S.13

Die letzte Zigarre

Nachdem mich vor einigen Minuten der kosmische Blick von Forty Operas durchdrungen und für einen Moment in den wahren Durchblick mitgenommen hatte, bin ich nun, als das zum zweitenmal geschieht, schon ein wenig darauf vorbereitet.
Blitzartig wieder die Distanzierung von mir selbst, während all mein Persönliches wieder auf eine irrelevante Winzigkeit zusammenschrumpft, zu jener Lücke im Gedächtnis, jenem Pünktlein: der Stelle, die ich als einzige auf der Welt als völlig leer sehe, weil genau an dieser Stelle ich bin.
Diesmal geht es in der Überschau aber nicht um mich, vielmehr um den Technus: auf einen Schlag erfasse ich sein Wesen, und zwar indem ich A2X27 begreife, nämlich das Wort verstehe, Flysh, wie es durch A2X27 codiert ist. Ich seh’ es wie im Spiegel, rückwärts, von allen Seiten, auch von hinten, und sogar zeitlich, wie es entsteht, wie es vergeht. Und bin mir des Fehlers bewusst, der diese Sicht ermöglicht, dass nämlich fehlt, was im Normalfall diese Sicht verhindert: mein Alltagsbewusstsein, das eine solche Sicht unglaublich finden und ein aus ihr Gesehenes einfach nicht akzeptieren würde.
Und ich verstehe, warum Forty Operas damit recht gehabt hatte, dass gar nicht verraten werden kann, was Flysh beziehungsweise A2X27 heisst: Weil das so weit jenseits der gewohnten Logik liegt, dass die Sprache davor schlicht versagt.

Rotgolden füllt jetzt die untergehende Sonne dieses leere ehemalige Büro der Seabed Authority. Und keinen Wunsch verspüre ich im Augenblick so stark wie den, wieder zu glauben, ich sei der, der ich bisher zu sein glaubte; es zu glauben so wie eins und eins ist zwei.
„Was hat Sie denn aber eigentlich wieder nach Istanbul geführt, Operas?“
Er geht darauf nicht ein, nicht direkt; stattdessen: „Wir sprachen von Philosophie.“
Sie, mit Verlaub. Ich halte mich in Sachen Philosophie inzwischen zurück.“
„Ich habe Sie auf Schelling hingewiesen.“
„Schelling schon wieder … Ich sage Ihnen, auch bei dem habe ich herumgelesen, so wie bei Fichte, bei Hegel; aber alles zwecklos. Na klar weiss ich, bei denen lernt man denken – und vielleicht habe ich davon ja irgendwas gelernt, wer weiss.“
„Los, Schell, dann erraten Sie mal meine Definition von Philosophie!“
„Mühe.“
„Jedenfalls hätten Sie sich mit Schelling gut verstanden.“
Das klingt, als hätte er den persönlich gekannt … Dazu Kimura: Das ist nicht so abwegig wie es scheint, denn du hast es hier ja nicht mehr mit Ladenheuser zu tun, sondern mit Forty Operas, und der ist ja schon sehr sehr alt, wie wir wissen.
„Was mich andererseits nach Istanbul geführt hat, ist, dass Flyrie anscheinend in Schwierigkeiten steckt. Hat sich mit dem World Water Council angelegt und sitzt jetzt hier im Gefängnis.“
Monton Flyrie, der Jamaikaner; immer schon dem SI nahestehend, aber nur locker verbunden. Typischer Freerunner.
