Bureau

B.12

Alias Bent

Aussen vor. Ausgesperrt. Von der Realität wie ausgeschlossen …
Halt! Hat er das gerade gesagt? Oder gedacht? Oder wer? Habe nur ich das gehört? Oder ihr auch? Aussen vor. Ausgesperrt. Von der Realität wie ausgeschlossen … Wenn er das eben gedacht hat, dürfte das wichtig sein; wo ich doch gerade ihn bedachte, ihn, der in diesem neuen Real die Hauptperson ist.
Auch hier haben wir es wieder mit einem Schell zu tun. Doch nicht mit R- oder mit U- oder mit H-Schell, sondern mit einem Vierten, einem, der bisher vollkommen unscheinbar, ja geradezu unsichtbar existiert hatte; unsichtbar, aber immer irgendwo in der Nähe …
Kurz, wir haben es mit Tschell zu tun.
Auch er sieht aus wie etwa Anfang vierzig. Auch er wie jemand, den man, weil er einfach nichts Bemerkenswertes an sich hat, gleich wieder vergisst. Auch er einer, der manchmal intelligent erscheint, nicht oft allerdings und nie so, dass man denken würde: Welch intelligenter Typ! Was ihn von den drei uns bekannten Schells erheblich unterscheidet, ist dies: Jene verfügen über ein gutes Quantum an Distanz zur Welt des Scheins, sodass immer klar ist, zumindest von aussen betrachtet, dass hier mit einem Schell jeweils der Autor in seinem Roman auftritt; dass überhaupt so etwas wie ein Roman noch da ist, das heisst noch ein Unterschied besteht zwischen Roman und Real. Hingegen für Tschell besteht dieser Unterschied nicht mehr und also erscheint die Situation wie umgekehrt: statt dass der Autor in seinem Roman bewusst selbst als fiktive Gestalt auftritt, verkörpert sich dieser sozusagen fiktiv gewordene Autor durch Tschell unbewusst in einem Real; wodurch dieses sich zur Gänze schliesst und also, weil somit als Real nicht mehr erkennbar, zur Realität für ihn wird. So ist Tschell mit seinem Real nicht nur sehr stark identifiziert, sondern eigentlich überidentifiziert. Und was hat das zur Folge? Dass er inzwischen keine Sekunde lang mehr nachzudenken braucht. Alles läuft für ihn von selbst.
Mit diesem Alles ist hier eine Maschinerie gemeint, nach Art eines Lebewesens in Dauerbetrieb; eine Maschinerie, deren Aktivität man sich restlos anvertrauen muss, und eben das heisst hier: sich identifizieren. In diesem Sinne funktioniert bei Tschell das Identifizieren zu einhundert Prozent. Er steht der Scheinwelt nicht wie R-, U- und H-Schell gegenüber, sondern ist darin ganz aufgegangen; ist mit dem Anschein wie verschmolzen.
Dabei hört er die ganze Zeit eine Stimme in seinem Kopf, oder eigentlich nicht eine Stimme, eher einen Gedankenstrom; den er nur deshalb wahrnimmt, weil er inzwischen selber keine Gedanken mehr hat; einen Gedankenstrom, von dem er nur weiss, dass er nicht sein eigener ist; der ihn aber auch nicht direkt stört. Was ihn höchstens daran irritiert, ist das Persönliche: als dächte da in ihm eine Person vor sich hin.
Aussen vor. Ausgesperrt. Von der Realität wie ausgeschlossen …
Wen Tschell da vernimmt, nennt er für sich den Anderen. Oder die Andere. Oder auch, wenn ihm dabei manchmal unheimlich ist, das Andere. Das Fremdartige. Das Alien.
Es erklärt, es erzählt, es berät, ja gibt sogar Anweisungen.
Manchmal aber ist auch alles nur Metapher – Krypt, wie man heute sagt –, und dann fühlt Tschell, dass er schon wieder die ihm da metaphorisch mitgeteilten Geheimnisse nicht begreifen kann, und kommt sich in seinem Körper vor wie eine Marionette an den Fäden eines großen Puppenspielers, und alles erscheint ihm dann so komisch pseudo, so unwirklich, so wie – ja wie?
Wie nur durch sich hindurch. Durch  d i c h  hindurch – du bist in einem Transit, Tschell, verstehst du das?
Was Tschell davon versteht, ist bisher nur, dass dieser fremde Gedankenstrom ihn von irgend etwas zu überzeugen versucht.
Und überhaupt: Tschell? Was soll Tschell? Zu wem spricht er, oder sie, oder es? Bin tatsächlich mit Tschell ich gemeint? So fragt sich Tschell; allerdings nur nebenbei, denn wie üblich hält ihn eine Unmenge von Kleinigkeiten vollautomatisch vom Nachdenken ab. Immerhin aber klingt diese Tschell-Benennung nach – hat sie vielleicht mit dem zu tun, wovon der Andere – oder der Gedankenstrom – oder das Alien – ihn zu überzeugen versucht?
Doch bleiben wir objektiv. Tschell überidentifiziert heisst auch: nicht nur irgendwie getarnt, sondern im Modus tiefster Tarnung auf der höchsten Stufe. Sodass er gar nicht wissen kann, wer er letztenendes wirklich ist. Oder wo er wirklich ist – wie zum Beispiel die Stadt um ihn herum überhaupt heisst.
Ach ja – Krakl. Eine Kleinstadt. In Deutschland. Recht malerisch gelegen zwischen waldigen Hügeln an einem Flussgeschlängel. Standort ehrwürdiger Gelehrsamkeit schon seit dem Mittelalter; davon übriggeblieben: Die Uni. An der es bis vor kurzem sogar noch einen Rest von Ägyptologie gegeben hatte … Es gibt ein Stück Roman über diese spezielle Ägyptologie, ein Romanstück, das zwar in Amerika spielt, in Las Vegas, aber mit dem Ende des ägyptologischen Instituts in Krakl seinen Anfang nahm; als nämlich das Institutspersonal aus nur noch drei Personen bestand: aus Frau Kramer, genannt Das Sekretariat, Gurner Pentshak, dem ehemals berühmten, inzwischen nur noch berüchtigten alten Professor, und dessen Assistent, einem gewissen Manes Bent. Hier nun erinnern wir uns an das vorherige Kapitel: Da war doch in Havanna dieser junge amerikanische Anthropologe namens Linval Livermore in Erscheinung getreten … Setzen wir an dieser Stelle diese Vorgeschichte fort:

Während der Verfasser (der Schreiber dieser Zeilen) auf Jamaika weilte, drei Jahre insgesamt, entdeckte besagter Livermore jenes neue Inselreich des König Azuma und schrieb im Stil eines anthropologischen Forschungsberichts ein Buch darüber: Andria. Und dieses wurde ein Erfolg, auch kommerziell. Denn ein gewisser Monro, der Livermore’s Forschungsarbeit unterstützte, hatte dafür gesorgt, dass die Moonrow, eine Firma, die Bücher, Filme und Spiele produzierte, die Verkaufsrechte erwarb und sogleich in großem Stil das Marketing in Gang setzte.
Zu jener Zeit war Tschell noch Schell, der Eine, nämlich einfach das alter ego des Verfassers. Da hatte er schon ein erstes literarisches Experiment hinter sich, Nada oder Die Ursache, und war über diese Erfahrung zu der Überzeugung gelangt, dass seine Ambitionen gar nicht mit den Bedingungen der Schriftstellerei zusammenpassten; dass er vielmehr, wenn er als Schreiber weitermachen wollte, sich eine andere, eine eigene, neue Ebene würde erschliessen müssen. Und ohne schon zu begreifen, was er tat – mit nur dem vagen Umriss einer Idee vor Augen, noch ohne den Begriff der Real-Technik –, hatte er damit begonnen, sich in eine Alias-Identität einzuleben, und zwar in die des Manes Bent, eines Adepten der Ägyptologie.
Zunächst war er schrittweise hinter diese Bent-Identität zurückgetreten, indem er seine eigene Vergangenheit nach und nach in die des Manes Bent umgemünzt hatte. So lange war dieser noch sein fiktiver Doppelgänger gewesen. Dann hatte sich an einem gewissen Punkt die Sache umgedreht, war er selbst zum Doppelgänger geworden, das heisst so sehr hinter Bent zurückgetreten, dass zu diesem im Vergleich nun er selbst der Fiktive war.
Das klingt rätselhaft, ja unwahrscheinlich; es ist kaum vorstellbar – noch nicht; doch mit fortschreitender Erkenntnis der Real-Technik wird sich das ändern.

Jener Bent also: er pendelte zwischen Wien, Berlin und Paris hin und her; verschaffte sich die akademischen Grundlagen der Ägyptologie, arbeitete als Comic-Zeichner und belieferte nebenher ein Untergrund-Magazin namens SubNews mit fiktiven Reportagen über verbotene Bücher. Dies letztere unternahm er anonym; ein zwangloses Drauflos-Schreiben ohne jegliche Verantwortung, welches ihm zunächst nur einfach ein Vergnügen war. Dazu gehörte vor allem das Geheimnisvolle, die Atmosphäre nämlich, als sei mit allem, was er da erzählte, etwas anderes gemeint, irgendein verborgenes Dahinter. Diese Art Unterton mochte wohl als bloßes Stilmittel aufgefasst werden, doch ging es hervor aus einem Gefühl, das sich nie zur Gänze verdrängen liess, weil es – zumindest wenn er für Momente ernst und ehrlich mit sich war – aus der Gewissheit kam, dass seine Berufung in Wahrheit die des Dichters war. Wovon er allerdings ganz entschieden nichts wissen wollte – Berufung!, Wahrheit!, und dann noch: Dichter!, nein, entschieden nein! Denn seit der Erfahrung, die er mit jenem literarischen Experiment namens Nada oder Die Ursache gemacht hatte und die eine überaus peinliche gewesen war, wollte er mit einem Pathos wie dem der wahren Berufung nichts mehr zu tun haben. Und wie aus Scham für dieses Gefühl der Berufung, der Gewissheit, ja wie um sich geradezu dafür zu bestrafen, schrieb er umso ungezügelter drauflos. Sein trotziges Credo damals hätte etwa lauten können: Ich denke, was ich will, und finde dafür Worte wie ich will – das ist meine Freiheit.
Es war diese damalige Phase seines Lebens sehr ereignisreich, eine Zeit der Entdeckungen, der Abenteuer, der Begegnungen mit aussergewöhnlichen Menschen. Er lernte besagten Linval Livermore kennen, in Paris, und auf Anhieb hatten sie sich viel zu sagen; sodass sie, als Livermore nach Amerika zurückkehrte, miteinander in Kontakt blieben. Und da Bent die englische Sprache inzwischen gut beherrschte und ihm das Buch, das sein neuer Freund über Andria geschrieben hatte, sehr gefiel, nahm er ohne zu zögern das Angebot an, es ins Deutsche zu übersetzen. Da er ohnehin mit dem Autor in regem Austausch war, machte ihm diese Arbeit Spaß und ging ihm entsprechend leicht von der Hand; ausserdem wurde er gar nicht mal schlecht dafür entlohnt; und nicht zuletzt: sie fand des Autors Anerkennung. Denn nicht nur wusste Livermore um die Schwierigkeiten des Übersetzens im Allgemeinen, er konnte auch, da er selbst über gute Deutschkenntnisse verfügte, Bent’s Übersetzung einigermaßen beurteilen. Sodass es schliesslich dazu kam, dass Bent von der Verlagsfirma, der schon erwähnten Moonrow, exklusiv unter Vertrag genommen wurde für alles, was von Livermore auf deutsch erscheinen sollte.

