich mir zusammensuche, was ich brauche. Dann, neu eingekleidet, setz ich mich mit dem Patron zusammen, um nun den schwierigeren Teil der Angelegenheit zu klären. Ob ihn die Bargeldsumme von viertausend Euro schockiert? Keineswegs, wie sich herausstellt; vielmehr zeigt er sich zuhöchst erleichtert, dass nicht auch noch Kreditkarten zu ersetzen sind.
„Und Sie hatten gar kein Handy?“ Er kann es kaum glauben.
„Aber einen Reisepass. Und da ich die deutsche Botschaft nicht in Anspruch nehmen möchte …“
Worauf er schmerzlich das Gesicht verzieht. „Ein Pass kostet Sie hierzulande Minimum vier Riesen; und für Spitzenqualität kann ich Ihnen nur“ – er reicht mir ein Visitenkärtchen – „diesen Gentleman empfehlen.“
„Besten Dank.“
„Achttausend also, wäre das in Ihrem Sinne?“
Ich nicke, und sichtlich fällt ihm da ein Stein vom Herzen. „Ach, Effendi! Was habe ich ein Glück, dass Sie ein so verständiger Mann sind!“ Worauf ich lächelnd eine abwehrende Geste mache.
Was spielen wir hier?
Der eine Gehilfe wird losgeschickt, das Geld zu holen, der andere bringt Kaffee und eine Shisha. Doch offenbar meint der Patron, mein Verlust sei noch nicht ausreichend kompensiert, oder sein Ansehen als der Verantwortliche noch nicht voll wiederhergestellt, jedenfalls möchte er mir unbedingt noch etwas schenken.
„Bitte –“ mit einer Kreisbewegung, die sein gesamtes Warenangebot umfasst, „suchen Sie sich etwas aus!“
Mich zu weigern, denk ich mir, würde ihn beleidigen. Ich sage: „Sehr freundlich, mein Herr. Aber all die Mühe, die Sie sich meinetwegen machen, die Kosten und so weiter, will sagen: ich bin doch bloß ein Fremder auf der Durchreise …“
Er nickt. „Und ich bin hier geboren. Lebe hier. Alle in diesem Viertel kennen mich, alle hier sind letztlich meine Leute. Wie ich mich auf die verlasse, so verlassen die sich auf mich. In meinem Laden wird niemand betrogen und in meinem Hamam niemand bestohlen, und wenn doch, habe ich das zu bereinigen. Denn glauben Sie mir, nichts bleibt hier unbemerkt.“
„Verstehe.“ Ich zeige auf jenes Plakat, auf das Steingesicht. „Azuma marooned, wenn Sie von diesem Spiel noch eins haben …“
„Oh, leider nein. Das ist veraltet, und auch noch nicht recycelt, noch nicht Klassiker genug; derzeit gar nicht mehr erhältlich leider. Wie bedauerlich …“ Er zögert kurz. Dann steht er auf, macht mir ein Zeichen, ihm zu folgen, und siehe da, dieses Plakat erweist sich als die Tarnung einer Tür.
„Kram,“ sagt er und knipst ein Licht an, „der nicht mehr viele interessiert. Mein kleines Antiquariat.“
Eine enge Abstellkammer, deren Wände aus Regalen bestehen, vollgestopft mit alten Computerspielen, DVDs und Videocassetten. Action, Horror, Porno.
Der Patron deutet auf einen dicken Stapel Sex-Magazine: „Die legendäre Busen-Serie.“ Ich blicke ihn fragend an und er setzt hinzu: „Vollständig. Die komplette Serie.“ Eigentlich meinte ich: Es gibt legendäre Tittenheftchen? Aber schon hat mich in Bann gezogen, was daneben auf einem weiteren Stapel alter Magazine liegt: eine Ausgabe der Zeitschrift SubNews.
Ich nehme sie vorsichtig in die Hand. Kann die echt sein? Doch kein Zweifel, da steht es rot auf schwarz: SubNews. Ein Heft von April 1992. Unglaublich – dachte ich doch immer, dieses Magazin existiere nur in der Fiktion.
„Keine Ahnung, was das ist,“ sagt der Patron. „Chinesisch wahrscheinlich.“
„Japanisch. Kanji.“
„Sie können das lesen? Japanisch?“
Ich lasse mir nicht anmerken, wie sehr mich das selber überrascht; sage nur „Ja“ und überfliege, was da noch in Kanji-Schrift auf dem Titelblatt steht, die Themen dieser Ausgabe: Der Hongkong Mystery Effekt869 Konstantinopel
Das soll von 1992 sein? Aktueller geht’s ja kaum! Und dann: Die Schwarm-Maschine … Ich halte inne. War da nicht mal was?
Da war was … Schwarm-Maschine, wurde so nicht jenes uralte Ding genannt, das man für eine Art Projektor hielt? Und plötzlich steigt ein Verdacht in mir auf: Darum Istanbul … Vielleicht war ich schon mal hier. Bin an irgendwas gescheitert. Sodass hier etwas unerledigt geblieben ist, etwas wichtiges … Und dass ich zufällig in diesem Kabuff jetzt darauf stoße, ist kein Zufall, sondern natürlich Fügung, oder besser: Lenkung. Und das ist mir plötzlich sowas von klar! Und ich weiss auch, warum: Das Real-Gefüge ist nicht mehr, was es gestern noch war. Es erneuert sich, passt sich an … An was?