„Habe ihm zwar geraten, was ich allen immer rate, sich nämlich aus der Politik herauszuhalten, aber natürlich: für einen Dienst arbeiten und sich dabei aus der Politik raushalten, ist viel verlangt.“
„Wie von einem Taxifahrer zu fordern, sich von Straßen fernzuhalten.“
„Er hätte lieber richtig bei uns mitmachen sollen, in Vollzeit sozusagen. Doch wem sage ich das? Sie, Schell, sind ja auch so einer, der nie richtig bei uns mitmachen wollte – und jetzt plötzlich mitmachen muss. Last Exit: Service of Intelligence. Weshalb uns – so wie es schon immer war – für die wahre Geheimarbeit nur Gesindel zur Verfügung steht.“
Man möchte hoffen, dass der ruppige Forty O. mit Gesindel etwas sympathisches meint, das Gegenteil vielleicht … Wir werden hier abgehört, davon gehe ich aus, und verlassen uns darauf, dass in unserer Redeweise Krypt und Klartext nicht zu unterscheiden sind. Wobei ich mir gar nicht mehr sicher bin, ob ich das selber noch unterscheiden kann. Will Operas zum Beispiel glauben machen, er sei hier, um Flyrie freizubekommen? Oder ist geplant, dass der hier erstmal eingesperrt bleibt? Weil er vielleicht, um einen Zugang zu Geo Reys Netzwerk zu finden, an Leute herankommen muss, die man nur im Gefängnis trifft?
Hier schaltet sich nun Kick Kimura ein: „Müsste für Sie doch ein Kinderspiel sein, Flyrie da herauszuholen. Wenn ich daran zurückdenke, wie Sie mich sogar mal aus einer militärischen Einrichtung rausgeholt haben …“
„Sowas kann ich nicht mehr. Und auch ein paar andere Fähigkeiten sind mir mit den Jahren verlorengegangen. Die Müdigkeit, seit je mein großer Gegner, ist immer stärker geworden, und ich immer schwächer, sodass ich immer häufiger den Kampf verliere.“
„Sie schlafen also manchmal? So wie normale Menschen auch?“
„Ja. So habe ich jetzt auch ein Privatleben. Doch zurück zu Paulson. Ich habe ihn unterschätzt. Als ich begriff, dass er schlauer ist als ich dachte, war es zu spät.“ Er bemerkt, wie mich dieses Eingeständnis schockiert, und setzt hinzu: „Tja, Kimura, daran siehst du, wie sehr ich nachgelassen habe. Ich bring’s nicht mehr. Ist insofern ja berechtigt, dass jetzt Paulson den SI anführt.“
Längere Pause.
„Hey, Forty, amerikanische Wissenschaftler haben jetzt herausgefunden …“
„Aber sind gleich wieder reingegangen. Ich weiss. Soll ein Witz sein, ist es aber nicht. Denn die damit auf den Punkt gebrachte Misere der heutigen Wissenschaft ist in ihren Folgen kein bisschen lustig.“
„Ach, kommen Sie, wann wollen Sie endlich mal lachen?“
„Erst wenn die Geschichte zuende ist.“
„Ob dann aber die entsprechende Muskulatur noch mitmacht?“
Dazu kursiert im SI folgende Überlieferung: Vor langer, langer Zeit war Forty Operas sich einmal sicher, seine Geschwätzigkeit endgültig unter Kontrolle zu haben, und prompt kam da der Moment, in dem er auf keinen Fall hätte geschwätzig sein dürfen: gerade da aber liess er sich hinreissen. Und darüber untröstlich, hatte er dieses Gelübde abgelegt: nicht mehr zu lachen, das heisst radikal aus sich einen Anderen zu machen.
Die Sonne ist untergegangen. Nun wird das Büro von den Leuchtwerbungen der gegenüberliegenden Fassaden erhellt, abwechselnd violett, dann gelb, dann türkis: Barocco Om&OmGrandsome WestJuju Mitsu Kybio … immerzu in dieser Reihenfolge.
„Es ist also aus mit uns?“ frage ich.
„Hier ja. Hier ist nur noch Ureal. Auf dieser Ebene ist nichts mehr zu erreichen.“
„Aber auf einer anderen Ebene …“
„Wenn du sie findest.“
„Das heisst es gibt sie immerhin.“ Doch ich weiss: das hängt von mir ab. Ich trage sie in mir, diese andere Ebene. Oder auch nicht. Wenn ich sie da nicht finde, dann ist sie – für mich jedenfalls – nirgends.