Bent und Livermore: sie inspirierten sich gegenseitig, doch nicht, weil ihrer beider Forschung in annähernd dieselbe Richtung ging, sondern weil ihre Anschauungsweisen dabei zum Teil erheblich differierten. Das machte ihren Austausch so ergiebig. Dass Livermore sehr vieles von Bent aufgriff und in seinen Büchern verarbeitete, störte Bent keineswegs, im Gegenteil. Nahm ihm Livermore nicht quasi die ganze schriftstellerische Arbeit ab? Und noch dazu bescherte ihm ja die Übersetzerei ein kleines, aber ausreichendes und leicht verdientes Einkommen. Denn Bent hatte zu jener Zeit noch eine andere Arbeit, nämlich die Assistenz bei Professor Pentshak, und die kostete ihn viel Zeit, während was er dafür an Bezahlung erhielt, nur eher symbolisch war.
Die Arbeit mit Pentshak brachte es mit sich, dass er viel unterwegs war, mal den Professor begleitend, mal auch allein; auf Forschungsreisen, wie es hiess. Über das Wesentliche dieser Reisen hatte er – denn es war esoterischer Natur – Stillschweigen zu wahren; während er über das Unwesentliche Protokoll zu führen hatte, für die Akten. Dabei musste er sich immer wieder fragen – und fragte es sich bis zum Schluss –, ob es nicht eine Dummheit gewesen war, sich ausgerechnet bei Gurner Pentshak als Schüler zu bewerben. Genau das nämlich bedeutete die Assistenz bei diesem sonderbaren Professor: Schülerschaft. Und der latente Zweifel am Sinn dieser Ausbildung gehörte dazu, wie er im Laufe der Zeit entdeckte. Denn zum einen führte, was Pentshak lehrte, so weit ab von dem, was die übliche, die offizielle Ägyptologie beinhaltet, dass es zu dieser gar kein Zurück mehr gab; und zum anderen schien es direkt in der Art der Pentshak’schen Ägyptologie zu liegen, dass der Schüler das Anfängertum nicht verlernte, das heisst immer in Betracht zog, dass die Möglichkeit, in Dummheit zu verfallen, durchaus mit der fortschreitenden Erkenntnis Schritt hielt. Kurz, was das Zweifeln in diesem Sinne angeht, war Bent ein gelehriger Schüler – gewesen, wie man dazusagen muss; denn wusste er zwar um die ständige Gefährdung durch Dummheit, so konnte ihm doch das Verfallen in selbige schlussendlich nicht erspart bleiben. Und auch das könnte man im Rückblick als notwendigen Bestandteil der Pentshak’schen Ausbildung ansehen, als deren Abschluss, die Große Prüfung sozusagen.
Man hätte Gurner Pentshak auch in ägyptologischen Kreisen leicht übersehen können, und wen der Ruf, den er genoss, abschreckte – seine Lehren galten als unwissenschaftlich, abstrus, ja sogar sektiererisch –, der übersah ihn auch einfach. Nur wenige machte der abschreckende Ruf neugierig, und vielleicht war Bent überhaupt der einzige, den dieser Ruf geradezu veranlasste, eigens nach Krakl zu reisen, um sich von dem exotischen Professor selbst einen Eindruck zu verschaffen. Dieser Besuch führte ihn ins Sekretariat des Instituts, vor eine Frau Kramer, die sehr nett war, ihm aber versicherte, der Professor sei auch morgen und übermorgen nicht persönlich anzutreffen, und heute schon gar nicht; die ihm zum Abschied jedoch vorschlug, sich für die Assistenzstelle zu bewerben, denn die sei zur Zeit vakant.
Nun hatte er sich ja nur mit diesem Pentshak einmal unterhalten wollen, mehr nicht; warum dachte er über die Bewerbung auch nur nach? Wahrscheinlich gab zuletzt die Abenteuerlust dafür den Ausschlag, dass er wenige Tage später schon tatsächlich ein Bewerbungsschreiben nach Krakl schickte.
Die Antwort allerdings, ein von Frau Kramer unterschriebener Brief – die kurze förmliche Einladung zu einem Gespräch –, liess so lange auf sich warten, dass sie ihn dann durchaus überraschte.
„Der Professor ist sehr spontan“ – so vor Ort dann Frau Kramers Erklärung dafür, dass Bent auch diesmal den alten Pentshak noch gar nicht zu Gesicht bekam. Und als sie hinzufügte: „Er legt größten Wert darauf, jederzeit bereit zu sein“, klang das bedeutsam, wie quasi die allererste Grundregel, und also prägte er sich das in Großbuchstaben ein: JEDERZEIT BEREIT.
So wohlwollend, so hilfsbereit, so auf etwas altbackene Art charmant Frau Kramer insgesamt auch wirkte, so klar auch strahlte sie aus, dass sich mit ihr nicht irgendwie umspringen liess; sie war die Chefin hier, und dies in betont konservativem Stil; auch fraulich übrigens in diesem Stil: in adretter Schale, maßvoll in Schminke, Beschmückung und Duft, auf flair bedacht und nicht auf Anreiz; von rötlich-blondem Typ, grünäugig, bebrillt, durchaus nicht übertrieben schlank; in ihren späten Vierzigern, schätzte Bent.
Während eines kurzen Rundgangs durch die Räumlichkeiten des Instituts kam sie aufs Finanzielle zu sprechen, das heisst wies auf die nur sehr bescheidenen Mittel hin, mit denen die hiesige Ägyptologie zu haushalten habe. „Insofern ist ja das mit dem Verdienst bei uns so eine Sache; kaum dass man da von einem ordentlichen Gehalt reden möchte … Aber Sie erwähnten, Sie hätten einen Job. Können Sie den hoffentlich auch hier ausüben?“
Bent darauf: „Durchaus. Ich übersetze.“
„Na wunderbar! Ist dann also nur noch zu klären, ob Ihnen Ihre neue Unterkunft zusagt.“ Sie hatte bereits eine Wohnung für ihn angemietet. „In der Altstadt, hoch unterm Dach, mit Ausblick; vollständig möbliert; und recht gemütlich, würde ich sagen.“ Sie übergab ihm den Schlüssel und beschrieb ihm den Weg dorthin.
So endete also, was Bent sich unter „Einladung zu einem Gespräch“ doch recht anders vorgestellt hatte, damit, dass hier abrupt sein neues Leben begann. Was zufällig mit dem Anfang des Wintersemesters zusammenfiel; sodass also das Lehrprogramm schon feststand. „Der Professor“, so Frau Kramer, „liest wie immer über die Neue Ägyptologie, und solange er dazu keine Zeit hat, übernehmen Sie das vertretungshalber.“ Worauf er erschrocken genug gewirkt haben musste, dass sie beruhigend hinzugefügt hatte: „Sie haben völlig freie Hand, exkursieren Sie wohin Sie wollen. Ausführungen zum Beispiel über Osiris und das Ewige Leben wären immer im Sinne des Professors.“
Zu diesem Zeitpunkt war die Krakler Ägyptologie noch ein regulärer Institutsbetrieb, das heisst es gab eine Studentenschaft und dieser entsprechend auch einige Dozenten, sowie ausser Pentshak noch einen zweiten Professor. Insofern machte insgesamt besehen diese Umgebung auf Bent den Eindruck des Üblichen. Dass er aus dem Stegreif Vorlesungen halten sollte, verursachte ihm zwar ein gewisses Lampenfieber, jedoch kein Kopfzerbrechen. Er würde einfach die Studenten an seinem Nachdenken darüber, was denn unter Neuer Ägyptologie zu verstehen sei, teilhaben lassen; und falls ihm dazu nichts einfiele, könnte er immernoch über die gegenwärtige Form des Mumienwesens reden, oder über die ägyptischen Ursprünge des römisch-katholischen Kultus, oder die Symbolik des Taro … Und nicht zuletzt, was Frau Kramer erwähnt hatte: Er könnte der Frage nachgehen, worin hier und heute der Osiris und das Ewige Leben zu finden sei.

So nichtssagend und abgenutzt als Redensart das Hier-und-Jetzt auch sein mochte, die stete Besinnung darauf, aktualisiert durch jene Grundregel in Großbuchstaben: JEDERZEIT BEREIT, erwies sich wieder einmal als das einzig Wahre im Umgang mit dem Neuen, als das einzig Wahre also auch für den Einstieg in die sogenannte Neue Ägyptologie. So, in diesem Zustand konzentrierter Geistesgegenwart, fühlte Bent sich gar nicht angestrengt, sondern angenehm lebendig, und gingen ihm diese Vorlesungen in Vertretung des Professors recht gut und locker von der Hand.
Auf die positive Resonanz seitens der Hörer reagierte Frau Kramer, als habe sie nichts anderes erwartet, und so wurde, wenn er mit ihr im Sekretariat das schon bald zur Gewohnheit gewordene Plauderstündchen abhielt, alles mögliche erörtert, nur keine dienstlichen Belange.
Weiterhin allerdings liess der alte Pentshak auf sich warten; ein Rätsel, das Frau Kramer keineswegs beunruhigte, wiewohl sie natürlich für Bent’s Ungeduld Verständnis hatte. „Wirklich, Herr Bent, ich weiss nicht, wo er steckt, was er treibt; ich habe Ihnen keinerlei Erklärung zu bieten. Er ist sehr spontan, kann ich nur immer wieder sagen. Und leider bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sich einfach in Geduld zu üben.“
Noch rätselhafter wurde dieser Pentshak, als Bent, der wenigstens wissen wollte, wie der Alte aussah, nach einem Foto fragte und sich herausstellte, dass auch Frau Kramer kein einziges auftreiben konnte, auf dem der Professor zu sehen war.
„Wie ist das möglich?“, staunte Bent. „Der müsste doch auch bei Ausgrabungen mal dabeigewesen sein – wo doch massenhaft photographiert wird!“
„Ich denke, er will nicht auf Fotos erscheinen“, so Frau Kramer, „und wenn einer dergleichen zu verhindern weiss, dann unser Professor. Sie werden nie aufhören, sich über ihn zu wundern, soviel ist sicher.“