„Wissen Sie, ich kenne diese Zeitschrift von früher“; in beiläufigstem Tonfall; „wusste nur gar nicht, dass die auch mal in Japan herauskam. Darf ich sie mitnehmen?“
„Aber gern! Und vielleicht noch ein paar Chuck Norris-Videos?“
„Nicht doch! Nein!“ Wir lachen. Dann er mit einem Ruck zur Tür: „Moment –“.
Er horcht; flüstert hastig: „Bleiben Sie ganz ruhig“; knipst das Licht aus, schlüpft hinaus, zieht die Tür hinter sich zu.
Das nenne ich eine Falle. Diese stockfinstere Gruft ein einziger Speicher von Sex, Horror und Gewalt. Und was eindeutig hier drinnen fehlt, ist Sauerstoff – und der naheliegende Schreck durchfährt mich: Ice! – Aber habe ich denn versucht, in meine Gedächtnislücke einzudringen? Reg dich ab, sage ich mir.
Zwei Pünktchen Licht, da wo die Tür sein müsste, in Augenhöhe. Ich trete an eines der beiden nahe heran. Eine Glaslinse; genau da, wo sich in dem steinernen Gesicht auf der anderen Seite der Tür die Pupille des linken Auges befinden müsste. Sodass ich klare Sicht auf die Szene habe:
Der Patron steht zwei Männern gegenüber, die von der Mafia genauso gut wie vom Geheimdienst sein könnten. Keine Mongolen; auch keine Pseudomongolen. Türken. Der eine stellt Fragen, während der andere konzentriert herumschaut. Der Patron unterstreicht seine Antworten mit entschiedenem Kopfschütteln und Gesten hilflosen Bedauerns; auch als ihm ein Foto vor die Nase gehalten wird. Ich kann auf die Entfernung nur soviel darauf erkennen, dass es keine Person zeigt, sondern nur die grobkörnige Vergrößerung irgendeines Details. Es sieht wie ein Logo oder eine Art Siegel aus und kommt mir vage bekannt vor.
Da bleibt der Blick des einen, des Herumschauenden, an meinem Auge hängen; starrt eine Weile wie hinein. Dann stößt er den Kollegen an und nickt in meine Richtung. Die beiden nähern sich. Stehen jetzt dicht vor mir, beziehungsweise vor dem steinernen Gesicht, und ich trete vorsichtshalber von der Linse zurück.
Bis jetzt war drüben das Reden nur als Gemurmel zu vernehmen. Nun aus nächster Nähe höre ich den einen fragen: „Sieht dieses Ding nicht scheissecht aus?“ „Naja, die Augen, aber der Rest? Verglichen mit den Holo-Graphiken von heute …“ „Bedenke, wie alt das ist. Uralt.“
„Aus den frühen 1990ern“, höre ich den Patron.
„Sag ich’s nicht? Dass die damals schon sowas konnten!“
„Scheissegal, komm jetzt!“ Und endlich ziehen sie ab.
Der Patron entschuldigt sich vielmals. „Die hätten auf jeden Fall einen Ausweis von Ihnen sehen wollen, und da die von der Terrorbekämpfung waren, stünden Sie jetzt unter Terrorverdacht. So schnell geht das heutzutage.“
„Danke“, sage ich.
Da kommt der Gehilfe mit dem Geld. Und es sind zehntausend Euro, die der Patron mir überreicht. „Zehn?“ Ich schaue ihn groß an. „Bitte,“ sagt er, „keine Diskussion.“
Nun ja, wenn er wüsste, dass der abhanden gekommene Exoot sowieso unbezahlbar ist … Vielleicht weiss er es. Dann wüsste er auch, dass es vielmehr dieses alte SubNews-Exemplar ist, das mich für den Verlust entschädigt.
Ich stecke es in den kleinen Rucksack, den ich mir zusammen mit der neuen Kleidung im Bazar besorgt habe, und der enthält, was auf Urlaub hinweist: Badehose, Shorts, Sandalen und eine Freizeitjacke. Ich habe mich als Tourist ausstaffiert, trage jetzt eine Schirmmütze, ein klassisches Safari-Hemd, luftige Sommerhosen und sportlich leichte Schuhe.
„Fehlt nur noch das hier.“ Der Patron schält ein Smartphone aus der Originalverpackung, nebst Zubehör.
„Das muss nicht auch noch sein!“, protestiere ich.
„Sie wollen doch nicht auffallen,“ sagt er. „Ohne so ein Ding nützt Ihnen keine Tarnung was.“ Womit er wohl recht hat, und ich also auch das noch im Rucksack verstaue. „Okay?“
„Nun ja, ordentlich getarnt wären Sie ernst, wenn Sie auch noch ein paar Kreditkarten hätten.“ Und er setzt mit einem Seufzer hinzu: „Sie sind tatsächlich kein Profi. Es sei denn –“. Es sei denn, der Profi spielt den Amateur – doch gehe ich auf diesen Gedankengang lieber nicht ein, sage stattdessen: „Umso erfreuter, speziell Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben!“ Worauf er eine höfliche Verbeugung andeutet und kurz Allah erwähnt. Dann begleitet er mich zum Ausgang des Bazars, und dort, vor einer kleinen Wechselstube, in der ich mir türkische Lira besorgen soll, verabschiedet er sich mit den Worten: „Ich hoffe sehr, Ihre Erinnerung an Istanbul wird letztlich einmal eine angenehme sein.“
Inschallah“, sage ich. „Und vielen Dank!“