Forty nun: „Hast du gelegentlich das Gefühl –“ beobachtet zu werden?
„Ja, irgendwie –“ ist da ständig ein Publikum anwesend.
„Weil das –“ alles hier sich im Kontrollbereich abspielt.
„Deswegen –“ reden wir auf einmal so komisch.
„Hm, ja.“ Um nicht missverstanden zu werden, verlässt du dich lieber nicht auf das hier: Plötzlich sehe ich vor ihm auf dem Tisch ein Smartphone liegen. Lag das vorher schon da?
Worauf wir uns stattdessen verlassen, weisst du?
Ja, aber das kann ich noch nicht. Oder meinen Sie etwa – „Ich kann es schon?“
Du hast es hier schon zweimal erfolgreich praktiziert.
Aber doch nur mit Ihrer Hilfe, Forty. Es war beide Male ein Blick nicht eigentlich durch meine eigenen, sondern durch Ihre Augen.
Die brauchst du nun zu dieser Art Sehen nicht mehr. Du bist ab jetzt autorisiert.
Und nun, diesmal nicht durch Forty’s Blick vermittelt, stellt sich die kosmische Sicht wie von selbst ein, wenn auch wieder nur für einen Moment: Wieder das große Bild, das Riesengroße, und wieder die leere Stelle darin, der Ort, an dem ich gerade nicht bin – die Gedächtnislücke –, nur diesmal sehr viel deutlicher als vorhin, nicht einfach abstrakt wie ein Punkt, sondern konkret: eine ausgebrannte Feuerstelle.
„Das Große Bild im Kleinen“, sagt er. Was wir im SI das Big Picture nennen.
„Unglaublich, Boss. Mir reicht’s.“
„Eins müssen wir noch klären –“ das Wichtigste: wie du an verschiedenen Orten gleichzeitig sein kannst.
„Sie meinen –“ Bilokation?
Trilokation. Mindestens; doch für den Anfang reicht das.
„Moment, Chef, lassen Sie mich mal verschnaufen.“
Worauf er nickt und ausgiebig zu gähnen anfängt.
„In letzter Zeit mal was von Wayne gehört?“, frage ich.
Wayne, der Buddha genannt … Ich denke an die alten Tage zurück, habe die San Francisco Bay vor Augen, im Nebel, und Wayne’s Bar, The Happy End, am Ende des Piers …
„Wayne hat den Dienst quittiert. Was man ihm an Weisheit unterstellte, so teilte er mir mit, sei doch nur Einfalt gewesen.“
„Hm. Da widerspricht sich doch diese Einfalt irgendwie … Hat er noch seine Bar?“
„Ja; damit schon ein paar Jahre in Port Dumas ansässig; die Anlaufstelle, wie man hört, für ehemalige Alkoholiker.“
„Soll heissen, Wayne bekehrt in seiner Bar die Säufer?“
„Genau. Allerdings ohne das Zertifikat der Anonymen Alkoholiker. Dafür gilt das Happy End inzwischen als die Adresse in puncto Bibel-Exegese.“
„Sicher für die Welt ein Gewinn – und ein guter Grund, mal wieder in Port Dumas vorbeizuschauen –, doch für den SI wohl ein herber Verlust.“
Forty nickt. „Inzwischen hat der sogenannte SI soviele Agenten wie noch nie. Dafür habe wir fast niemanden mehr.“
„Was ist mit Trisha Percival?“
„Verschollen. Schon seit längerem. Dabei sollte sie bloß in Andria etwas abliefern.“
„Und Murphy? Mit dem hatte ich unter dieser Adresse hier eigentlich gerechnet.“
„Treibt Geld auf. Denn im Zuge der Umstrukturierungen hat man’s leider auch irgendwie geschafft, uns vom Old Hickory abzuschneiden. Wir sind jetzt finanziell auf Selbstversorgung angewiesen.“
Ich versuche mir das vorzustellen. „Aber Rumco, so will ich hoffen –“
„Ist noch dabei, klar, und wie immer natürlich völlig überlastet.“ Mit einem Blick auf das Smartphone, das da immernoch zwischen uns auf dem Schreibtisch liegt, fügt Operas hinzu: „Er hat da was konfiguriert. Muy especial. Du hast auch sowas, will ich hoffen?“
„Klar.“
„Eingeschaltet?“
„Weiss nicht.“ Ich hole es aus dem Rucksack, „Ja, eingeschaltet“, und lege es neben Forty’s Gerät. „Das reicht schon“, sagt er, und ich nehme an, da überspielt sich jetzt wohl irgendwas von seinem Gerät auf meines.