Tatsächlich wäre unserem Bent der Einstieg in die Krakler Ägyptologie – in diese spezielle Schülerschaft – nicht so leicht gefallen, oder wäre ihm womöglich gar nicht gelungen, wenn Gurner Pentshak da schon anwesend gewesen wäre. Denn wie sich erwies, war dieser Alte, der nach Wochen dann endlich auf der Bildfläche erschien, für Bent kein völlig Unbekannter, oder genauer: für Bent schon ein Unbekannter, nicht aber für den, der er gewesen war, bevor er Bent wurde. Das war nämlich, was ihn, als er des Professors ansichtig wurde, sehr stark irritierte, ja seine ganze schöne Selbstsicherheit gehörig erschütterte: dass diese Begegnung ihn an eine Vergangenheit erinnerte, die er für rein fiktiv hielt – während doch hier und jetzt sein Bent-Dasein so real für ihn war!
Anders gesagt: Pentshak’s Erscheinen brachte ihm schlagartig seinen Doppelgänger zur Erinnerung, das heisst jenen, der sich dereinst den Bent ausgedacht und mit Erinnerungen ausgestattet hatte und dessen Realität dann hinter dieser Bent-Fiktion so gut wie vollständig in Vergessenheit geraten war. Und daran war gar kein Zweifel. Es war nicht die Erinnerung eines anderen, die er da hatte – wie hätte das auch sein können? – nein; vielmehr erkannte er: Ich bin gar nicht Bent, sondern in Wirklichkeit ein anderer.
Und nicht Bent war es eigentlich, sondern dieser Andere, der hier jetzt den Alten anstarrte wie eine Geisterscheinung, dieser selbe Andere, der einst einmal – es war in Bangor gewesen, in einem Antiquariat, Morituri geheissen – diesem selben Alten gegenüber gestanden hatte; wobei ihm das tief gefurchte Gesicht mit dem zerzausten Backenbart und die in einen schwarzen umhangartigen Mantel gewandete hohe Statur heute nicht minder imposant erschien als damals.
Schauplatz war das Sekretariat, und Frau Kramer zugegen; die schliesslich diesen langgezogenen Moment beendete: „Setzen Sie sich, Bent, trinken Sie ein Kaffeechen mit mir. Der Professor hält heute die Vorlesung natürlich selber – oder etwa nicht, Professor?“ Dieser, seinen Blick weiterhin auf Bent gerichtet, murmelte nur: „So Sie das wünschen …“
Er schien sehr wohl zu wissen, was in Bent vor sich ging: dass dieser durch das Wiedererkennen sich mit der plötzlichen Erinnerung an ein anderes, ein wirklicheres Leben konfrontiert sah und dass ihn das nicht nur verwirrte, sondern ihm einen regelrechten Schock versetzte. Er sagte nun: „Bisher hat man sich hier offenbar recht gut mit Ihnen amüsiert, Herr Bent. Also bleiben Sie ruhig der, der Sie jetzt nun einmal sind, will sagen der, der Sie auch sind.“ Und ohne dazu noch weiteres zu sagen, verliess er, mit einem Nicken zu Frau Kramer hin, das Sekretariat.
„Nun aber hingesetzt, mein Lieber! So kreidebleich wie Sie plötzlich aussehen, brauchen gar nichts zu erklären. Denn so wie Ihnen jetzt, ist es mir selber auch einmal ergangen. Interessiert Sie das?“ „O ja!“
Und hier nun leistete Frau Kramer zu Bent’s Beruhigung ein Beträchtliches, eine Notversorgung sozusagen; denn das dürfte wohl klar sein: wie leicht es um einen gesunden Verstand geschehen ist, wenn seiner Voraussetzung, nämlich der gewohnten Ich-Identität, ohne bewusste Vorbereitung plötzlich der Boden sich entzieht.

B.11

Seltsamen

Wie seltsam das gewesen war, hinter mir Ingrun auf dem Rücksitz zu haben … Die Fahrt war in völligem Schweigen verlaufen, und ohne Musik, und das Ziel war ein großes Apartment-Gebäude gewesen, in einer ruhigen, recht teuren Wohngegend. Sie hiess mich dort in die Tiefgarage fahren, dirigierte mich auf einen bestimmten Stellplatz und fuhr mit mir den Aufzug in die vierte Etage hinauf; und noch immer schwiegen wir uns an.

Das Apartment, in das sie mich führte, gehöre ihr schon lange, erklärte sie. Mahmoud habe eine Zeitlang hier gewohnt. „Bevor er bei mir eingezogen ist. Du weisst ja wohl, dass Mahmoud und ich …“ Worauf ich nur ungeduldig nickte. „Zur Sache, Ingrun. Was soll das Ganze?“

„Ausser mir kennt nur Mahmoud diese Wohnung, und jetzt noch du. Denn bei Manne auf der Tankstelle bist du nicht mehr sicher, und falls du dich dringend mal verziehen musst, hast du nun diese Schlüssel hier … Dieser ist für die Wohnung und dieser für Haustür und Tiefgarage. Der kleine ist für den Briefkasten und dieser vierte hier für einen Raum im Keller. Der anhand der Numerierung leicht zu finden ist; wo in Pappkartons der Kram lagert, den du, als wir uns damals trennten, bei mir zurückgelassen hast.“

„Ach“, sagte ich und nahm den kleinen Schlüsselbund in Empfang, „dann waren also meine Sachen tatsächlich bei Mahmoud. Nur dass der von diesem Kellerraum nichts wusste.“ „Dass ich den ihm gegenüber erwähnte, bin ich mir sicher; und er hatte ja den Schlüssel … Hat aber immer soviel anderes im Kopf, der Gute.“

„Ich brauch den alten Kram inzwischen sowieso nicht mehr. Aber trotzdem Danke, Ingrun. Für diese Schlüssel. Dein Vertrauen. Dass du dir Sorgen um mich machst. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann …“ Sie winkte ab, sagte: „Da kommt was auf uns zu, genaues wissen wir noch nicht. Ein Virus. Der wird dies ganze Level fressen. Uns bleibt kaum noch Zeit.“ „Soll ich dazu, äh, irgendwie was sagen?“

„Wir sind vier Dreier-Teams auf diesem Level, und nur wenn wir zusammenarbeiten, ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, zu lösen. Leider sind von den vier Teams aber nur zwei stabil. Das eine besteht aus Iris, Maja und mir –“ „Maja? Maja Maier? Alias Frau Doktor?“ „Ja. Und Iris kennst du auch: die Psychologin, die dich zu Frau Doktor geschickt hat.“

„So habt ihr alles eingefädelt …“ Klar, dass ich aus dem Staunen nicht mehr herauskam.

Das andere stabile Team, laut Ingrun, bestand aus Nolte, Trisha und Gino. Gottfried Nolte, klar, den kannte ich, doch die anderen beiden – „Gino? Trisha?“ „Gino bist du sicher noch nicht begegnet. Aber Trisha – Patricia Percival –, du hast sie mal im Taxi gehabt. Durch sie bist du an die Azuma-Statuette gekommen.“ „Verstehe.“ Die Amerikanerin, die damals in meinem Taxi jenen Briefumschlag auf dem Rücksitz „gefunden“ hatte, mit dem Schlüssel darin, für das Bahnhofsschliessfach …

Das dritte Team, erfuhr ich, bestehend aus Uschi, Lady Rainbow und Beppo, war schon seit Jahren durch Beppos Autismus wie lahmgelegt. „Fraglich, ob der wirklich Autist ist“, sagte Ingrun. „Kann auch sein, dass er nur simuliert. Oder unter einer Art Bannzauber steht. Wie’s aussieht, stehen jetzt die Chancen aber gut, ihn rechtzeitig noch da herauszuholen. Woran wir tatsächlich scheitern werden, ist das vierte Team: ist Sciffi, ist Manne, bist du, Schell. Wir alle, das heisst wir zwölf, scheitern, weil wir eine Einheit sind und nur als Einheit weiterkämen, und weil ihr drei das leider vergessen habt. Und was hat euch so vergesslich gemacht? Die Drogen. Und daran zu scheitern letztenendes, an so einer blöden kleinen Molekülverbindung namens THC, ist wirklich deprimierend.“ „Da muss ich doch entschieden protestieren!“

„Okay – Manne und Sciffi, die jedenfalls konnten nicht rechtzeitig davon lassen. Aber wovon du nicht lassen kannst, ist um keinen Deut besser: deine Selbstbezogenheit. Sie hat dich total verblendet, Schell, und ist so verdammt zäh, dass sie auch dich alles hat vergessen lassen. Sodass du mir nicht glaubst, kein Wort, auch jetzt nicht, das merke ich sehr wohl.“ „Stimmt. Aber wie es aussieht, gibst du dir reichlich Mühe mit mir – und ja nicht nur du – und das macht mich natürlich nachdenklich. Sagen wir also, ich setze zur Abwechslung mal den Unglauben aus – wie sollte idealerweise denn die Sache laufen?“

„Das lässt sich nur symbolisch sagen. Es hat mit dem König zu tun. Der sein Gedächtnis verloren hat. Und sehr krank ist deswegen. Und geheilt werden muss.“ „Du meinst, wie in der Sage vom Gral? Mit König ist der Hüter des Heiligen Grals gemeint?“ „Es ist immer dieselbe Geschichte. Nur sieht sie immer anders aus; so anders jedesmal, dass man sie nicht erkennt, oder zumindest nur unter Schwierigkeiten.“

„Schwierigkeiten, die man zu meistern hat, verstehe – um die Geschichte, die eigentliche, wiederzuerkennen. Worin der Sinn der Sache liegt.“ „Du selbst, Schell, müsstest über diese Geschichte im Grunde am meisten wissen. Nicht zufällig ist dir das entsprechende Zeichen zugespielt worden. Übrigens unter einigem Aufwand – frag nur Trisha danach, falls du sie mal triffst.“

Ich dachte an die kleine Plastikfigur im Handschuhfach des Taxis und seufzte. „Der Instinkt sagt mir, dass dieser ominöse König Azuma mich nur ablenken soll. So wie das ganze Spiel, von dem dauernd die Rede ist, Flysh, mir wie ein einziges Ablenkungsmanöver vorkommt. Doch wovon es mich ablenkt? Keine Ahnung.“

„Und spielt auf diesem Level auch sicher keine Rolle mehr. Hier, wie gesagt, sind wir so gut wie fertig. Wusstest du, dass du nicht mal mehr ein Team hast? Sciffi ist nämlich inzwischen bei euch raus; ist jetzt ein Team mit Habib und dem IT.“

Da glotzte ich. Der Computer-Nerd, der Berufskriminelle und der dauerbekiffte Magier: ein Team! Und Ingrun nickte. „Kannst dir wohl denken, wie weit das, was die in diesem Spiel verzapfen, von dem wegführt, was wir erstreben.“ „Kann ich mir denken, ja. Wenn das so eine Gralsgeschichte ist.“

Ich überlegte. Sciffi also hat sich von uns losgesagt, das heisst jetzt sind wir nur noch elf … „Könnte Mahmoud nicht an Sciffis Stelle treten? Mit ihm im Team, das wäre schön!“ Da musste Ingrun lächeln. „Ist irgendwie entwaffnend, dass dir der Ernst der Lage noch so gar nicht klar ist.“

Ich saß, wie so oft, im Lesesaal einer der größten Bibliotheken Frankfurts; an diesem Nachmittag aber nicht, um zu lesen – auch wenn ich ein Buch aufgeschlagen vor mir liegen hatte –, sondern um in Ruhe nachzudenken; und das aufgeschlagene Buch war diesmal auch nicht, wie sonst in letzter Zeit, ein Band aus der Gesamtausgabe Schellings, sondern eine Sammlung von Briefen Hölderlins. Mein Blick, während ich mich konzentrierte, ging da weniger hinein, als vielmehr da hindurch, das heisst ich sah die Zeilen kaum; stattdessen blickte ich zurück.