Es ist Nachmittag hier draussen, und brütend heiß. Ich zücke das Kärtchen, das mir der Patron im Hinblick auf die nötigen neuen Reisepapiere gegeben hatte, und darauf steht: The Framing Company, sowie deren Adresse, und der Name darunter, Mek al-Möffi Merikanski, Manager, lässt mich schmunzeln. Ich ahne schon, wen ich da wiedersehen werde, und das alles fängt jetzt an mir richtig Spaß zu machen.

S.6

Wasser denk ich

Warum hier in Istanbul? Das ist die Frage, auf die ich mich zu konzentrieren versuche. Denke jedoch immer nur: Wasser; wieder und wieder, und zwar nur das Wort: Wasser.
Das Wort kommt mir vor wie das Tor zu einem Gedanken, der mir mit jeder Wiederholung dieses Wortes größer, umfassender, immer unfassbarer erscheint.
Ich liege bis zum Hals im Wasser, rücklings auf einer breiten gekachelten Stufe in einem großen Becken, und das Wasser ist so heiss, dass es dampft.
Ich kam ja schon sehr müde in dieses Türkische Bad, und jetzt, gründlich gereinigt, die Haut noch prickelnd nach einer rabiaten Bürstenmassage, bin ich dermaßen schläfrig, dass es auch sein könnte, ich träume hier nur, dass ich Wasser denke.
Und schrecke auf: Wo bin ich?
Jetzt habe ich wirklich geträumt, und zwar dass ich in einem Auto aufwache. Das stillsteht. Inmitten einer riesigen Herde blökender Schafe. Den Mann neben mir, den Fahrer, kenne ich. Will ihn etwas fragen. Ob das hier ein Wachtraum sei. Bekomme aber den Mund nicht auf. Er wirft mir einen Blick zu und streckt beide Zeigefinger aus; führt den einen an die Lippen – sag nichts! – und schreibt mit dem anderen in die Luft: etwas, das ich eben noch verstanden habe, jetzt aber, da ich erneut aufwache, nicht mehr verstehe.
Du liegst im Wasser, alles gut …
Wasser: es kommt dem, was ich meine, sehr nahe, ist aber nicht, was ich eigentlich meine … Oder doch, ja, es ist die stoffliche Entsprechung dessen, was ich meine, das sichtbare Gegenstück zu einem Unsichtbaren. Das heisst, wenn dieses Unsichtbare ein Aussehen hätte, ein physisches, sähe es wohl wie das Wasser aus … Doch nein, falsch gedacht! Nicht wie, es sieht nicht aus wie Wasser. Es nimmt in der stofflichen Welt diese Form an, es ist das Wasser, und als solches nimmt es alles auf, bewegt alles, ist in allem, was lebt, anwesend …
Na klar, was ich meine … Nur will es mir nicht einfallen. Egal, ob ich will, es will nicht. Und dafür hat es seine Gründe. Denn es ist nicht dumm. Und stärker als ich.