Derweil überlege ich: Einblick ins Big Picture … Den hatten doch bisher nur MDOs … Jetzt brauche ich auf einmal Forty gar nicht mehr dazu? Und das auch noch in Verbindung mit Trilokation … An drei Orten gleichzeitig zu sein: das ist doch Multi Dimensional Operating in Reinkultur … Und dass ich jetzt autorisiert sei … Da läuft es mir ja kalt den Rücken runter …
Bis auf den Schimmer der Leuchtschriften von gegenüber – violett – gelb – türkis – ist es nun dunkel im Büro.
„Hat hier eventuell der al-Möffi-Effendi etwas für mich hinterlegt?“
Worauf Operas mir über den Schreibtisch etwas kleines zuschiebt. Eine Kreditkarte. Auf Schell ausgestellt. Danke. Ich stecke sie ein.
„Für diese Mission und alles, was du dafür brauchst, ist Mr. Paulson zuständig.“
Das sollte wohl eine Botschaft an den Kontrollapparat sein, denke ich.
„Für die Schwarzmeer-Passage hat mir Paulson zwei Schiffe zur Wahl angeboten.“
„Nach Odessa und nach Batumi, nehme ich an.“
„Habe Odessa gebucht.“
Forty nickt. „Die Uzmir 9. Versiffter Kahn voller Halsabschneider.“
„Beeindruckend, wie gut Sie immernoch informiert sind, ich meine dafür, dass Sie im SI nichts mehr zu melden haben.“
„Unnötig gut informiert; da hast du allerdings recht. Muss ich mir abgewöhnen. Aber auch du solltest aufpassen, Kick. Was haben dir deine kindischen Versuche eingebracht, dich immer wieder als der unbeugsame Freerunner zu behaupten? Doch nur, dass du schliesslich aus dem Service rausgeflogen bist.“
Jetzt aber trotzdem wieder drin bin, denke ich für mich.
„Und glaube bloß nicht, du seist jetzt wieder drinnen. Denn den Kimura, der mal rausgeflogen ist, gibt’s ja gar nicht mehr, nicht denselben jedenfalls.“
„Ich weiss; wie’s auch den SI ja nicht mehr gibt, aus dem ich damals rausgeflogen bin. Es ist das Schwerste, finde ich – immernoch und wie auch immer – sowohl Freerunner zu sein, als auch in service.“
Deshalb Schelling. Sein Spätwerk, wohlbemerkt. Und überhaupt alle Philosophie: deshalb. Die Freiheit, zu dienen; oder aus Freiheit dienen. Kein Ideal soll das sein, nichts irgendwie schwieriges, nur eben die Praktik, die uns Agenten vom normalen in den gesunden Zustand überführt.“
„Klingt sehr vernünftig, Forty, ehrlich.“
„Wenn das klar ist – gut.“
Natürlich hat er bemerkt, dass ich mit meinen Gedanken woanders bin. Nicht dass ihn das beleidigt; doch dass es ihm einen Stich versetzt, spüre ich durchaus; und was ich da eben gesagt habe – so blöde obenhin: „klingt sehr vernünftig“ –, tut mir leid. Nur ist diese Wahrheit nun mal nicht abzuweisen: Forty’s Zeit ist abgelaufen. Und er weiss es. Mag er auch ur-uralt sein, senil ist er noch lange nicht.