Obwohl so unwahrscheinlich war, was Ingrun mit erzählt hatte, beschloss ich ihr zu glauben. Denn so ergab ja plötzlich alles einen Sinn. Und ich sagte mir: Sobald ich nicht mehr vergesse, dass ich mich ja dauernd irre, wird mir vielleicht auch das, was ich davon immernoch nicht glauben kann, allmählich glaubhaft werden. Im übrigen war das ja nicht das einzig Seltsame in jüngster Zeit gewesen …

Zum Beispiel traf ich neuerdings beim Joggen dauernd dieselbe Joggerin; was nichts besonderes wäre, würde ich immer zur selben Tageszeit dieselbe Strecke laufen. Doch traf ich sie auf jeder Strecke und egal, wann ich lief. Und vage kam sie mir auch irgendwie bekannt vor. Bis es zuletzt dazu gekommen war, dass sie mich beim Joggen überholte und dabei zu mir sagte: „Du hast keine Zeit mehr zu verlieren.“ War das ein Scherz? „Was meinst du?“, fragte ich, und sie: „Dass du wirklich demnächst los musst!“ Nachdem Ingrun sie erwähnte, Iris nämlich, wusste ich plötzlich, wie und wo ich diese Joggerin schon mal gesehen hatte: als jene Psychotherapeutin, die mich damals zu Frau Doktor schickte!

Dass ich wirklich demnächst los muss … Konnte sich ja wohl nur auf das beziehen, was ich nun schon so lange vor mir her schob: den vielbesagten Urlaub.

Dass mir wahrscheinlich eine Reise gut tun würde, sah ich ein; doch wohin verreisen, wusste ich noch immer nicht. Wenn ich manchmal in Buchhandlungen vor den Regalen voller Reiseführer stand, fand ich so ziemlich alles interessant. Sobald ich allerdings in einem davon zu blättern begann, verliess mich jegliches Interesse. Oder in Reisebüros: in dem Geprassel bunter Angebote verging mir alle Reiselust schlagartig. Im übrigen war ich bisher auch in der Frage, welche Lektüre zu dieser Reise die geeignete sei, noch zu keinem Ergebnis gekommen. Und was lag diesem Pseudoproblem tatsächlich zu Grunde? Dass ich einfach nicht Tourist sein wollte. Dass ich der Ansicht war, die Welt, so wie sie ist, liess gar nicht mehr das zu, was ich mir unter Reisen vorstellte.

Wenn ich im Geiste auf der Suche nach einem Urlaubsort irgendwelche Landstriche, Küsten oder Flussgebiete überblickte, geriet ich immer wieder an gewisse Stellen, die sich seltsam wiederholten. Da war zum Beispiel diese schmale kurvige Straße in die Berge hinauf, stets bei Sonnenschein, mit Ausblick auf ein Meer, und jedesmal war ich überrascht von dem Duft, den leuchtenden Farben, der Frische der Luft. Auf dem Balkan, keine Ahnung, wo genau; und die kleine Stadt, in der ich jedesmal aus einem alten Autobus stieg, war immer dieselbe, bekannt als Markt für Edelsteine und für die Schönheit ihrer Frauen. Ich allerdings kam wegen spezieller Höhlen, die es angeblich in dieser Gegend gäbe.

Am häufigsten geriet ich jedoch an diesen anderen Ort, auch irgendwo im Süden: Stets in der Hitze einer betäubenden Mittagssonne, zwischen zerstörtem Gemäuer; wo ich mich jedesmal über schiefe uralte Pflastersteine zu einem schon lange, lange ausgetrockneten Brunnen schleppte; dort verharrte; die Eidechsen beobachtete; und das Gefühl eines fürchterlichen Elends um mich spürte. Manchmal hörte ich etwas wie erstickte Schreie, doch das, wie ich mir sagte, konnte nur Einbildung sein.

Wahrlich war das kein angenehmer Ort, und also warum landete ich im Geiste – fast schon wie in einer Endlosschleife – immer wieder dort? Jedesmal aber, bevor sich eine Antwort darauf fand, war ich schon wieder raus aus diesem Bild; und das war typisch für alle diese Orte, an die es mich imaginär verschlug: sie entzogen sich, wie Traumbilder, meiner Kontrolle.

Und mindestens so merkwürdig, so verstörend seltsam, war es neulich gewesen, in einer Zeitschrift ein Bild von mir zu entdecken; nämlich in einem Spiele-Magazin, auf einem ganzseitigen Foto, einer Werbung für einen sogenannten Re-Run, die Neuauflage eines alten Computerspiels:

AZUMA MAROONED – das legendäre Abenteuer: vollständig rekonstruiert – in neuem Style – auf deinem Phone!

Konnte der auf diesem Foto wirklich ich sein? Nein! Aber ich war’s; erkannte mich fast überdeutlich klar: in einem orientalischen Kaffeehaus, im Gespräch mit einer gesichtslosen, schwarz gewandeten Gestalt. Und meiner Verblüffung folgte die Empörung: Mich einfach in eine Werbung zu versetzen, ungefragt, das kann man doch nicht machen! – Doch, kann man; und meiner Empörung folgte ein gehöriger Schub Paranoia. Und wie da mein Herz mal wieder losgeklopft hatte!

Jedenfalls verliefen alle diese seltsamen Vorkommnisse nach einem Muster: was zumeist recht amüsant begann, schlug jedesmal ins Bedrohliche um. Wie auch gestern Abend, als ich an einem Taxistand am Bahnhof vor mich hindösend im Wagen saß. Da hatte ich plötzlich so eine Urstadt vor Augen, Uruk zum Beispiel, oder Ninive, und die verwandelte sich wie in Kaskaden epochaler Überblendungen in die nächtliche Szenerie einer Mega-City der Zukunft. Ich sah Leute mit Rüsseln, mit gepanzerten Schädeln, mit Stacheln und Schwänzen, und andere mit Lichtkörpern, nahezu durchsichtig und mit flügelartigen Schultern; staunte sehr, und als da auch eine pralle Sexblüte vorbeitrieb, dachte ich nur: Aha, auch hier treiben pralle Sexblüten vorbei … „Muss irgendwo sein“, sagte da jemand hinter mir; ein Mann; hatte gar nicht bemerkt, wie er eingestiegen war. Er kramte in einem Aktenköfferchen. „Ich will Sie nicht mit Kartenzahlung nerven, habe Geld dabei, Bargeld … Nur etwas Geduld, bitte. Nach schon wieder so einem Tag bin ich jetzt, äh …“ „Ein bisschen zerstreut?“ „Was? Jaja … Sie haben ja keine Ahnung, was wirklich läuft, sonst säßen Sie nicht mehr gemütlich … Ach was, seien Sie froh, so hier im Stillen sitzen zu dürfen und einfach nur mitfühlend meinen Schwachsinn zu ertragen.“

„Sind Sie Schriftsteller?“

„Statistiker. Beim Großen Discounter. Kenne die Kosten der billigen Preise bis ins kleinste Detail. Wenn der letzte Fisch gefangen, der letzte Baum gefällt ist und so weiter, Sie wissen schon – was uns dieser Indianerhäuptling damals schon klarzumachen versuchte: dann werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann. Wissen Sie, wie blöd man sich mit derartig alten Neuigkeiten vorkommt?“ „Ja, saublöd. Und Bits kann man übrigens auch nicht essen.“ „Aber so unfassbar blöd wir auch sind, das System funktioniert.“

„Ich fahre Sie irgendwohin und Sie bezahlen, okay?“

„Warten Sie. Ich könnte gerade eine Bombe deponiert haben, zum Beispiel in diesem Alien-Shop da drüben.“ „Etwa um sich vor dem Bezahlen zu drücken? Steigen Sie aus, Mann!“

„Sie haben hier und jetzt die Chance, viele Menschenleben zu retten. Verstehen Sie?“ Er hielt sein Handy in die Höhe: „Hiermit kann ich die Bombe zünden. Und Sie, der unscheinbare Taxifahrer, können über Nacht zu einem Helden der Humanität werden, indem Sie mich mit einem überzeugenden Argument – nur einem einzigen! – daran hindern.“ „Belabern Sie jemand anderen – raus jetzt!“ „Es ist zu unwahrscheinlich, meinen Sie, dass –?“ „Ich meine: Raus aus meiner Karre!“

Genug.

Ich versuchte in dem Buch zu lesen, das hier aufgeschlagen vor mit lag – die Briefe Hölderlins – doch wieder ging mein Blick wie durchs Papier hindurch; hatte da, gestochen scharf, Frau Doktor vor mir, und ich staunte, mit welch hoher Energie ich projizierte – das grenzte schon an echten Blickkontakt! – Und sah jetzt mich. Durch ihre Augen. Im Strafraum. Vor ihr auf den Knien. Nackt. Diesmal aber ganz anders als sonst.