Halb träumend, halb bewusst sehe ich mich wieder auf die Bosporus-Brücke versetzt, gejagt von den zwei Mongolen auf dem Motorroller. Was war davor? Die Gedächtnislücke. Was verbirgt sie mir? Was darf ich nicht wissen?
Und wie weit kann ich gefahrlos zurück in meiner Erinnerung, um an den Punkt zu gelangen, wo beginnt, was ich nicht wissen darf?
Und was ist es, das mich daran hindert, mich zu erinnern?
„Intrusion Counterattack Equipment. I.C.E., von Kryptologen kurz Ice genannt.“
Ach, sieh an, da ist er wieder … Sie schon wieder, Ladenheuser? Jetzt bin ich mir aber sicher, dass ich träume. Allerdings höre ich nur Ihre Stimme.
„Gut. Wie es aussieht, ist der Traumkanal noch zu gebrauchen. Ob auch noch unmanipuliert, können wir aber nur hoffen. Allerdings bin ich nicht der, als der ich Ihnen erscheine. So wie Sie nicht der sind, Schell, der Sie zu sein glauben.“
Ich denke, ich weiss, was er meint. Mal bin ich dieser Schell, mal jener. Ich habe zwei Schells zur Auswahl.
„Auch drei von Ihnen reichen nicht, solange Sie glauben, Schell zu sein.“
Aber der bin ich nun mal …
„Sie werden sehen, es geht weiter.“
Wie war das? Intrusion
„… Counterattack Equipment. Eine autoaktive Software. Sehr aggressiv.“
Die diese Lücke in meiner Erinnerung verursacht? Software? Kaum zu glauben.
„Sie schottet einen Teil Ihrer Erinnerung vor Ihnen ab. Und zwar effektiv. Das ist Super-Ice, keine Chance, das zu knacken.“
Verstehe. Die Sache mit dem Zettel, mit der Kreissäge im Kopf … Bis ich ohnmächtig wurde. Und dann, noch schlimmer, die Dunkelheit und der Gestank …
„Und vorher? Fing es nicht damit an, dass auf Sie geschossen wurde? Sie erwähnten zwei Mongolen.“
Sie meinen, auch das war so ein Angriff von Ice?
„Ja, eine noch vergleichsweise harmlose Angriffsform. Sie müssen wissen: Jedesmal wenn Sie versuchen, in Ihre Erinnerungslücke einzudringen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Sie dabei draufgehen. Dieses Ice soll Eindringlinge nicht nur abhalten, es ist darauf angelegt, sie zu vernichten; und mit jedem Versuch, es zu überwinden, lernt es dazu. Da es als Programm ja keine physischen Mittel hat, wird es Sie dazu bringen, sich selber auszuknipsen.“
Also sollte ich es lieber nicht noch einmal provozieren … Doch jetzt mal Klartext, Ladenheuser: Wie soll ich weitermachen, und mit was, wenn ich nicht weiss, warum ich hier bin? Worin besteht die Mission?
„Es gibt sie noch gar nicht. Sie haben Ihre Mission selbst zu bestimmen – sagte ich das nicht schon? Bringen Sie sich über die Runden, das dürfte zur Zeit genug Mission sein.“
Unmöglich also, in meine Gedächtnislücke einzudringen?
„Unmöglich, genau. Das müssen Sie akzeptieren.“
Das bedeutet, ich habe ohne einen Grund für mein Hiersein auszukommen …
„Zimmern Sie sich etwas zurecht, das zumindest vorläufig einen Sinn ergibt.“
Sehr witzig. Okay. Nur eines noch, Chef – Sie sagten: solange Sie glauben, Schell zu sein. Wer sollte ich sonst sein?, frage ich Sie.
„Nun, das ist jetzt die interessante Frage. Nur leider müssen wir ein andermal darauf zurückkommen, denn es wäre gut, wenn Sie jetzt wach würden – und bitte umgehend.“
Worauf ich es schaffe, meine Augenlider soweit aufzustemmen, dass ich in den Dampfschwaden vor mir zwei Gestalten erkenne, runde Schädel auf mächtigen Schultern, mongolische Gesichter: Ach nein, nicht die schon wieder, Sgyulus und Sprosbral
„Halluzination und Voreingenommenheit. Begreifen Sie das, Schell? – in Ihrer Sprache: Lug Imago und Maya Tongue.“
Sie halten jeder einen Dolch in der Hand und grinsen, und ich weiss, dass ich immernoch nicht aufgewacht bin. Sie nähern sich, durch das Wasser zwar gebremst, aber unaufhaltsam, und zwingen mich aufzuwachen …

Aus dem alten Byzanz wurde Konstantinopel, die zweite Metropole der frühen Christenheit, das Gegenzentrum zu Rom; über Jahrhunderte Schauplatz diverser Konzile, zu denen die Bischöfe zusammenkamen, um vor allem die Heilige Dreifaltigkeit zu diskutieren, denn die warf immer wieder die schwierigsten Fragen auf … Geht es darum? Ist die Trinität hier Thema? Soll ich mich etwa mit Glaubensfragen befassen? Hatte Ladenheuser deshalb Schelling ins Spiel gebracht?
Und schliesslich hatte er auf das Lug Imago und die Maya Tongue hingewiesen; hatte die mit Sgyulus und Sprosbral gleichgesetzt, mit Halluzination und Voreingenommenheit …
Na klar: Das Lug Imago lässt mich halluzinieren, die Maya Tongue macht mich voreingenommen.
Und drittens? Denn diese zwei – Prinzipien? Kräfte? Geistwesen? Was sind sie denn eigentlich? – gehören jedenfalls einer Dreiheit an, das heisst bilden zusammen mit der Nominah eine Triade. So nennen wir sie: Triade. Und die, würde ich sagen, steht doch wie gegensätzlich zur christlichen Trinität, ja ist geradezu das Gegenbild zu Vater, Sohn und Heiligem Geist.
Was aber der Triade hier zu ihrer Vollständigkeit fehlt, ist das dritte Prinzip, die Nominah … Oder erkenne ich nur ihre Anwesenheit nicht?
Denk an Lavienta: wie dir da per Traumkanal das LA-Trio angekündigt wurde. Erstmal dachtest du an drei Leute aus Los Angeles. Bis sich herausstellte, dass das Trio aus Leila, Alonso und dir selbst bestand. Typisch Traumkanal, exakt wie jedes echte Orakel, nur exakt auf andere Weise als man zunächst denkt.
Wenn Sgyulus hier das Lug Imago verkörpert und Sprosbral die Maya Tongue, dann wäre die Triade vollständig, wenn die Nominah durch mich … Doch welchen Sinn ergäbe das? Wer oder was ist die Nominah? Welche Rolle spiele ich in dieser Gleichung?
Merk dir die Frage!
Dann wieder nur der Wassergedanke, das heisst ich bin wieder am Einschlafen.
Also beende ich das Bad. Lust, eine zu rauchen? Ja, schon wieder. Aber wo hier Zigaretten herkriegen? Egal, bräuchte jetzt sowieso eher eine Mahlzeit. Doch bin ich immernoch so müde, und bevor ich mich zu überhaupt etwas aufraffe, frage ich erstmal einen der jungen Angestellten: „Wo kann man sich hier, äh …“
„Hinlegen? Hier lang, Effendi …“

S.5

Intrusion Counterattack Equipment

In dem Durchgang zur Küche, wo ich vom Festnetztelefon aus in Hongkong angerufen hatte, war es noch leidlich hell gewesen. Dann in dem Flur, aus dem die Melodie erklang, hatte die Helligkeit kontinuierlich abgenommen.
Dass dieser Flur zu einem Fahrstuhl führte, überraschte mich einigermaßen, und ich zögerte. Doch eindeutig kam das Liedchen da heraus. Also trat ich ein, und stutzte: keine Knöpfe oder Tasten, nichts dergleichen. Da hatte sich die Tür schon geschlossen und die kleine, schummrige Kabine sich ruckelnd in Bewegung gesetzt. Aufwärts? Abwärts? Liess sich nicht bestimmen. Und das nächste kennen wir: meinen Besuch bei Ladenheuser.
Danach ging die Fahrt im Aufzug einfach weiter, diesmal ohne Melodie. Diese hörte ich erst wieder, als die Kabine stillstand und die Tür sich zu einem Kellergewölbe öffnete.

