S.4

Meine Art Chef

Ein Geräusch aus Richtung des Fahrstuhls, das in einem menschlichen Gehör wie eine beschwingt gepfiffene Melodie klingen würde, vage erinnernd an südliche Gefilde, an Palmenschatten und Mangoduft, veranlasst die kleinen, die sehr kleinen und auch die winzigen Kreaturen, die den fensterlosen, schwach beleuchteten Flur bevölkern, sich fluchtartig zurückzuziehen hinter Leisten, Einfassungen und Wandverputz. Und als sich der Fahrstuhl öffnet, etwas ruckelnd, wer betritt da diesen recht schäbigen Flur?
Ich.
Und weiter jenes Liedchen pfeifend, aber immer leiser, steuere ich geradewegs eine bestimmte Tür an. Das heisst, ich scheine mich hier auszukennen.
Es ist dies der ziemlich abgelegene, fast schon vergessener Teil einer riesigen labyrinthischen Struktur, Affa genannt, in dem die ehemals so wichtige und berühmte Abteilung Technik-Folgen-Abschätzung, kurz TFA, ihre sozusagen letzte Ruhestätte gefunden hat.
Hier residiert Ladenheuser, mein Chef. Chef, nun ja … Genau genommen ist Ladenheuser nur ein Sachbearbeiter, doch habe ich gelernt, ihn nicht zu unterschätzen. Wie man diese komische Abteilung insgesamt nicht unterschätzen sollte. Was die TFA inzwischen wirklich treibt, wer weiss das schon? Wenn der ganze gigantische Machtblock, den das Affa repräsentiert, einmal untergeht, dann wird, wie ich vermute, die TFA dahinterstecken. Und vielleicht weil die Intelligenz, die das Affa steuert, auch zu diesem Schluss gekommen ist, hat man die TFA ins Abseits befördert, sie abgekapselt wie einen schädlichen Fremdkörper.
Jedenfalls war ich lange nicht mehr hier; wundere mich sogar, dass es diesen vergammelten Flur überhaupt noch gibt und dass auf dem Schild an der Tür immernoch Ladenheuser steht.
Ich massiere mir kurz das Gesicht, um etwaige Spuren von guter Laune daraus zu tilgen, dann – etwas nostalgisch, ja gar ein bisschen andächtig gestimmt – klopfe ich an. Ladenheuser hat noch nie „Herein!“ gerufen, trotzdem warte ich ein paar Sekunden, bevor ich nochmals klopfe und eintrete. „Herr Ladenheuser? Wie geht’s?“
„Ach Schell, Sie sind’s. Wo kommen Sie schon wieder her?“
„Ich war auf Lavienta. Im Urlaub quasi.“
„Kommen jetzt aber aus Istanbul …“ Ladenheuser wischt in dem Büro-Comic herum, der vor ihm auf dem Schreibtisch flackert. „Was war da los?“
„Man hat versucht, mich zu erschiessen.“
„Darf man fragen …“
„Keine Ahnung. Es fehlt mir da leider ein Stück Erinnerung.“
Worauf Ladenheuser schweigt; mich anschaut. Skeptisch.
In all den Jahren, in denen ich hier bei Ladenheuser zum Rapport anzutreten hatte, bin ich von ihm immer nur auf drei Arten angeschaut worden: entweder müde, oder ausdruckslos, oder so wie jetzt, skeptisch. Ich nehme an, er hat nur diese drei Optionen. Weil er mehr für die Interaktion mit Kunden wie mich offenbar nicht braucht. Inzwischen bin ich mir nämlich ziemlich sicher, dass Ladenheuser eine Maschine ist, eine Büromaschine.
„Ist so,“ sage ich mit einem Achselzucken. „Was zwischen Lavienta und Istanbul war, ist wie ausradiert. Kein Fitzelchen mehr davon übrig.“
„Erzählen Sie von Lavienta.“
„Ich war erholungsbedürftig; wollte surfen und mich endlich mal wieder meinem Hobby widmen,“ und füge schön beiläufig locker hinzu: „Sie wissen ja, Schriftsteller spielen … Funktioniert Ihre Kaffeemaschine noch?“
Ladenheuser nickt. „Auch die funktioniert noch.“ Sein Gesichtsausdruck wechselt von skeptisch zu ausdruckslos. Ich schalte die Maschine an, sie brummt und das Licht im Büro wird merklich trüber.