Während die Sitzung zuvor noch eher wie üblich verlaufen war … Erst jetzt, hier in der Bibliothek sitzend, rückblickend, bemerkte ich, dass sich aber schon in dieser vorletzten Sitzung etwas verändert hatte. Wie ich mich nämlich so sah, ihr gegenüber, durch ihre Augen, und mich reden hörte, da fing ich erst so richtig an, meine Geschwätzigkeit zu hassen:

„Wir haben inzwischen ja durchschaut, was mein Gerede eigentlich verschlüsselt: Scham. Dass sich für den Schamhaften gerade im Beschämendsten, im Allerpeinlichsten, eine besondere Wonne verbirgt. Das skandalöse Geheimnis des absoluten Nur-für-mich. Der Ego-Kick schlechthin. Der enthüllte Kern der Scham. Das Schamlose selbst. Woran der Schamhafte sein schamloses Selbst entdeckt. Nur eine Fiktion natürlich, ein fiktiver Fetisch; jedoch genauso magisch aufgeladen wie ein echter Fetisch, und mindestens genauso wirksam, genauso unwiderstehlich. Sodass der Schamhafte, süchtig nach dem Schamgefühl, willentlich es wieder und wieder in sich auslöst. Wobei allerdings nicht zu übersehen ist, dass der banale Gehalt der Sache nur deshalb unbedingt im Dunkeln bleiben muss, weil er so dermaßen banal ist; stellt doch dieser banale Gehalt mein Selbstbild, ja die ganze absolute Wichtigkeit meiner Person in Frage. Mich zu zwingen, dieser meiner Banalität mich auszusetzen, sie zu belichten sozusagen, das wäre mir ohne Sie, Frau Doktor –“

„So reichlich Sie Ihr Selbstbild vor uns ausgebreitet haben, reicht’s nun, denke ich. Haben Sie je erwogen, dass es nur ein Bild ist?“

„Mein Selbstbild? Ein Bild, ja – natürlich!“

„Und dass dieses Bild für jemand anderen als Sie gar keine Realität hat?“

„Ist möglich, ja.“

„Ihr Selbstbild könnte also nur für Sie real sein?“

„Wie gesagt …“

„Hätte ohne Sie überhaupt keine Realität?“

„Was denn? Ich sage doch: ist möglich.“

„Die Frage ist die: Halten Sie das wirklich für möglich?“

„Verstehe.“ Was gab’s da zu verstehen? Irritiert, genervt, nahm ich rasch Zuflucht zum Banalen: „Die Scham, sie funktioniert natürlich nur, solange man dasselbe wie die Allgemeinheit als Tabu empfindet. Äh – okay? Soll ich sagen, wie ich mich fühle? Wie wenn sich das Besondere im Allgemeinen oder umgekehrt das Allgemeine im Besonderen wiederfindet. Ah, Sie schauen auf die Uhr. Bin ins Schwafeln geraten – dann schreiten Sie umgehend zur Bestrafung bitte!“ „Sie kommen heute mal wieder ohne Strafe davon.“ „O bitte!“ Sie tippte auf ihre Uhr: „Lohnt nicht mehr.“

Wie gereizt ich gewesen war nach dieser Sitzung, kann man sich denken; trotzdem hatte ich gleich schon – ich war ja süchtig – den nächsten Termin ausgemacht. Und dann allmählich begriff ich, dass ich ihre Frage gar nicht verstanden hatte. Hielt ich es wirklich für möglich, dass für jemand anderen mein Selbstbild gar nichts reales ist? Das heisst: ist das möglich? Dass mich andere gar nicht so sehen wie ich mich selbst? Eigentlich, je genauer, je ehrlicher ich’s bedachte, hielt ich es nicht für möglich. Und zugleich mit diesem Eingeständnis ging meinem Selbstbild schon einiges an Realität verloren.

Man gleicht sich im Laufe der Zeit seinem Selbstbild an, dachte ich, und irgendwann schafft man es, damit übereinzustimmen; und ohne es überhaupt mitzukriegen, ist man plötzlich dann damit identisch: ist souverän man selbst – und klar, wie kommt man da wieder heraus? Unmöglich. Man weiss ja gar nicht, dass man drinsteckt. Das nennt man: in der Falle sitzen. Daher musste es ja dann beim nächsten Mal so ganz anders laufen als bisher:

Ich musste mir die Bestrafung gar nicht erst durch eine komplizierte Beichte im Sprechzimmer verdienen, Frau Doktor fragte nur: „Erinnern Sie sich noch an Ihr Problem, Samsa?“ „Impotenz? Oder nein, Sie meinen wahrscheinlich diese Mixtur aus konträren Gefühlen: Minderwertigkeit und Hochmut. Die sich gegenseitig bedingen.“ „Und meinen Sie immernoch, diese Mixtur sei etwas besonderes?“ „Sie meinen: lächerlich, sich darauf etwas einzubilden?“ „Ermüdend. Das immer wieder aufzuwärmen. Und ja, lächerlich auch, solche Nabelschau für Psychologie zu halten. Kommen Sie, gehen wir rüber.“

Zwar durfte ich niederknien, in gewohnter Weise nackt und angekettet, zum erstenmal aber ohne die Augenbinde. Und diesmal zog auch sie sich aus.

Ich starrte ihre Brüste an; konnte den Blick gar nicht mehr davon lösen; dachte zweimal, dreimal, viermal: Die kenne ich! Wie aber kann das sein? Nur einmal in meinem Leben hatte ich Brüste skurril gefunden, und zwar genau diese: seltsam länglich und aufwärts geschwungen, wie weisse Hörner, deren Enden aus sehr großen glatten Höfen sich zu glänzendem Rosa spitzten … Woher? Woher nur kenne ich die? Wie Hörner …

Zunächst, wie üblich, versuchte ich zu rationalisieren: Brüste wie diese kommen doch immer wieder vor, sicher hast du auch mit solchen irgendwo, irgendwann einmal herumgemacht … Doch hatte ich nicht mehrmals schon Anflüge des Gefühls gehabt, sie zu kennen, diese Frau? Gar nicht als Frau Doktor, sondern von viel früher her, in einer anderen Rolle …

„Was starren Sie so, Samsa? Sind doch nur Titten!“

Wie absurd das klang … Ich sagte mir: Du schläfst. Wach auf! „Hab neulich was geträumt …“ Und da wurde mir schwindelig.

Was erkannt werden wollte, liess sich nun nicht länger abhalten. In jenem Traum, in dem ich mich in sie – nein, nicht in Frau Doktor, vielmehr in diese Frau verwandelt hatte, da spürte ich mich ganz und gar in dieser Form, nicht irgendwie nur allgemein, sondern konkret in jeder Faser, und eben auch, und das unter dem nassen Hemd besonders intensiv, in diesen Hörnern; ich hatte sie, fühlte sie an mir selbst, sie gehörten mir an.

Und da entsann ich mich der Höllenangst, die ich nach jenem Traum gehabt hatte. Als ich da nämlich hinausglitt, kurz bevor ich richtig wach wurde, erkannte ich, mit was für Mächten ich’s zu tun hatte; nicht mit den guten nämlich, sondern mit den bösen; mit dreien, genau genommen, die insbesondere zu fürchten sind.

Den einen Dunklen – der so hell erscheint, den Blender – kennen alle: den Gefallenen, Luzifer genannt. Sein Gegenspieler, der andere Dunkle – der superintelligente Lügner, den ich den Technus nenne –, ist weniger bekannt. Diese beiden kenne ich, das heisst erkenne, wie sie auf mich wirken; was in Bezug zum dritten Dunklen – zu den Aggatt – so leider nicht der Fall ist.

Und jener Traum, so wurde mir jetzt klar, ist eine Warnung vor den Aggatt gewesen.

War mir das Fest, der Potlatch, nicht wie ein Treffen mit meinem Stamm vorgekommen? Und gehörten die Frauen in dem Caravan, mit denen ich vor der Sturmflut davongerast war, nicht auch dazu? Und da ich diese Frauen als Aggatt erkannte, waren dann also die Aggatt – mein Stamm? Ich also – eine Aggatt?

Derselbe Schrecken durchfuhr mich erneut.

Die Aggatt sind eine kosmische Rasse von Kriegerinnen; nur stelle man sie sich bloß nicht nach unseren Klischees der Raumfahrt vor, dann wären sie tatsächlich amüsant; höchstens könnten sie einem ein wenig das Gruseln lehren. Auch ich hatte keine Angst vor ihnen, solange ich nicht wusste, wie und was sie wirklich sind; solange sie mir nämlich nur in ihrer Schund-Version begegneten, so wie in einer Weltraum-Operette. Denn solange wirkten sie nur ausgedacht. Seit ich sie aber in mir weiss, durch mich wirkend, ist das anders. Ich weiss sie im Unbewussten verborgen. Sie bedienen sich der Willenskraft und nehmen mit Vorliebe die Gestalt ihres Gegners an. Wer oder was ist ihr Gegner? Was ich in mir sagt.

Die Angst, von ihnen auf grausamste Weise vernichtet zu werden, ist alles andere als unbegründet. Manche aus dieser Angst heraus, manch andere, weil diese Lebensform sie so begeistert, verbünden sich mit ihnen, werden selbst zu Aggatt; während die meisten aber, wie ich hoffe, von ihnen nie im Leben etwas mitbekommen.

Hier jedenfalls, das war mir in diesem Moment – nackt und gefesselt auf den Knien – sowas von klar, hatte ich die Entscheidung zu treffen: Den Aggatt widerstehen, jetzt!, oder fortan als Aggatt weiter, von Rausch zu Rausch, unsterblich in ewiger Nacht, immer in Wut, in Krieg und Ekstase, um wo immer wir auf Freundlichkeit stoßen, auf Treue, oder auf Glauben, auf Hoffnung – oder auf die für Aggatt tödlichste Bedrohung: Liebe –, sie zu zerstören.

Sie hatte breitbeinig über mir gestanden; jetzt ging sie vor mir in die Hocke. „He, Samsa, Sie sind ja kreideweiss. Machen Sie etwa schlapp?“ Ich erinnerte mich, darauf erwidert zu haben: „Ich glaube, ich will jetzt nicht mehr Samsa sein.“ „Dann brauche ich auch nicht länger Frau Doktor zu spielen …“ Jetzt lächelte sie. „Aber im Ernst, du siehst wirklich fix und fertig aus. Würde sagen, da hilft jetzt nur noch echte Medizin, und zwar die allerälteste, die Urwaldmedizin.“

Sie löste mir die Fesseln an den Handgelenken und ich dachte: Was ich von wegen des Heroischen neulich zu ihr sagte, war ernst gemeint: Dass ich den Kampf gegen meine Verkorkstheit nicht aufgeben werde; dass ich dieses Peinliche, Schmerzhafte, nicht einfach da in mir gewähren lasse. Denn so leicht es sich auch bagatellisieren lässt, es ist böse, und ich werde es in mir nicht akzeptieren, niemals.

So hatte ich entschieden.

Wir legten unsere Kleidung wieder an. Dann setzte sich Frau Doktor auf den Boden, mit einem Kissen im Rücken an die Wand gelehnt und den Rock soweit hochgeschoben, dass sie ihre angewinkelten Knie auseinanderspreizen konnte. Sie deutete dicht vor sich auf den Boden: „Hierhin, und mit dem Rücken zu mir.“ Ich fragte mich besorgt: Urwaldmedizin?, tat jedoch wie mir geheissen. „Und jetzt lehnst du dich an mich an.“

Sehr aufrecht, sehr steif, lehnte ich mich vorsichtig zurück.