Zur Linken eine schmale Steintreppe, hinaufführend zu einem Mauerbogen, durch den ein wenig Licht herabfällt. Dort hinaufzusteigen wäre mir zwar lieber, doch höre ich eindeutig, dass die Melodie aus diesem sehr dunklen Gang kommt, der hier nach rechts abzweigt.
Die Anspannung hat nachgelassen, stelle ich fest. Der Kontakt zu Ladenheuser, der so plötzlich – wie, weiss ich nicht – zustande kam, hat bewirkt, dass ich mich sicherer fühle. Höchstens könnte mich beunruhigen, dass die Verbindung auch so plötzlich wieder abriss.
Noch zaudernd davor, in dieses Dunkel einzutreten, frage ich mich: Muss ich denn da unbedingt hinein? Doch von da kommt die Melodie – und was bringt’s, die Notfall-Nummer anzurufen und dann der Anweisung nicht zu folgen? Los, Feigling, vertraue!
Wenn ich wenigstens ein Feuerzeug … Weil heute jedes Handy auch Taschenlampe ist, kennt kaum noch jemand diesen Riesennachteil des Nichtrauchens: dass man kein Feuer mehr zurhand hat. Da ich das witzig finde, scheine ich mich ungeachtet der Umstände doch zu amüsieren.
Da sind Stufen nach unten, nur ein paar, dann geht’s geradeaus, sehr langsam natürlich, mit größter Vorsicht, und zwar auf nassem Untergrund, wie ich besorgt feststelle. Meine Hand spürt links eine kühle feuchte Mauer, etwas glitschiges, algenartiges – und da, uh – Fell! –, ich zucke zurück. Stehe erstarrt. Ratten? Muss es ja wohl hier geben, logisch. Und womöglich Fledermäuse. – Du hast doch wohl nichts gegen Fledermäuse? Natürlich nicht; nur wo sie hausen, ist mir ungemäß, entsetzlich und zuwider, und das wirft nun mal die Frage auf, was mich denn zwingt, diesem Liedchen weiter zu folgen. – Du zwingst dich. Auf dass dich so ein Schreck nicht abschrecke.
Aber ich sehe nichts – gar nichts. Was, wenn ich hier vor einem Abgrund stehe? Zum Beispiel direkt über einem schlammigen Abwasser voller Krokodile? In so einem Finstern einfach weiterzutappen, ist doch idiotisch riskant! – Und was, wenn es eine Prüfung ist? Wenn hier dein Mut auf die Probe gestellt wird?
Jetzt trägt der Luftzug auch noch üblen Geruch heran … Leider genau aus Richtung der Melodie. Also schön flach atmen, und weiter!
So karibisch unbeschwert ist das endlose Liedchen – geradezu duftend nach Früchten, nach Meer, die Stimme wie schläfrig lächelnd, wie eine Umarmung –, dass es hier wie der reinste Hohn klingt und mir schon auf die Nerven geht.
Was erwarte ich denn, wohin es mich führt? Ich stelle fest: nur weg. Eine Fluchtbewegung. Ich bin am Abhauen, und das heisst, was mich treibt, ist Furcht. Furcht wovor?
Ich taste mich weiter voran, sehr vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter.
Und da plötzlich sehe ich, wie mit einer Art Nachtsicht-Optik, und zwar eine Tür, eine spezielle, die mir bekannt vorkommt; von der ich weiss, man darf sie nicht öffnen; und der Anblick versetzt mich in einen bestimmten Keller; und ich kenne auch die sogenannte Fabrik, zu der dieser Keller gehört; und von wegen Erinnerungslücke – alles ist da, nur in codierter Form, in einer Art Bilderschrift, und in der lese ich, dass diese verbotene Tür mir genau jene Erinnerungslücke, auf die es ankommt, verschliesst.
Über der Tür steht jedesmal, wenn man an diese Stelle kommt, ein anderer Spruch, diesmal aber nur das Wörtchen: sprich – und ich ziehe schnell, bevor ich vornüber ins Leere kippe, den Fuß zurück, wie auch meine Hand, bevor sie den imaginären Türknauf ergreift.
Speaklet the wind speak (2) … Etwas dringt zu mir durch, Fetzen von Erinnerung wehen da heran, und der Wind und diese Fetzen haben mit Lavienta zu tun. Und da schlägt eine Welle von Gestank über mir zusammen. Ich halte mir die Nase zu, doch bringt das leider gar nichts. Es wird nur schlimmer.
Kaum habe ich die künstliche Nachtsicht als Täuschung durchschaut, ist alles wieder schwarz um mich, finster, und zwar absolut.
Irgendwo höre ich es tropfen … Und da blubbert was … Und die Melodie, diese kleine Endlosschleife, wenn auch weit entfernt inzwischen, nervt mich kolossal.
Ich fühle Schwindel. Weil ich orientierungslos bin. Und wegen der stinkenden Gase.
Furcht vor der Aufgabe! – Das ist, wovor du abzuhauen versuchst: die Aufgabe.
Okayokay – sprich!
Was dir aufgegeben ist, kannst du nicht vermeiden. Es verfolgt dich, solange du fliehst, und irgendwann wird es dich stellen. Das ist Programm. Gesetz. Karma.
Also stelle ich mich lieber gleich selbst. Ist das die Aufgabe?
Sobald du die Verantwortung erkennst – und zwar jetzt –, bist du auch fähig, sie zu tragen. Du bist jetzt also verantwortlich. Für alles, was passiert. Kapiert? Es geht nicht mehr um dein Vergnügen, um gute Unterhaltung, oder einfach nur ums Durchkommen.
Um was also?
Dreh die Fluchtbewegung um: statt weg vonhin zu!
Sind, äh, Sie das, Ladenheuser?
Keine Antwort. Na, egal, hätte ja sein können, dass sich hier der Chef zum Eingreifen veranlasst sieht – bevor ich gleich in Ohnmacht falle. Denn wie’s hier stinkt, ist ja gar nicht mehr auszuhalten – und wird noch immer schlimmer! Wie kann sich sowas überhaupt noch steigern? Kurzum, ich muss hier raus.
Einer der besagten Erinnerungsfetzen betrifft meine Kleidung, nämlich den Exoot. Hatte glatt vergessen, dass ich ja diesen Spezialanzug trage. Dabei hat mir das Ding wahrscheinlich die Verbindung mit Ladenheuser ermöglicht. Und es erklärt, warum ich einen als Handy getarnten Sprengsatz in der Tasche hatte, just als ich ihn brauchte. Und warum ich Real Speak beherrsche. Wieso also finde ich keinen Leuchtstift in der Tasche? Weil ich noch nicht danach gesucht habe.
Der Exoot ist klassische MoTech: alles daran ist ausser dem, wonach es aussieht, noch etwas anderes. Doch woraus nach diesem Prinzip jetzt gefälligst ein Leuchtstift werden sollte, bleibt leider ein simpler Kugelschreiber. Was soll das? Hat jemand von aussen eingegriffen? Wer könnte Zugang zur Steuerung …
Leider weiss ich ja immer noch nicht, wie es inzwischen um das Real-Gefüge bestellt ist. Oder gehört das zu dem neuen Level, von dem Ladenheuser sprach? Dass man hier vielleicht ganz regulär den Eindruck hat, das Regelsystem sei gestört? Könnte ja sein, dass es auf dieser Schwierigkeitsstufe gerade darauf ankommt, ein insgesamt beschädigtes Gefüge zu meistern. Was wahrscheinlich nur zu schaffen ist, indem man an die Steuerung herankommt; die sich allerdings ausserhalb befindet …
Ich sollte lieber … falls ich das Bewusstsein verliere …
Ich lasse mich mit den Knien auf den nassen Beton nieder; taste mit den Fingerspitzen den Boden vor mir ab, während der Brechreiz zunimmt, das Würgen mir … die Kehle … immer stärker zuschnürt … und denke: Das ist sie doch, die berühmte ausweglose Situation. Hier gibt’s eigentlich nichts mehr zu tun. In solchen Fällen neigen Menschen zum Gebet. Aber bei diesem Wahnsinnsgestank …
Wie die Wahnsinnskreissäge vorhin … Fing mit Papiergeknister an, wurde lautes Geraschel, dann anschwellend zu einem Getöse, das sich solange steigerte, bis es mir als hochfrequentes Sirren schier den Schädel sprengte. Und zwar als ich mich zu erinnern versuchte. Als ich mich auf die Erinnerungslücke konzentrierte … Weil ich mich erinnerte?