Wenn im übrigen für einen wie Forty Operas die Zeit abgelaufen ist, wie erst recht dann für Typen a la Mr. Paulson! – Vorsicht, ermahnt mich da sofort mein Kick inside, unterschätze Paulson nicht!
… violett … gelb … türkis …
„Zigarre?“
Oh … Dass Forty Operas jemandem eine seiner Spezialzigarren anbietet, das hat es, soviel ich weiss, noch nie gegeben. Diese Sitzung scheint also auch für ihn eine besondere zu sein.
„Danke sehr.“
Eine Weile sitzen wir uns da nun im Halbdunkel gegenüber, in diesem Wechsel von Violett, Gelb und Türkis, und qualmen das Büro voll.
„Das ist also der berühmte Tabak der Schamanen … Grässlich. Soll wohl auch gar nicht angenehm schmecken, nehme ich an.“ Von Forty darauf keine Antwort.
„Dieses komische Gebilde“, sage ich schliesslich, „ein Stempel, oder eine Art Siegel, ein Logo, so kompliziert, dass man’s gar nicht beschreiben kann …“ Das, was ich auf all den Kisten in jenem Kellergewölbe gesehen habe …
Forty mit einem Nicken: „Geo Rey’s Siegel. Vier Bilder, die sich so überlagern, dass keines eindeutig zu erkennen ist. Vier Symbole, die zusammen ein fünftes ergeben: die Synthese aus Löwe, Rose, Buch und Kelch. Wenn man das zu entschlüsseln versucht, wird unweigerlich ein Blödsinn daraus.“
„Eine Art Gedicht also.“
„Na ja, die Poesie von heute: reines Alarmzeichen. Man nenne bloß Geo Rey keinen Dichter, dafür liesse er einen umbringen, habe ich gehört.“
Ich betrachte den Zigarrenqualm und sage: „Hatte eine gewisse Wirkung befürchtet, ehrlich gesagt; einen halluzinogenen Effekt. Spüre aber nichts dergleichen.“
„Was könnte das bedeuten?“
„Dass dieses Kraut vielleicht auch nicht mehr das ist, was es mal war?“
Lange Pause.
„Ist tatsächlich nicht mehr das, was es mal war“, sagt Forty schliesslich. „Warum also rauche ich das Zeug noch?“
„Weil Forty Operas ohne diesen Zigarrenduft kaum vorstellbar ist.“
Er nickt. „Ein Erkennungszeichen. Nur ist ja gar nicht mehr nötig, dass man mich erkennt.“
„Vielleicht dass der Genuss-Aspekt noch einen Sinn ergibt?“
„Darüber habe ich lange nachgedacht – nein. Ich hab genug davon.“
„Soll das heissen –?“
„Dass dies der richtige Zeitpunkt für meine letzte Zigarre ist.“
„Ihre letzte Zigarre, Forty? Dann ist das ein historischer Moment!“
„Reine Nebensache. Wenn etwas hier historisch ist, dann was ganz anderes.“
„Was meinen Sie?“
„Nicht etwa“, dass du zum MDO wirst – du bist es schon.
Worauf ich in dem abwechselnd violetten, gelben und türkisen Halbdunkel erbleiche. Ist es das, was er mir die ganze Zeit klarzumachen versucht? Weshalb überhaupt diese Unterredung hier stattfindet? „Das meinen Sie nicht ernst.“
„Wann habe ich je etwas nicht ernst gemeint?“
Noch nie. Das weiss jeder, der ihn kennt. Darauf beruht seine Autorität.