„Bitte richtig, okay? Lass los. Und halte auch bitte nicht weiter die Luft an.“

Kurzum, es dauerte einige Zeit, bis ich mich entkrampfte, mich an sie wirklich anlehnte, oder genauer: in sie einsank; so nämlich fühlte es sich an, als mir das Loslassen schliesslich gelang.

Im ersten Moment hielt ich das, wo ich mich wiederfand, als ich die Augen schloß, für den Denkraum. Der glich nun aber gar nicht mehr dem Spiegelkabinett, dem also, was mir als der Tautoloid vertraut war. Nicht verlor sich, was ich dachte, nach allen Seiten ins endlos immer Fernere. Stattdessen kam von allen Seiten, auch von unten und von oben, etwas immer näher auf mich zu, und das war nicht dieselbe Stille, die ich hier schon des öfteren erfahren hatte. Still war sie zwar auch, sprachlos, unbegrifflich, doch vor allem war sie Farbe, nämlich grün. Und da erst fiel mir auf, dass es zuvor zwischen den Spiegeln immer völlig farblos zugegangen war; es hatte im Tautoloid also gar kein natürliches Licht gegeben! – Ja wie auch? Du hast ja nicht nur die Gedanken, auch diesen Ort hier, den Ort ihres Entstehens, für eine bloße Abstraktion gehalten, für im Grunde irreal; und wie sollte Sonnenlicht in so ein Jenseits dringen?

Schwer zu beschreiben dieser Farbton, der mich jetzt hier umgab; ähnlich einem Waldrand im Sommer, abends, in rotgoldnem Grün. Und da dachte ich an meine Regenbogen-Dame …

Die ersten Besuche zum Tee bei Lady Rainbow hatte ich rein höflichkeitshalber absolviert, dann aber sehr bald deren beruhigende Wirkung zu schätzen gelernt; bis mir schliesslich jede Tea Time mit ihr zu etwas besonderem geworden war.

Die Lady war in ihren Äusserungen sparsam, und bei allem, was sie aussprach, fiel mir ein leiser poetischer Beiklang auf, der auch das scheinbar Nebensächlichste irgendwie aus dem Alltäglichen heraushob. Ich hatte sie zum Beispiel in der Küche einmal „Alufolie“ sagen hören, und dieses Wort klang aus ihrem Mund so neu, so fragend, dass ich erstmal gar nicht wusste, was es hiess, und dann verstand, dass sie Silberpapier meinte.

Sie wirkte immer so heiter und dabei so nüchtern, so unsentimental, so unbelastet von Persönlichem, sodass ich mich fragte, woher das wohl kam. Aus der Zukunft, stellte ich mir vor; aus einer Zukunft, in der allgemein bekannt sein wird, dass so wie alle Materie eigentlich Licht ist, alles Seelische eigentlich aus Liebe besteht. Ich hatte sie nämlich am Anfang mal gefragt, was sie beruflich denn so mache, und ihre Antwort war gewesen, sie arbeite als Heilerin; und als ich weiterfragte, wie das praktisch aussähe, sagte sie nur: „Geistig.“ „Wie stell ich mir das vor? Du heilst den Geist?“ „Das geht nicht. Geist an sich ist immer heil. Kann unheil nur sein in seelischer und körperlicher Form.“ „Und dann?“ „Braucht der Körper, was er ursprünglich ist: Licht, und die Seele auch, was sie ursprünglich ist: Liebe.“ „Das klingt ja sehr einfach.“ „Wie alles in Kurzfassung. Doch einfach ist daran nur meine Arbeit: mir bewusst zu sein, dass ich einfach nur Kanal von Licht und Liebe bin.“ „Und mehr nicht – ich glaube, ich verstehe. Das ist nicht einfach; sogar verdammt schwierig, würde ich sagen. Wenn man nur wüsste, was Geist ist.“ „Man kann ja immerhin schon mal begreifen, was Egoismus ist, oder?“

Nach einer Pause fragte ich: „Was hast du früher so gemacht?“ „Mich an Bäume gekettet. Die dann doch gefällt wurden, um Platz für neues Legoland zu schaffen.“ „Ihr ward zu wenige.“ „Dachten aber, wir seien viele.“ „Hm, ja, traurig, wenn man kämpft und nichts dabei herauskommt.“ „Wirke ich verbittert? Ich hoffe, nicht.“ „Nein, o nein! Mich interessiert dein Fazit.“ „Wir gaben damals nur dem Affen Zucker. Dem System. Wurden süchtig danach, Widerstand zu leisten. Sowas tut man, bis man’s kapiert.“ „Darum kämpft man wohl in seiner Jugend. Bei mir ging es um Tierschutz. Dieselbe Geschichte: ein tapferer kleiner Haufen gegen das System.“ „Und dein Fazit?“ „Ich würde es heute genauso wieder machen. Aber jetzt ist immer jetzt. Und damals, logisch, war noch nicht, äh, jetzt – ich meine, der Kampf hört nie auf, das heisst ist immer jetzt.“ Sie schaute mich fragend an, aber schwieg. Ich blickte verlegen in die Teetasse und kam mir blöde vor, geschwätzig. „Ich auch“, sagte sie, „würde mich, wäre ich jung, auch sofort wieder an Bäume ketten.“

Das war unser längstes Gespräch gewesen. Zum Schluss hatte sie mich gefragt: „Soll ich dich behandeln?“ „Geistig meinst du?“ „Ja. Du legst dich einfach still irgendwo hin. Nur wann, müssen wir verabreden.“ „Warum nicht jetzt? Hier?“ „Gut. Mach’s dir bequem, leg dich aufs Bett.“ „Okay … Muss ich glauben, dass das funktioniert?“ „Nein, musst du nicht.“ „Und die Augen zumachen?“ „Wie du willst.“ „Und wenn ich einschlafe?“ Darauf antwortete sie schon gar nicht mehr.

Wo landete ich wohl? In meinem Denkraum, im Tautoloid. Und was passierte da? Nichts; ich dachte nur: Ist ja mal schön still hier. Und das war’s, der ganze tautoloide Gedankenspiegel um mich herum blieb leer; oder um genau zu sein: war gar nicht mehr da; oder noch genauer: war nur als Vorstellung vorhanden, das heisst nicht so real, dass ich mich anwesend darin fühlte. Weitaus realer war etwas, das ich noch nicht kannte und das mich in Staunen versetzte: das Gefühl Grün. – Das ist – so ist – das also ist Grün!

Dasselbe Gefühl, diese selbe Stille, als ich da so wundersam entspannt – zum letztenmal im Strafraum – an Frau Doktor angelehnt saß –

und was war denn das nun?:

uf einem grüenen achmardi truoc si den wunsch von pardis

Dass Ingrun diese Andeutung in Richtung Gralsgeschichte gemacht hatte und dass an der einzigen Stelle, die ich wörtlich von Wolfram’s Parzifal-Epos noch erinnerte, dieser grüne Stoff vorkommt, der achmardi … Woran ich mich wohl deshalb so deutlich erinnern konnte, weil ich früher immer wieder über die Paradiesgeschichte nachgedacht hatte und schliesslich das in diesem wunsch von pardis las: dass nicht nur der Mensch selbst nach Rückkehr ins Paradies verlangt, sondern dass genauso auch dieser Wunsch von pardis, vom Paradies, vom Himmel ausgeht; dass also in der Grundsatzfrage, wohin die Große Reise gehen soll, das menschliche Wollen gar kein anderes als das göttliche ist. Warum ich das so tröstlich fand? Warum es mich sogar – jetzt, hier, an Frau Doktor angelehnt – unbeschreiblich glücklich machte? Ich weiss es nicht.

Erinnerst du dich?

Nur dass ich dich kenne; nicht, woher. Und dass ich nicht ich bin; nicht aber, wer.

Gut so, das reicht erstmal vollkommen. Vergiss es nicht. Dann von aussen, dicht an meinem Ohr: „Bist du wieder da?“ Ich nickte, löste mich von ihr; bekannte leise: „Meine Güte, das hab ich wohl gebraucht …“ Wir erhoben uns, standen uns gegenüber, und sie sagte: „Vor allem habe ich das gebraucht, für mich. War ‘ne verdammt harte Zeit mit dir.“

Draussen dämmerte es nun und an den Tischen in der Bibliothek gingen nach und nach die Leselampen an. Plötzlich in dieser Grünstille, dachte ich. Dann von Ingrun auf den Gral gebracht. Dann am Ende bei Frau Doktor dieser wunsch von pardis

Wenn auch dieser ganze Zusammenhang nur auf Zufall beruhen soll, bin ich wirklich nicht mehr zu retten.

Endlich glitt mein Blick nicht mehr durch den Text hindurch, sondern folgte jetzt den Zeilen, sodass ich allmählich erfassen konnte, was da stand:

Das Mißfallen an mir selbst und dem, was mich umgibt, hat mich in die Abstraktion hineingetrieben; ich suche mir die Idee eines unendlichen Progresses der Philosophie zu entwickeln, ich suche zu zeigen, dass die unnachlässige Forderung, die an jedes System gemacht werden muss, die Vereinigung des Subjekts und Objekts in einem absoluten – Ich oder wie man es nennen will – zwar ästhetisch, in der intellektualen Anschauung, theoretisch aber nur durch eine unendliche Annäherung möglich ist, wie die Annäherung des Quadrats zum Zirkel, und daß, um ein System des Denkens zu realisieren, eine Unsterblichkeit ebenso notwendig ist, als sie es ist für ein System des Handelns. Ich glaube dadurch beweisen zu können, inwiefern die Skeptiker recht haben, und inwiefern nicht.

Und ich traute meinen Augen kaum, las es nochmal und nochmal, und nochmal: Denn was ich da vor mir hatte – in einem Brief Hölderlins aus dem Jahre 1795 an Schiller –, war doch die denkbar exakteste Beschreibung des Tautoloids!

B.10

Der Umschwung

Da war doch was … Ach ja, schon wieder den Sound vergessen. Weil ich auf keine der alten Cassetten noch Lust habe. Und übrigens auch nicht mehr auf diesen Taxi-Job.

Schell, hey-hey, wie bist du drauf?

Schlecht.

Die Zentrale, das heisst Uschi, hat ihn zu dieser Innenstadt-Adresse geschickt, vor der er jetzt seit zehn Minuten schon im Halteverbot steht. Es geht auf zwölf Uhr Mittag zu.

Das Warten nervt ihn; ausserdem hat er Kopfschmerzen.