Ich muss kurz ohnmächtig gewesen sein – oder länger? Auf! Steh auf! Hier herumzuliegen ist – was? Ist das –? Ich war bei dem Versuch, auf die Beine zu kommen, ins Schwanken geraten und meine im Dunkeln herumfuchtelnde Hand hatte zufällig etwas gestreift, klack!, worauf es hinter mir hell geworden war. Nicht sehr hell. Eine einzelne trübe Funzel in dem schmalen Gang, den ich gekommen bin; der hier, wo sich der Lichtschalter befindet, zuende ist.
Was ich vor mir erkenne, scheint ein Hinterhof zu sein; unbeleuchtet; nur soviel sehe ich, dass da Holzplanken liegen, auf denen man ihn durchqueren kann. Es stinkt schlimm, sehr schlimm, bestialisch; eine Steigerung nicht vorstellbar. Atmen nicht mehr möglich. Das Schwindelgefühl nimmt zu. Also Beeilung! Der Lichschimmer aus dem Kellergang hinter mir muss reichen.
Ich schwanke drauflos.
Von wegen Planken – das sind nur morsche Bretter, sie brechen fast, und dann tatsächlich: ein Fuß bricht durch, versinkt in einem Schlick, und der schnelle Ruck, mit dem ich ihn herausziehe, kostet mich den Schuh. Über was für einen Giftbrei – will ich gar nicht wissen! Ich sehe mich schon umkippen, vergast, und in dieser Kloake untergehen. Das gibt mir den Schub, den ich für die letzten Meter noch brauche.
Ein paar Stufen aus Metall zu einer Steintreppe hinauf, die uralt ist, ausgetreten, feucht und glatt, sodass ich hier den noch verbliebenen Schuh zurücklasse und in Socken weiterhaste, und zwar immernoch ohne zu atmen.
Schwach beleuchtete Gänge, teils aus altem Gemäuer, teils betoniert. Dann Wände aus gestapelten Kisten, Berge von Säcken, Paletten voller Kanister, und ein Zeichen überall, eine Art Siegel auf all den Behältern – doch vor allem fällt mir auf: kein Gestank mehr!
Treppen hinauf, und ich atme, beglückt, und bemerke, dass ich die Melodie gar nicht mehr höre. Habe ich sie verloren? Bin ich falsch gelaufen? Oder einfach angekommen, wo sie zuende ist, erlöst.
Es sind jetzt alle möglichen Geräusche zu vernehmen, ein Gemenge aus Stimmen, Gedudel und Motorengebrumm. Und zwei Ecken weiter bleibe ich unter einem Torbogen stehen, vor mir eine ziemlich leere Halle. Eine Markthalle ohne Markt, gesäumt von lauter kleinen Läden, die fast alle geschlossen sind. Ein paar Alte, die an Backgammon-Tischen sitzen. Eine Gruppe verschleierter Frauen, die am Boden hockend irgendwas sortieren. Diverse über Smartphones gebeugte Individuen. Ein Esel, reglos stehend. Tauben hier und da.
Es überkommt mich Müdigkeit. Sagen wir – hoffen wir –, das Gefüge hat sich stabilisiert; ist wieder berechenbar; erlaubt wieder eine gewisse Planung. Ein Hotel finden und schlafen. Ausschlafen. Neue Schuhe besorgen. Abreisen.
Ich wende mich nach links, bewege mich an den geschlossen Geschäften entlang, folge einem Duft nach Kaffee und frischem Brot.
Abreisen? Nach wohin denn?
Ich steuere einen der Läden an, und zwar einen bestimmten, wie mir gerade bewusst wird, und es ist keiner, in dem’s Kaffee gibt oder Brot. Ich bücke mich, um unter dem nur halb heraufgezogenen Rollladen hineinzuschauen.
Wände aus gestapelten Kartons, im Hintergrund eine Büroecke in blassem Neonlicht, und dort – kann ich’s glauben? – Ladenheuser.
„Sind Sie das, Schell? Herein mit Ihnen!“
Ich nähere mich vorsichtig, skeptisch. „Ich sehe Sie, aber …“
„Nehmen Sie doch erstmal Platz.“
Ladenheuser wie immer hinterm Schreibtisch, er nickt in Richtung eines Schemels, und ich prüfe dessen Echtheit, bevor ich mich setze.
„Das Bild wirkt ziemlich echt, muss ich zugeben …“
„Aber?“
„Dass Sie hier sind, glaube ich trotzdem nicht.“
„Es reicht, wenn wir uns einig sind, dass diese Kommunikation echt ist.“
Ich nicke. Doch traue ich ihm? Da bin ich mir nicht sicher. „Diese Ebene ist mir – sehr fremd. Blicke hier kein bisschen durch. Womöglich bin ich der falschen Melodie gefolgt …“
„Höre ich da Gejammer heraus? Muss ich Sie etwa aufpäppeln? Sehen Sie es so, Schell: Sie haben die Hongkong-Nummer gewählt und sind evakuiert worden.“
„Bisher habe wir uns noch nie woanders als in Ihrem Büro gesehen, und da hatten Sie immer dieses Ding vor sich, den Comic, die Schnittstelle zum Netz. Hier aber nicht. Und das heisst – das kann nur heissen: wir sind jetzt – da drin? Oder – sind selber Schnittstellen?“
„Nicht ganz falsch, aber es ist natürlich weitaus komplizierter.“
„Jedenfalls kommt mir das Gefüge nicht mehr besonders stabil vor.“
„Nun ja, mit gewissen Effekten der Rückkopplung war zu rechnen.“
„Nur mit diesem Effekt haben wir natürlich nicht gerechnet.“
„Womit niemand rechnet, darauf kommt es an.“
„Im Großen und Ganzen also …?“
„Ist alles in Ordnung. Nur dass jetzt alles ein bisschen anders ist.“
Mann, o Mann, denke ich nur. Ich glaub, ich brauch mal wieder eine Zigarette.
„Dann hole ich Sie mal auf vertrautes Terrain“, sagt er, „zur Entspannung. Schon mal Schelling gelesen?“
„Nur über ihn, und lang ist’s her.“
„Schelling denkt Wille und Verstand als Stoff und Form, zwei untrennbar aufeinander bezogene Größen, die er erste und zweite Potenz nennt. Man darf sich diese beiden Potenzen nicht als für sich seiend vorstellen, sondern nur in ihrer Verbindung, und die Einheit beider Potenzen ist als eine dritte Potenz zu denken, und zwar als Geist; und diesen Geist bezeichnet er als das Seinsollende.“
„Trinitäten. Man entdeckt sie, wenn man hinschaut, überall.“
Er nickt. „Trimurti zum Beispiel bei den alten Indern, die Dreigestalt, in der sich das eine göttliche Wesen manifestiert als Brahma, Vischnu und Schiva.“
„Der Schöpfer, der Erhalter, der Zerstörer.“
„Ja, in aller Welt dasselbe. Und oft erweitert sich die Sache zur Vierheit. Nämlich auch Schelling setzt über die Dreiheit aus Wille und Verstand und den an diese gebundenen Geist noch den wirklichen, den absoluten, von sich selbst freien Geist.“
„Schon wieder: Geist … Ist das das Stichwort?“
Wir halten inne, horchen. Getrappel … Schwere Stiefel.
„Ich brauche dringend was zu trinken, ich meine bevor es wieder hektisch wird.“
Ladenheuser greift neben sich nach unten und wirft mir eine kleine Flasche Wasser zu.
Vom Eingang her dringt plötzliches Licht unter dem halb heruntergelassenen Rollladen herein. Dazu eine Megaphon-Stimme, türkischer Kommandoton, kein Zweifel: Polizei.
„Gilt das uns?“ frage ich.
Ladenheuser mit einem Achselzucken: „Wer weiss? Verkrümeln Sie sich lieber. Auch hierzulande finden hinter den Kulissen gerade Umwälzungen statt. Besonders hierzulande.“
Deshalb Istanbul? Denn natürlich wundert mich die ganze Zeit, warum ich ausgerechnet hier bin.“
„Finden Sie es heraus, Schell. Aber können Sie überhaupt noch die Augen offenhalten? Und nicht nur extrem müde, auch ganz schön verdreckt sehen Sie aus. Vor allem aber wie Sie riechen – vielleicht erhöht das Ihre street credibility, ist aber furchtbar. Nehmen Sie unbedingt ein Bad. Hier raus,“ er deutet auf den Hinterausgang, „da gibt’s Gänge und Treppen, das Übliche. Halten Sie sich rechts und aufwärts, irgendwo ist da ein Hamam.“
Die Flasche ansetzend, frage ich: „Und Sie, Chef?“, und bis er gesagt hat: „Auch wenn’s nicht so aussieht, ich habe viel zu tun“, habe ich sie ausgetrunken.