Der Kaffee sieht gut aus, dampft und duftet, und als ich den Automat ausschalte, fliesst wieder mehr Energie in die Beleuchtung. Mit Blick auf den Büro-Comic sage ich: „Erstaunlich, dass man Sie den Strom für das Ding noch nicht selber produzieren lässt. Ihnen einen Pedalantrieb unter den Schreibtisch zu basteln, dürfte doch kein Problem sein. Und würde Ihnen sicher gut tun. Dem Fitness-Büro gehört die Zukunft.“
„Der lustige Schell … Wieso glaubt jeder Agent, er muss, wenn er hier zum Rapport aufkreuzt, den Spaßvogel mimen?“
„Ich glaube eher, dass kaum noch einer aufkreuzt.“
Pause. Es beginnt das übliche Schachspiel im Geiste. Wer liest die Gedanken des anderen präziser? Ladenheuser ist darin Meister.
„Zur Sache, Schell. Lavienta. Ihr sogenannter Urlaub.“
Ich unterdrücke ein Seufzen. Ladenheuser vom Thema abzulenken, ist so gut wie unmöglich.
„Ja, Urlaub, was blieb mir anderes übrig? Von Ihnen kam ja nichts mehr. Ich habe Anfragen genug geschickt, doch weder Sie noch sonstwer im Hause reagierte. Die TFA hat mich abgeschrieben, dachte ich. Wegen Ineffizienz. Hatte ja wirklich lange nichts mehr zustande gebracht. Mich endlich rauszuschmeissen, war insofern nur folgerichtig.“
„Effizienz, Evidenz, Kompetenz … Wenn wir Sie je nach solchen Kriterien beurteilt hätten, wäre es schon immer folgerichtig gewesen, Sie rauszuschmeissen, Schell.“
„Okay, fürs Protokoll: Ich hatte nie etwas dagegen, aus der TFA beziehungsweise aus dem ganzen Affa-Apparat rauszufliegen; und hätte auch jetzt nichts dagegen.“
Pause. Schweigen. Ladenheuser ausdruckslos; doch habe ich das Gefühl, dass er mir nonverbal etwas mitzuteilen versucht.
„Ich weiss ja, Schell, Sie halten sich für echt, und dem entsprechend glauben Sie alles mögliche von sich; dass Sie aufrichtig sind, bescheiden, das Richtige wollen, das Gute und so weiter. Doch woran es Ihnen tatsächlich fehlt … Wissen Sie, woran?“
„An Durchblick?“
„An Demut.“
Das von Herrn Ladenheuser … Ich erstarre in Staunen, befehle meinem Gesicht: Sei Maske!
Das ist nicht die Art Tadel, die ich von Ladenheuser gewöhnt bin. Die Kritik von ihm, die ich normalerweise ernte, wenn ich hier zum Rapport antrete, wird mal durch Ironie gemildert, mal sarkastisch verschärft, manchmal sogar mit etwas Pathos gewürzt, aber sie ist immer hintersinnig verklausuliert auf eine Weise, die insbesondere allem, was einen moralischen Anklang hat, jegliche Eindeutigkeit entzieht.
Gerade weil ich Ladenheuser bisher für eine Schablone hielt, für ein Sprachrohr jener künstlichen Intelligenz, die das Affa steuert, fand ich es meistens interessant, ihn über den „menschlichen Standpunkt“ sinnieren zu hören. Kann er tatsächlich erkennen, woran es mir fehlt? Dann wäre er womöglich doch … ein richtiger Mensch?
„Demut, Herr Ladenheuser? Darf ich fragen …“
„Das war eine rein private Bemerkung. Berichten Sie von Lavienta.“
„Haben Sie darüber nichts vorliegen?“ Dabei deute ich auf seinen Büro-Comic.