„Fragt sich, was ich dir vererben könnte.“
„Vererben? Haben Sie etwa vor, zu sterben?“
„Ich ziehe mich zurück. Bin schon viel zulange zu müde für diesen Job. War nur niemand bis jetzt in Sicht, der ihn übernommen hätte.“
„Aber –“ ob ich will – spielt das keine Rolle?
„Nein.“ Fraglich ist nur, ob du es kannst. Im übrigen vergiss nicht: das Ding, das du zu koordinieren hast, den SI, gibt’s ja gar nicht.
Worauf mir ein Ächzen entfährt.
„Forty. Ehrlich. Ich habe. Nicht. Den blassesten. Schimmer. Einer Ahnung. Wie. Multi. Dimensionales. Operating. Funktioniert.“ Damit ahme ich nach, wie Forty Operas manchmal zu jemandem spricht, der sich als besonders begriffsstutzig erweist; und ich forsche in seinem Blick nach einer Spur von Amüsement; vergebens. Was ist da stattdessen? Kälte? Teilnahmslosigkeit? Nein. Überdruss? Verachtung? Auch nicht. Hingegen vielleicht Wärme? Verständnis? Güte? Ebensowenig. Da ist nichts als Raum, nichts als Ferne – diese ungeheure kosmische Ferne. Wieder einmal muss ich feststellen: Der ist wirklich nicht von dieser Welt.
„Warum sagst du so nachdrücklich das Unrichtige? Natürlich hast du eine Ahnung, wie das MDO funktioniert.“
Aber ich bin noch nicht soweit!
„Na schön …“ Wieder zückt er seine alte Taschenuhr; hält sie in der offenen Hand und sagt: „Sehr simpel, sehr nützlich. Zwölf Ziffern im Kreis. Man braucht nur zu wissen, wofür diese Ziffern stehen; und dann nur noch festzulegen, was sich zwischen den Ziffern abspielen soll, das heisst in jeder der zwölf Stunden.“
„Und dann?“
„Weisst du immer, je nachdem wie die Zeiger stehen, wo du gerade bist.“
Ich verstehe: Ich bin immer jetzt. So eine Uhr mit Zifferblatt und Zeigern gibt die Zeit räumlich an: aus dem Wann macht sie Wo.
„Hm“, sage ich. „Und wo sind wir gerade?“
„Wir sprachen vorhin über Literatur als Metapher.“
„Metapher für die Art, in der wir uns die Wirklichkeit zurechtzimmern.“
„Und das macht Literatur relevant.“
„Wenn ich Autor wäre.“
„Wie Schell zum Beispiel. Aber auch wenn du eine Romanfigur wärest, dürfte Literatur relevant für dich sein.“
„Ja, allerdings.“ Ich gähne.
„Und wie relevant sie erst sein muss für den, der Autor und Romanfigur zugleich ist; für Schellkimura zum Beispiel.“
Ich gähne nochmals. Woher diese Müdigkeit, die mich auf einmal überkommt? Was ist das? So plötzlich, so überwältigend … Mann, bleib wach!, sage ich mir, das ist wichtig hier! Du kannst jetzt nicht einfach einschlafen! Doch ich kann gar nicht mehr aufhören zu gähnen; und während ich noch dagegen ankämpfe, ist mir schon klar, dass er es ist, Forty, der mich in den Schlaf schickt.
„Hast du die Uhr verstanden, verstehst du auch unsere Kosmologie, ich meine unseren irdischen Standpunkt.“
„Aha“, gähne ich, „so ist das also … Wie spät haben wir’s denn eigentlich?“
Dass er irritiert die Stirn runzelt, sehe ich noch, und dann, dass er sich diese Uhr ans Ohr hält, und höre auch noch, wie er ungläubig murmelt: „Die wird doch wohl jetzt nicht ihren Geist aufgegeben haben …“

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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Wer mich kontaktieren möchte, sende mir eine E-Mail mit dem Vermerk 'Schells Bureau' an: matthias.scheel[at]posteo.de