S.4

Meine Art Chef

Ein Geräusch aus Richtung des Fahrstuhls, das in einem menschlichen Gehör wie eine beschwingt gepfiffene Melodie klingen würde, vage erinnernd an südliche Gefilde, an Palmenschatten und Mangoduft, veranlasst die kleinen, die sehr kleinen und auch die winzigen Kreaturen, die den fensterlosen, schwach beleuchteten Flur bevölkern, sich fluchtartig zurückzuziehen hinter Leisten, Einfassungen und Wandverputz. Und als sich der Fahrstuhl öffnet, etwas ruckelnd, wer betritt da diesen recht schäbigen Flur?
Ich.
Und weiter jenes Liedchen pfeifend, aber immer leiser, steuere ich geradewegs eine bestimmte Tür an. Das heisst, ich scheine mich hier auszukennen.
Es ist dies der ziemlich abgelegene, fast schon vergessener Teil einer riesigen labyrinthischen Struktur, Affa genannt, in dem die ehemals so wichtige und berühmte Abteilung Technik-Folgen-Abschätzung, kurz TFA, ihre sozusagen letzte Ruhestätte gefunden hat.
Hier residiert Ladenheuser, mein Chef. Chef, nun ja … Genau genommen ist Ladenheuser nur ein Sachbearbeiter, doch habe ich gelernt, ihn nicht zu unterschätzen. Wie man diese komische Abteilung insgesamt nicht unterschätzen sollte. Was die TFA inzwischen wirklich treibt, wer weiss das schon? Wenn der ganze gigantische Machtblock, den das Affa repräsentiert, einmal untergeht, dann wird, wie ich vermute, die TFA dahinterstecken. Und vielleicht weil die Intelligenz, die das Affa steuert, auch zu diesem Schluss gekommen ist, hat man die TFA ins Abseits befördert, sie abgekapselt wie einen schädlichen Fremdkörper.
Jedenfalls war ich lange nicht mehr hier; wundere mich sogar, dass es diesen vergammelten Flur überhaupt noch gibt und dass auf dem Schild an der Tür immernoch Ladenheuser steht.
Ich massiere mir kurz das Gesicht, um etwaige Spuren von guter Laune daraus zu tilgen, dann – etwas nostalgisch, ja gar ein bisschen andächtig gestimmt – klopfe ich an. Ladenheuser hat noch nie „Herein!“ gerufen, trotzdem warte ich ein paar Sekunden, bevor ich nochmals klopfe und eintrete. „Herr Ladenheuser? Wie geht’s?“
„Ach Schell, Sie sind’s. Wo kommen Sie schon wieder her?“
„Ich war auf Lavienta. Im Urlaub quasi.“
„Kommen jetzt aber aus Istanbul …“ Ladenheuser wischt in dem Büro-Comic herum, der vor ihm auf dem Schreibtisch flackert. „Was war da los?“
„Man hat versucht, mich zu erschiessen.“
„Darf man fragen …“
„Keine Ahnung. Es fehlt mir da leider ein Stück Erinnerung.“
Worauf Ladenheuser schweigt; mich anschaut. Skeptisch.
In all den Jahren, in denen ich hier bei Ladenheuser zum Rapport anzutreten hatte, bin ich von ihm immer nur auf drei Arten angeschaut worden: entweder müde, oder ausdruckslos, oder so wie jetzt, skeptisch. Ich nehme an, er hat nur diese drei Optionen. Weil er mehr für die Interaktion mit Kunden wie mich offenbar nicht braucht. Inzwischen bin ich mir nämlich ziemlich sicher, dass Ladenheuser eine Maschine ist, eine Büromaschine.
„Ist so,“ sage ich mit einem Achselzucken. „Was zwischen Lavienta und Istanbul war, ist wie ausradiert. Kein Fitzelchen mehr davon übrig.“
„Erzählen Sie von Lavienta.“
„Ich war erholungsbedürftig; wollte surfen und mich endlich mal wieder meinem Hobby widmen,“ und füge schön beiläufig locker hinzu: „Sie wissen ja, Schriftsteller spielen … Funktioniert Ihre Kaffeemaschine noch?“
Ladenheuser nickt. „Auch die funktioniert noch.“ Sein Gesichtsausdruck wechselt von skeptisch zu ausdruckslos. Ich schalte die Maschine an, sie brummt und das Licht im Büro wird merklich trüber.
Der Kaffee sieht gut aus, dampft und duftet, und als ich den Automat ausschalte, fliesst wieder mehr Energie in die Beleuchtung. Mit Blick auf den Büro-Comic sage ich: „Erstaunlich, dass man Sie den Strom für das Ding noch nicht selber produzieren lässt. Ihnen einen Pedalantrieb unter den Schreibtisch zu basteln, dürfte doch kein Problem sein. Und würde Ihnen sicher gut tun. Dem Fitness-Büro gehört die Zukunft.“
„Der lustige Schell … Wieso glaubt jeder Agent, er muss, wenn er hier zum Rapport aufkreuzt, den Spaßvogel mimen?“
„Ich glaube eher, dass kaum noch einer aufkreuzt.“
Pause. Es beginnt das übliche Schachspiel im Geiste. Wer liest die Gedanken des anderen präziser? Ladenheuser ist darin Meister.
„Zur Sache, Schell. Lavienta. Ihr sogenannter Urlaub.“
Ich unterdrücke ein Seufzen. Ladenheuser vom Thema abzulenken, ist so gut wie unmöglich.
„Ja, Urlaub, was blieb mir anderes übrig? Von Ihnen kam ja nichts mehr. Ich habe Anfragen genug geschickt, doch weder Sie noch sonstwer im Hause reagierte. Die TFA hat mich abgeschrieben, dachte ich. Wegen Ineffizienz. Hatte ja wirklich lange nichts mehr zustande gebracht. Mich endlich rauszuschmeissen, war insofern nur folgerichtig.“
„Effizienz, Evidenz, Kompetenz … Wenn wir Sie je nach solchen Kriterien beurteilt hätten, wäre es schon immer folgerichtig gewesen, Sie rauszuschmeissen, Schell.“
„Okay, fürs Protokoll: Ich hatte nie etwas dagegen, aus der TFA beziehungsweise aus dem ganzen Affa-Apparat rauszufliegen; und hätte auch jetzt nichts dagegen.“
Pause. Schweigen. Ladenheuser ausdruckslos; doch habe ich das Gefühl, dass er mir nonverbal etwas mitzuteilen versucht.
„Ich weiss ja, Schell, Sie halten sich für echt, und dem entsprechend glauben Sie alles mögliche von sich; dass Sie aufrichtig sind, bescheiden, das Richtige wollen, das Gute und so weiter. Doch woran es Ihnen tatsächlich fehlt … Wissen Sie, woran?“
„An Durchblick?“
„An Demut.“
Das von Herrn Ladenheuser … Ich erstarre in Staunen, befehle meinem Gesicht: Sei Maske!
Das ist nicht die Art Tadel, die ich von Ladenheuser gewöhnt bin. Die Kritik von ihm, die ich normalerweise ernte, wenn ich hier zum Rapport antrete, wird mal durch Ironie gemildert, mal sarkastisch verschärft, manchmal sogar mit etwas Pathos gewürzt, aber sie ist immer hintersinnig verklausuliert auf eine Weise, die insbesondere allem, was einen moralischen Anklang hat, jegliche Eindeutigkeit entzieht.
Gerade weil ich Ladenheuser bisher für eine Schablone hielt, für ein Sprachrohr jener künstlichen Intelligenz, die das Affa steuert, fand ich es meistens interessant, ihn über den „menschlichen Standpunkt“ sinnieren zu hören. Kann er tatsächlich erkennen, woran es mir fehlt? Dann wäre er womöglich doch … ein richtiger Mensch?
„Demut, Herr Ladenheuser? Darf ich fragen …“
„Das war eine rein private Bemerkung. Berichten Sie von Lavienta.“
„Haben Sie darüber nichts vorliegen?“ Dabei deute ich auf seinen Büro-Comic.
„Lavienta gehört zum Andrianischen Archipel und wie Sie wissen müssten, sind die digitalen Signale von dort unzuverlässig. Deshalb interessiert mich Ihr Bericht. Sie waren da, auch wenn Sie dachten, Sie hätten dort keinen Auftrag gehabt.“
Ich glotze ihn an. „Sie meinen, ich hatte einen?“
„Schell, habe ich Sie je zum Rapport bestellt, um mir Urlaubsgeschichten anzuhören? Sie müssen endlich kapieren, dass sich einige Bedingungen für Sie geändert haben. Von mir, das heisst von der TFA bekommen Sie keine Aufträge mehr. Sie arbeiten auf eigene Verantwortung. Soll heissen, Sie sind in Ihrer Karriere ein gutes Stück vorangekommen.“
„Ach so? Und nun?“