„Lavienta gehört zum Andrianischen Archipel und wie Sie wissen müssten, sind die digitalen Signale von dort unzuverlässig. Deshalb interessiert mich Ihr Bericht. Sie waren da, auch wenn Sie dachten, Sie hätten dort keinen Auftrag gehabt.“
Ich glotze ihn an. „Sie meinen, ich hatte einen?“
„Schell, habe ich Sie je zum Rapport bestellt, um mir Urlaubsgeschichten anzuhören? Sie müssen endlich kapieren, dass sich einige Bedingungen für Sie geändert haben. Von mir, das heisst von der TFA bekommen Sie keine Aufträge mehr. Sie arbeiten auf eigene Verantwortung. Soll heissen, Sie sind in Ihrer Karriere ein gutes Stück vorangekommen.“
„Ach so? Und nun?“
„Es betrifft zum Beispiel den Schwierigkeitsgrad. Null Orientierung. Krasse Symptome. Black-out. Oder plötzlich fliegen Ihnen Kugeln um die Ohren. Eine Kostprobe davon haben Sie in Istanbul gerade erlebt.“
„Sie nennen das: ein gutes Stück vorangekommen? Solche Beförderungen lehne ich entschieden ab. Mich zu entlassen, okay – denn darauf läuft’s ja wohl hinaus, wenn Sie mir keine Aufträge mehr erteilen; doch gar nicht okay, mich ungefragt auf so einem irren Krisen-Level einzusetzen!“ Ich starre Ladenheuser finster an. „Haben Sie gehört? Ich protestiere!“
Doch er tut so, als sei er ganz in seinen Comic vertieft, und gerade als ich aufstehen will, um zu gehen, sagt er: „Vielleicht habe ich voreilig entschieden. Vielleicht habe ich Sie wirklich überschätzt. Vielleicht sind Sie noch nicht soweit. Denn sonst wären Sie gar nicht hier. Wären nicht in Panik geraten. Hätten nicht in Hongkong angerufen.“
Ach so … Na klar: Die Hongkong-Nummer wählt man nur im Notfall …
„Mir kam das Real, ich meine, das ganze Dingens, Sie wissen schon … es kam mir falsch vor, so falsch, dass ich dachte, womöglich ist das Gefüge insgesamt kaputt oder so, und nicht weil ich in Panik war, nein, sondern einfach um zu testen, ob die Realität noch … Ach, ist doch egal. Glauben Sie, was Sie wollen. Aber wozu habe ich mir denn die Hongkong-Nummer irgendwann mal eingeprägt?“
„Keine Ahnung. Wo haben Sie die überhaupt her?“
„Das wäre eine lange Geschichte … Ist so ‘ne Hotline, dachte ich.“
„Ist sie auch. Für äusserste Notfälle. Bis jetzt. Gewesen. Ein geheimer Kanal, eine Art Schlupfloch. Nicht eigentlich für Sie gedacht, Schell, sondern für andere. Jetzt leider unbrauchbar für alle. Jetzt dem System nämlich bekannt, und das heisst: Teil ab jetzt von Ureal.“ Er schaut mich müde an.
Ureal? War das ein Versehen? Ist ihm das herausgerutscht? Davon spricht man in der TFA doch nicht! So wie „Real-Technik“ ist unter uns auch „Ureal“ tabu.
Ich überlege unter Hochdruck. Was gibt’s hier dringend zu kapieren?
„Jetzt komme ich mir wie der letzte Trottel vor,“ sage ich.
„Könnte ein guter Ansatz sein.“
Eine Anspielung auf meinen Mangel an Demut? Wahrscheinlich. Nach dem Motto: Sich mies zu fühlen ist ein guter Anfang.
„Ich weiss auch nicht weiter,“ sagt Ladenheuser. „Werde einfach nicht schlau aus dieser Koinzidenz: Während Sie sich in Istanbul den Jux erlauben, in Hongkong anzurufen – “
Jux? Wenn gewisse Naturgesetze offensichtlich nicht mehr – “
„– frage ich, hier sitzend, mich zufällig gerade: Ob der Schell sich je wieder blicken lässt? Hat er die TFA nun wirklich hinter sich? Ist er endlich unabhängig? Und just da schneien Sie hier rein. Wie selbstverständlich; wie zum üblichen Rapport. Ich meine, was hat Sie hierher gebracht? Ich meine,“ und er zeigt auf den Büro-Comic, „da sind Sie zu sehen – in Istanbul! In einer ganz anderen Welt – ach, was sag ich – Dimension! Und aus der verschwinden Sie urplötzlich und kommen hier hereinspaziert. Fast authentisch. Wie in Fleisch und Blut. Also auch wenn ich schon einiges gewöhnt bin …“
„Wie ich schon sagte, etwas mit den Naturgesetzen stimmt nicht mehr so ganz …“ Fast authentisch? Also nicht authentisch. Nicht wirklich Fleisch und Blut … Schon wieder so eine Anspielung auf Ureal, wie wir sie uns normalerweise nicht erlauben. Er wirkt tatsächlich aufgeregt, emotional … Wird doch wohl nicht aus der Rolle fallen? Oder will er mich nur aus der Reserve locken?