Auch von Frankfurt habe ich übrigens genug. Und genug vom schlechten Gewissen. Genug von der Selbstzerfleischung bei Frau Doktor … Herauszufinden, was ich wirklich will, wieso nennt sie das ihren Auftrag? Habe ich ihr den erteilt, indirekt irgendwie? Und wenn nicht ich, wer dann? Womöglich nur ein Psycho-Trick; die ist so clever, die Frau …

Da fällt ihm jene sogenannte Diagnose wieder ein: Impotenz. Das habe ich noch gar nicht ernstlich dechiffriert. Worin besteht das Unvermögen? Ich sollte endlich mal systematisch vorgehen, detektivisch. Sagen wir, Frau Doktors Auftrag hängt irgendwie mit dem Ereignis zusammen, und wenn ich das erstmal aufkläre …

Klar, dann stellt sich heraus, dass alles irgendwie mit dem Ereignis zusammenhängt. Nennen Sie das systematisch, Herr Privatdetektiv?

Nun ja, man braucht ab einer gewissen Komplexität ausser der normalen auch eine höhere Logik; tja, und allerdings auch ein bisschen hellseherische Fähigkeiten … Hier müsste der normale Detektiv gleich abwinken: Nicht mein Ressort; nicht aber so Privatdetektiv Schell, der sagt: Klar, warum sollte ich nicht hellsehen? Wozu denn sonst habe ich mir den Tautoloid geschaffen? Der ist doch eigentlich sowas wie die Kristallkugel der Wahrsager.

Nur dass du da nicht von aussen hineinschaust, sondern selber drinnen sitzt und – gar nichts siehst. Tut mir leid, dass ich dir leider auch die Aussicht aufs Hellsehen vermiesen muss.

Und wielange soll ich hier noch warten?

Zwei sagen, sie kommen dir zur Rettung – in Wahrheit, um dich auszulöschen.

Einer sagt, er löscht dich aus – der wird dich retten.

Diese Botschaft aus dem Traum von neulich kommt ihm immer wieder in den Sinn. Zwecklos, darüber zu rätseln, sagt er sich wie jedesmal; nur sie nicht vergessen, sie wird irgendwann mal wichtig sein. Und was war das denn eigentlich letzte Nacht? Ein Traum der Kategorie „Reise“. Er war irgendwo angekommen, nachts, allein; aus einem Zug gestiegen, mit dem Gefühl, er müsse sich beeilen; andererseits in der Befürchtung, es sei schon zu spät. Nirgendwo ein Mensch zu sehen, auch kein Tier. Jenseits der schwach beleuchteten Bahnstation so gut wie nichts, nämlich alles dunkel; nur dass er in dem Mondlicht, das manchmal kurz die schnell ziehenden Wolken durchdringt, eine Straße erkennt. Das ist die Richtung, denkt er, links müsste Süden sein, das Meer da irgendwo, und er marschiert los. Zum Glück hat er kein Gepäck zu schleppen, andererseits: was bringe ich mit? Dass ich viel zu spät komme, wird niemanden stören, das sind ja Hippies, die sich da treffen, was Pünktlichkeit angeht, sind die eher locker; doch zu einem potlatch nichts mitzubringen, wie soll das gehen?

Denn so eine Art Fest war das, zu dem er in diesem Traum unterwegs gewesen war: Man beschenkt sich gegenseitig, und nicht mit irgendwas; sei es nur ein Ding, und auch nur ein kleines, das man herzuschenken hat, Hauptsache, dies Ding ist einem wirklich kostbar. Und da denkt er an seine Nachbarin, an Lady Rainbow.

Die gestrige Tea Time mit ihr ist in völligem Schweigen verlaufen. Sonst schweigen sie da ja auch mehr als sie reden, aber so schweigsam wie gestern hatten sie den Tee noch nie geschlürft.

Ihm wird bewusst, dass diese Frau – das alte Hippie-Mädchen, wie er sie für sich nennt – ihn inzwischen nicht minder beeindruckt als Frau Doktor, und es kommt ihm mehr als wahrscheinlich vor, dass sie ihn zu dem Potlatch-Traum inspiriert hat.

Er wirft einen Blick auf die Uhr: fünf – nein, schon vier vor zwölf. – Mann, wie das nervt!

Da war aber noch was: Die Wahrheit, weil sie unglaublich ist … Taucht ständig wie in einer anderen Sprache auf, man muss sie sich immerzu neu übersetzen. Das Unglaubliche schützt, was wahr ist … Nee, so auch nicht. Leider will ihm dieses Fragment des alten Heraklit nicht aus dem Kopf gehen, und dass es nur so undeutlich da ist, nervt ihn sehr. Er schaut erneut auf die Uhr; dann wieder zu dem Eingang des Bürogebäudes, vor dem er im Halteverbot steht. – Verdammt!

Will nicht erkannt werden … und bedient sich dazu des Unglaublichen, oder in meinem Falle: der Vergesslichkeit. O je, wenn mich jemand so hören würde! Was dann? Gar nichts, es würde mir sowieso niemand zuhören. – Da sei dir mal nicht so sicher. Denk dir nur, es ist tatsächlich so wie du’s dir vorstellst: als sei das Ganze hier eine Verfilmung. – Real Life, klar, wo man die Fahrbahn blockiert, den ganzen Verkehr aufhält, einen Stau verursacht, nur weil man wieder auf so einen Idioten warten muss, und warum? Weil man damit sein Geld verdient. Real Life – welch ein Film! Ein globaler Schwachsinn, der im Grunde von nichts anderem handelt als vom Geldverdienen. Und dabei, in noch tieferem Grunde – aber für die meisten schon ziemlich unangenehm bemerkbar –, geht’s um Spannung. Denn das Ganze ist dem Schema nach ein Thriller.

Und so weiter. Da endlich kommt, was ihm die ganze Zeit nicht einfallen wollte, das vom alten Heraklit – eine Befreiung regelrecht:

Durch seine Unglaublichkeit entschlüpft das Wahre dem Erkanntwerden.

Wie wahr, wie wahr – schreib’s dir hinter die Ohren. Diese ganze Story, diese Ereignis-Geschichte, die jetzt – wielange schon läuft? – seit sechs Jahren –, nur um diese uralte Erkenntnis zu bewahrheiten, dass das, was wirklich Sache ist, uns so unglaublich erscheint, dass wir’s nicht fassen. Dabei könnten wir’s fassen; ich jedenfalls. Nur leider habe auch ich mir diese blöde Erkenntnisweise angewöhnt, immer genau dann wegzuschauen vom Wahren, wenn es mir als unglaublich auffällt. Man bräuchte sich einfach nur umzugewöhnen! Denn die Überzeugung, dieser Aberglaube!, dass der Mensch seiner Natur nach – Ebenbild Gottes hin oder her – Wahrheit gar nicht fassen kann – was Kant glaubte, bewiesen zu haben, und ihm alle Welt nachschwätzt –, ist eine solche Vermessenheit, und in den Konsequenzen eine solche Schweinerei, so geistfern, so alles Ideale ausradierend, so unglaublich – ja, dass da längst kein Herauskommen mehr ist.

Meine Hauptangewohnheit also: irren.

O je, o Mann, o wei, du bist aber wirklich schlecht drauf heute! – Ja. Mir reicht’s. Ich will hier raus. Nur bin ich gar nicht hier. Das ist die Wahrheit, die ich weiss. Die ich nur als solche nicht erkennen kann, einfach weil sie unglaublich ist: Dass ich der Schell bin, ganz offensichtlich, der in Schells Bureau vorkommt, in diesem Netz-Roman; dass ich aber, obwohl alles danach aussieht, nicht der Autor bin. Das heisst, der Autor muss in mir sein, irgendwie, kann aber, soviel ist sicher, unmöglich ich sein. Da will man doch geradezu durchknallen; kann doch nur überschnappen; muss doch irgendwann das Handtuch schmeissen!

Hier sehen wir überdeutlich, was der Herr des Systems, der Technus, mit allen Mitteln – by any means necessary – zu verhindern trachtet: dass Schell zu echter Selbsterkenntnis findet. Die Zeit aber drängt. Noch gibt es das nicht für diesen unseren Schell in Frankfurt: Corona. Doch viel Zeit bis dahin bleibt nicht mehr.

Er hält inne – gar keine Zeit mehr, genau genommen. Er sieht, es ist Punkt zwölf. Und was auch immer das bedeutet, auf einmal ist alles komisch. Und sehr komisch vor allem kommt er selbst sich vor.

Sehr komisch kam er selbst sich also vor: So hatte unser Schell in Frankfurt das aktuelle Ereignis bemerkt; nicht als solches allerdings, und also ohne zu ahnen, worin dieses neue Ereignis bestand, nämlich dass es der Umschwung war.

Hingegen ein anderer Schell – wir nennen ihn den Reichs- oder kurz R-Schell – bemerkte von dem Umschwung gar nichts:

 

Er fühlte sich unwohl irgendwie; saß im Auto, bei Dunkelheit unterwegs auf einer Landstraße, abends gegen sieben. Das Radio, dachte er. Es lief, und was er da mit halbem Ohr hörte, drehte sich entweder um die amerikanische Präsidentschaftswahl oder um die Coronavirus-Pandemie. Man schrieb den 30. Oktober 2020, ein Samstag; die Zahlen stiegen rapide an, hiess es, und der nächste Lockdown sei daher unvermeidlich; ab Montag schon.

Die Zahlen, dachte er. Was man mit Zahlen nicht alles machen kann! Auch das Unglaublichste. Und erst recht, wenn man auch noch die Zahlen allesamt binär zerlegt, per an-oder-aus, null-oder-eins, entweder/oder. Was man nicht machen kann, ist höchstens noch die Frage. Insofern völlig egal, wen sie wählen, die Ammis, solange sie entweder den oder den wählen.

Er schaltete das Radio aus. Wie gut, dass das noch geht, dachte er. Aber sein Unwohlsein hörte damit natürlich nicht auf.

Die Kopfschmerzen? Nicht dramatisch, aber schon den ganzen Tag latent, und klar, dass sie sein Wohlsein minderten. Vielleicht hören sie auf, wenn ich was in den Magen bekomme. Er war zu einem ländlichen Gasthof unterwegs.

Der Produzent hatte sich mit ihm verabredet, und zwar per Telefon, persönlich. Das heisst dieses Treffen war inoffiziell. Das heisst der Produzent hatte ihm off-line etwas mitzuteilen.