„Es betrifft zum Beispiel den Schwierigkeitsgrad. Null Orientierung. Krasse Symptome. Black-out. Oder plötzlich fliegen Ihnen Kugeln um die Ohren. Eine Kostprobe davon haben Sie in Istanbul gerade erlebt.“
„Sie nennen das: ein gutes Stück vorangekommen? Solche Beförderungen lehne ich entschieden ab. Mich zu entlassen, okay – denn darauf läuft’s ja wohl hinaus, wenn Sie mir keine Aufträge mehr erteilen; doch gar nicht okay, mich ungefragt auf so einem irren Krisen-Level einzusetzen!“ Ich starre Ladenheuser finster an. „Haben Sie gehört? Ich protestiere!“
Doch er tut so, als sei er ganz in seinen Comic vertieft, und gerade als ich aufstehen will, um zu gehen, sagt er: „Vielleicht habe ich voreilig entschieden. Vielleicht habe ich Sie wirklich überschätzt. Vielleicht sind Sie noch nicht soweit. Denn sonst wären Sie gar nicht hier. Wären nicht in Panik geraten. Hätten nicht in Hongkong angerufen.“
Ach so … Na klar: Die Hongkong-Nummer wählt man nur im Notfall …
„Mir kam das Real, ich meine, das ganze Dingens, Sie wissen schon … es kam mir falsch vor, so falsch, dass ich dachte, womöglich ist das Gefüge insgesamt kaputt oder so, und nicht weil ich in Panik war, nein, sondern einfach um zu testen, ob die Realität noch … Ach, ist doch egal. Glauben Sie, was Sie wollen. Aber wozu habe ich mir denn die Hongkong-Nummer irgendwann mal eingeprägt?“
„Keine Ahnung. Wo haben Sie die überhaupt her?“
„Das wäre eine lange Geschichte … Ist so ‘ne Hotline, dachte ich.“
„Ist sie auch. Für äusserste Notfälle. Bis jetzt. Gewesen. Ein geheimer Kanal, eine Art Schlupfloch. Nicht eigentlich für Sie gedacht, Schell, sondern für andere. Jetzt leider unbrauchbar für alle. Jetzt dem System nämlich bekannt, und das heisst: Teil ab jetzt von Ureal.“ Er schaut mich müde an.
Ureal? War das ein Versehen? Ist ihm das herausgerutscht? Davon spricht man in der TFA doch nicht! So wie „Real-Technik“ ist unter uns auch „Ureal“ tabu.
Ich überlege unter Hochdruck. Was gibt’s hier dringend zu kapieren?
„Jetzt komme ich mir wie der letzte Trottel vor,“ sage ich.
„Könnte ein guter Ansatz sein.“
Eine Anspielung auf meinen Mangel an Demut? Wahrscheinlich. Nach dem Motto: Sich mies zu fühlen ist ein guter Anfang.
„Ich weiss auch nicht weiter,“ sagt Ladenheuser. „Werde einfach nicht schlau aus dieser Koinzidenz: Während Sie sich in Istanbul den Jux erlauben, in Hongkong anzurufen – “
Jux? Wenn gewisse Naturgesetze offensichtlich nicht mehr – “
„– frage ich, hier sitzend, mich zufällig gerade: Ob der Schell sich je wieder blicken lässt? Hat er die TFA nun wirklich hinter sich? Ist er endlich unabhängig? Und just da schneien Sie hier rein. Wie selbstverständlich; wie zum üblichen Rapport. Ich meine, was hat Sie hierher gebracht? Ich meine,“ und er zeigt auf den Büro-Comic, „da sind Sie zu sehen – in Istanbul! In einer ganz anderen Welt – ach, was sag ich – Dimension! Und aus der verschwinden Sie urplötzlich und kommen hier hereinspaziert. Fast authentisch. Wie in Fleisch und Blut. Also auch wenn ich schon einiges gewöhnt bin …“
„Wie ich schon sagte, etwas mit den Naturgesetzen stimmt nicht mehr so ganz …“ Fast authentisch? Also nicht authentisch. Nicht wirklich Fleisch und Blut … Schon wieder so eine Anspielung auf Ureal, wie wir sie uns normalerweise nicht erlauben. Er wirkt tatsächlich aufgeregt, emotional … Wird doch wohl nicht aus der Rolle fallen? Oder will er mich nur aus der Reserve locken?
Offenbar war’s das aber auch schon mit der Emotion. Ladenheuser lehnt sich zurück, schaltet auf sachlich um: „Halten wir uns an die Fakten. Dass Sie plötzlich in Ure- – ich meine hier auftauchen, hat nichts damit zu tun, dass Sie kurz vorher in Hongkong angerufen haben.“
„Warum nicht? Schon in den 1880er Jahren bekam es so mancher Bühnenzauberer mit dem berüchtigten Hongkong Mystery Effect zu tun. Hat sich wahrscheinlich weiterentwickelt, dieses Phänomen, über die üblichen Zauber-Shows hinaus. Was uns in virtuellen Zeiten wie diesen …“
„Schon klar, Schell. Was war wesentlich auf Lavienta?“
Ach, Lavienta … Soll ich ihm von der Dauerparty erzählen? „Ich traf Bekannte von früher, zufällig. Leila und Alonso. Wir waren eine Zeitlang das LA-Trio. Hatten stark mit Drogen zu tun, daher bin ich mir der Echtheit der Details, an die ich mich erinnere, nicht sicher. Wir warteten auf einen Kurier, der uns irgendwas überbringen sollte. Angeblich was von Geo Rey … Ergibt das für Sie einen Sinn?“
„Allerdings. Offiziell ging’s um eine Spezialdroge. Inoffiziell um – na, was wohl? MoTech. Und worum es eigentlich ging – das wissen nur Sie, Schell. Worauf haben Sie da wirklich gewartet?“
„Keine Ahnung. Kann sein, dass der Kurier tatsächlich kam; wenn ja, habe ich ihn als solchen nicht erkannt. Habe weder von einer Spezialdroge, noch von irgendeiner MoTech was mitgekriegt, und auch nichts von einem geheimen Eigentlichen. – Bitte, Herr Ladenheuser, starren Sie mich nicht so an. Da ist nichts, wirklich nichts interessantes, das ich Ihnen verschweige. Ich weiss nur, dass ich irgendwann von den Drogen genug hatte; dass ich mich von Leila und Alonso lossagte und es mal wieder dringend nötig war, zu regenerieren. Ich fand ein ideales Plätzchen, um endlich in Ruhe wieder meinem Hobby nachzugehen – Sie wissen schon – und im übrigen: die Wellen zu reiten. Und damit bin ich schon beim letzten, was ich von Lavienta noch weiss: dass eine enorme, eine Wahnsinns-, eine Monsterwelle auf mich zu rollte … Und das war’s. Was danach kam, weiss ich nicht. Bis ich dann plötzlich nachts über den Bosporus flitze …“
„Was war vorher?“
„Wie gesagt …“
„Oder so gefragt: Wohin trug Sie die große Welle? Konzentrieren Sie sich!“
Ich blicke ins Leere. Ist da was? Nichts deutliches, nur ein Gefühl. Atmosphäre. Eine Beleuchtung. Zuviel noch vom Eindruck der mächtigen Welle. „Nur ein paar vage Bilder, denen ich nicht traue; die sich wiederholen, künstlich, filmartig irgendwie, retrokoloriert, falls es sowas gibt … Ein Gebäude von innen, komisch verschachtelt, und gegen aussen komplett verbarrikadiert.“
„Ein sicherer Ort.“
„Doch sicher genug? Man wartet. Und jetzt: leise Musik dazu, Calypso, eine Frauenstimme, dieselbe, die … Sagen Sie mal, Ladenheuser, glauben Sie etwa, was ich Ihnen hier auftische?“
„Welchen Grund hätten Sie, zu fantasieren? Klingt alles plausibel. Sie haben den Kontrollbereich verlassen und waren offenbar eine ganze Weile dem ausgesetzt, was wir in der Branche Rough Magic nennen – und wie ich sehe, klingelt es da bei Ihnen.“
„Wie Sie sehen?“ – Irre, dieser Ladenheuser! Mir immer zwei, drei Schritte voraus. Bin mir fast sicher, er weiss längst, an was ich mich nicht erinnern kann.
„Hören Sie auf, so zu gucken,“ sage ich, „was soll das?“
Er betrachtet mich wie noch nie, neugierig, jedoch so wie einen Gegenstand.
„Sie haben Recht, Rough Magic, das ist die Form, die es annimmt, wenn wir uns mit einer Naturgewalt zu befassen haben, einem Hurricane oder so …“
„Schell … Sie werden immer, äh, unschärfer.“
„Deshalb gucken Sie so?“
„Ja. An den Rändern sind Sie schon gar nicht mehr da. Sehr interessant.“
„Was sagen Sie da?“
„Dass Sie sich gerade auflösen. Wir müssen unsere Sitzung jetzt also unterbr–“

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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