Offenbar war’s das aber auch schon mit der Emotion. Ladenheuser lehnt sich zurück, schaltet auf sachlich um: „Halten wir uns an die Fakten. Dass Sie plötzlich in Ure- – ich meine hier auftauchen, hat nichts damit zu tun, dass Sie kurz vorher in Hongkong angerufen haben.“
„Warum nicht? Schon in den 1880er Jahren bekam es so mancher Bühnenzauberer mit dem berüchtigten Hongkong Mystery Effect zu tun. Hat sich wahrscheinlich weiterentwickelt, dieses Phänomen, über die üblichen Zauber-Shows hinaus. Was uns in virtuellen Zeiten wie diesen …“
„Schon klar, Schell. Was war wesentlich auf Lavienta?“
Ach, Lavienta … Soll ich ihm von der Dauerparty erzählen? „Ich traf Bekannte von früher, zufällig. Leila und Alonso. Wir waren eine Zeitlang das LA-Trio. Hatten stark mit Drogen zu tun, daher bin ich mir der Echtheit der Details, an die ich mich erinnere, nicht sicher. Wir warteten auf einen Kurier, der uns irgendwas überbringen sollte. Angeblich was von Geo Rey … Ergibt das für Sie einen Sinn?“
„Allerdings. Offiziell ging’s um eine Spezialdroge. Inoffiziell um – na, was wohl? MoTech. Und worum es eigentlich ging – das wissen nur Sie, Schell. Worauf haben Sie da wirklich gewartet?“
„Keine Ahnung. Kann sein, dass der Kurier tatsächlich kam; wenn ja, habe ich ihn als solchen nicht erkannt. Habe weder von einer Spezialdroge, noch von irgendeiner MoTech was mitgekriegt, und auch nichts von einem geheimen Eigentlichen. – Bitte, Herr Ladenheuser, starren Sie mich nicht so an. Da ist nichts, wirklich nichts interessantes, das ich Ihnen verschweige. Ich weiss nur, dass ich irgendwann von den Drogen genug hatte; dass ich mich von Leila und Alonso lossagte und es mal wieder dringend nötig war, zu regenerieren. Ich fand ein ideales Plätzchen, um endlich in Ruhe wieder meinem Hobby nachzugehen – Sie wissen schon – und im übrigen: die Wellen zu reiten. Und damit bin ich schon beim letzten, was ich von Lavienta noch weiss: dass eine enorme, eine Wahnsinns-, eine Monsterwelle auf mich zu rollte … Und das war’s. Was danach kam, weiss ich nicht. Bis ich dann plötzlich nachts über den Bosporus flitze …“
„Was war vorher?“
„Wie gesagt …“
„Oder so gefragt: Wohin trug Sie die große Welle? Konzentrieren Sie sich!“
Ich blicke ins Leere. Ist da was? Nichts deutliches, nur ein Gefühl. Atmosphäre. Eine Beleuchtung. Zuviel noch vom Eindruck der mächtigen Welle. „Nur ein paar vage Bilder, denen ich nicht traue; die sich wiederholen, künstlich, filmartig irgendwie, retrokoloriert, falls es sowas gibt … Ein Gebäude von innen, komisch verschachtelt, und gegen aussen komplett verbarrikadiert.“
„Ein sicherer Ort.“
„Doch sicher genug? Man wartet. Und jetzt: leise Musik dazu, Calypso, eine Frauenstimme, dieselbe, die … Sagen Sie mal, Ladenheuser, glauben Sie etwa, was ich Ihnen hier auftische?“
„Welchen Grund hätten Sie, zu fantasieren? Klingt alles plausibel. Sie haben den Kontrollbereich verlassen und waren offenbar eine ganze Weile dem ausgesetzt, was wir in der Branche Rough Magic nennen – und wie ich sehe, klingelt es da bei Ihnen.“
„Wie Sie sehen?“ – Irre, dieser Ladenheuser! Mir immer zwei, drei Schritte voraus. Bin mir fast sicher, er weiss längst, an was ich mich nicht erinnern kann.
„Hören Sie auf, so zu gucken,“ sage ich, „was soll das?“
Er betrachtet mich wie noch nie, neugierig, jedoch so wie einen Gegenstand.
„Sie haben Recht, Rough Magic, das ist die Form, die es annimmt, wenn wir uns mit einer Naturgewalt zu befassen haben, einem Hurricane oder so …“
„Schell … Sie werden immer, äh, unschärfer.“
„Deshalb gucken Sie so?“
„Ja. An den Rändern sind Sie schon gar nicht mehr da. Sehr interessant.“
„Was sagen Sie da?“
„Dass Sie sich gerade auflösen. Wir müssen unsere Sitzung jetzt also unterbr–“

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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