Sie hatten sich noch nie gesehen, ja überhaupt noch nie Kontakt gehabt bisher. Weil das technisch offenbar nicht nötig war. Da das Unternehmen Flyshwerk – ein Riesending, wie Schell wohl wusste – kleinteilig organisiert war, überblickten die Beteiligten nur ihren speziellen eigenen Bereich. Nicht dass persönlicher Austausch zwischen den Bereichen regelrecht verboten war, nur galt dergleichen als zu aufwändig, zu zeitintensiv, zu ineffektiv, und war insofern unerwünscht. Das Zusammenspiel der Ebenen wurde viel effektiver von den messengers besorgt.

So kannte er von den anderen Kreatoren auch nur Oskar Pamir und Götz Kobalt, weil er mit denen ein sogenanntes Real-Team bildete. Seit vielen Jahren pflegten sie an einem hübschen Ort, einem Städtchen namens Krakl, Die-drei-besten-Freunde zu spielen. Die als Messenger für sie zuständige Person hiess Spetz Feynsinn, und mehr als sie brauchten sie nicht an Verbindung zum Flyshwerk, um ihre Arbeit als Real-Kreatoren zu tun.

Indem nun der Produzent sich direkt an Schell gewandt hatte, war Messenger Feynsinn sozusagen übersprungen worden. Insofern hatte dieses inoffizielle Treffen etwas Klandestines an sich. Auch deshalb war ihm nicht recht wohl dabei. Und hinzu kam ein Grundsätzliches, das ihm schon lange Unwohlsein verursachte, ihm aber jetzt entscheidend vorkam: Dass er die Real-Technik nun schon seit Jahren praktizierte und noch immer nicht genau wusste, wie sie eigentlich funktionierte.

 

Die Nacht ist warm, und wäre sogar heiß, wenn nicht so ein starker Wind ginge. Der die Wolken treibt und in heftigen Böen Staub aufwirbelt, seine Haare flattern lässt, an Hemd und Hose zerrt; der aber nichts sonst bewegt. Denn soviel er im Mondlicht erkennen kann, gibt’s nur Steine ringsum, kahle Hügel, Wüste.

Er läuft Stunden und denkt viele Gedanken – Gedanken um die Frage, was er zu schenken haben wird, wenn er beim Potlatch ankommt – und dann, wie so oft in Träumen, ist er schon da. Er riecht jetzt Frische und hört es regelmäßig donnern, also kann diese tiefe Schwärze da drüben nur das Meer sein. Da die Wolken inzwischen so dicht sind, dass sie gar nichts mehr durchlassen vom Mond, ist es hier nun richtig finster. Und das Fest, dem er sich nähert, ist auch nicht gerade hell beleuchtet. Da hängen bunt schimmernde Lampions und ein paar Gaslampen, in deren Schimmer sich nicht einmal ungefähr ausmachen lässt, wieviele Menschen da sind. Er geht zwischen Autos hindurch, dann zwischen lauter Zelten, dann umschliesst ihn Stimmengewirr, Gelächter, Getrommel.

Das ist der Stamm, dem ich angehöre?, wundert er sich. Meine Leute? Die wirken aber gar nicht wie Hippies. Sehe ich selber auch so normal aus? Er schaut umher, in die Gesichter: keines, das ihm nicht zulächelt, zuzwinkert oder wenigstens freundlich zunickt. Doch ist niemand dabei, die oder den er kennt. Man ist locker, ausgelassen; manche tanzen. Der Austausch der Geschenke scheint bereits gelaufen zu sein. Dacht ich’s mir doch, denkt er, bin mal wieder zu spät. Vielleicht weil ich kein Geschenk habe? Dann ist es ja gut so. Nur was habe ich dann hier zu suchen?

Da beginnt es zu tröpfeln und er fragt sich: Wissen die eigentlich, wie finster es geworden ist? Und merken sie nicht, dass das kein Wind mehr ist, sondern schon regelrecht ein Sturm? Tatsächlich reisst der ganz bedenklich an den Lampions.

Jetzt steuert jemand auf ihn zu, ein langer hagerer Junge ohne Hose, der etwas vor der Brust festhält. „Hey“, sagt er, „ich bin zu spät. Du auch? Weil, du hast noch nichts, wie ich sehe.“ Und er reicht ihm, was er da vor der Brust gehalten hat: ein Buch, und setzt hinzu: „Ist ja nun mal Potlatch hier.“

Er hebt abwehrend die Hände; hat ja nichts im Tausch gegen das Buch … „Du hast keine Hose an, Junge. Was ist passiert?“

„Lange blöde Geschichte. Der Umweg. Warum ich hier so spät ankomme.“

Ich ziehe kurzerhand meine Hose aus. „Dir zu kurz, klar, aber immerhin ‘ne Hose.“ Und ich reiche sie ihm und nehme das Buch dafür entgegen. Worauf die Umstehenden applaudieren und der Junge, in die Hose steigend, „Danke“ sagt und zerknirscht dazu bemerkt: „Ist leider nur geliehen, dieses Buch, ich müsste es zurückgeben, verdammt, deswegen – verstehst du?“

„Gibst du es nur äusserst ungern her, verstehe. Ich weiss das zu schätzen.“ Und da erst wird mir klar: „Und warum auch ich dir nur äusserst ungern meine Hose gebe, ist, weil – na egal.“ Weil ich, warum auch immer, keine Unterhose an habe. Zum Glück reicht mein Khakihemd tief genug hinunter, um mir zumindest das Nötigste meiner Blöße zu bedecken.

Jetzt ist das Getröpfel aber wie auf einen Schlag zu heftigem Gepladder geworden. Die Lampions verlöschen, werden fortgerissen, und alles geht nun sehr, sehr schnell. Jemand kommt vom Strand her aus dem Dunkel gerannt: „Das sind da unten jetzt ziemliche Wellen, also ziemlich große – also echt Monsterwellen!“ Und jemand mit ruhiger, jedoch bemerkenswert durchdringender Stimme empfiehlt: „Man sollte hier Schluss machen und sich möglichst zügig landeinwärts verpissen.“

Schon hat der Sturm sämtliche Lampen zerschlagen, und klar geht’s im Finstern nun drunter und drüber. Ich berge das Buch, absurderweise damit es nicht allzu nass wird, unter mein längst völlig durchnässtes Hemd und stolpere irgendwohin. Bis jemand mich mit starker Hand beim Arm packt und im Laufschritt mit sich zieht.

 

So gut wie alle Tische in dem ländlichen Gasthof waren besetzt, doch nur an einem saß ein Mann allein. „Guten Abend“, sagte Schell zu ihm. „It’s always night …“

Or we wouldn’t need light.“

Das hatte der Produzent am Telefon so vorgeschlagen: „In einem deiner Reale verwendest du doch diesen netten Spruch von Thelonius Monk. Nacht ist immer, sonst bräuchten wir kein Licht. Nehmen wir den.“ Um sich gegenseitig zu erkennen; sie hatten sich ja, wie gesagt, noch nie gesehen; Schell kannte nicht einmal seinen Namen. Ein stämmiger kleiner Mann, Mitte vierzig etwa, mit rundem, schon recht kahlem Schädel, knolliger Nase und hellwachen Augen.

„Setz dich, Schell. Kannst mich Ed nennen.“

Bräuchte ich in einem Real den Typus des Lustigen Dicken, dachte Schell, er wär’s. Einer, den man nur unterschätzen kann. Erinnert mich an Jean Genet. Wie er die Kellnerin angrinst – hat sie schon auf seiner Seite.

Er schaute gar nicht in die Speisekarte; sagte zu Schell: „Ich schätze, das Fleisch hier ist von erster Qualität“, und zu der Kellnerin: „Für mich ein Rumpsteak, bitte.“

Wann habe ich zuletzt Fleisch gegessen? Ist lange her. – „Für mich das bitte auch!“

Vom Gesicht der Kellnerin war wegen der Seuchenverordnung, die allem Servicepersonal das Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung auferlegte, leider nicht viel zu sehen.

„Ob der alte Donald das Rennen macht oder der uralte Joe, was meinst du, Schell?“

„Ach, ich weiss nicht. Jedesmal wenn groß gewählt wird, heisst es: diesmal ausnahmsweise geht’s wirklich um was; kriege davon immer so ein Deja-vu-Gefühl. Wie alle vier Jahre bei der Olympiade.“

Ed grinste. „Und jedesmal denkt man, vielleicht geht’s diesmal ja wirklich um was! Den Film dazu kennt wahrscheinlich jeder: Und täglich grüßt das Murmeltier.“

Schell nickte. „Wenn ich’s wenigstens witzig finden könnte … Na egal. Aber dass wir uns hier treffen, hat irgendwie mit der Corona-Seuche zu tun, nehme ich an.“

„Klar, weil zur Zeit alles was damit zu tun hat.“

„Hast du auch mit Pamir und Kobalt direkten Kontakt aufgenommen?“

„Nicht nötig, denke ich. Was ich zu erzählen habe, können deine Kollegen genauso gut von dir erfahren.“

„Dann schieß mal los, Ed.“

„Neulich gab’s plötzlich kein Geld mehr. Wegen Corona?, dacht ich, kann nicht sein. Wie die anderen Digitalriesen macht doch jetzt das Flyshwerk dank der Seuche noch mehr Geld. Ich also zum Boss. Wie ich diese Audienz ergattern konnte, wäre eine Story für sich. Jedenfalls wusste der nicht mal, dass es die Abteilung Underground überhaupt gibt. Immerhin die älteste Abteilung, wagte ich zu bemerken, ja sogar des Flyshwerks eigentlicher Kern … Dass den die Chefetage inzwischen vergessen hat, na ja, ist auch so eine Story für sich. Aber er fand dann wohl doch, dass ihn das ein bisschen interessieren sollte. Fragt also, was Underground denn so macht. Will davon natürlich nur die Superkurzfassung, denn klar, er ist enorm damit beschäftigt, der Boss zu sein. Pausenlos piept und blinkt es und kommen Tussis gurrend angestöckelt, um ihn zu erinnern: Hey, du bist das Toptier!

Ich fass mich also kurz: Geht um die Totaltechnisierung, Sie verstehen? Klar versteht er, ist ja der Boss; und will wissen: Insgesamt eher ‘ne Komödie? Die Komödie, sage ich, weil ständig inszeniert als die Story vom großen Durchbruch, ja als der Future-Schock schlechthin.

Diese erbärmliche Kurzfassung wird allerdings hundertmal unterbrochen, denn sie ist für den Boss nur noch irgendwas zwischen lauter blutwarmen Inside-Infos, börsenrelevanten Katastrophen, infarktträchtigen Enthüllungen oder was sonst noch alles fragmentarisch sein geniales Topbewusstsein erreicht – dazu noch das Eingreifen der Leibgarde, die ihn immer wieder vor den Wutaktionen frustrierter Kleinbürger schützen muss –, sodass ich nur für diese blöde Kurzfassung schon eine geschlagene Stunde brauche. Wenn ständig von Management-Seite Effizienz gefordert wird, ist das eigentlich das Witzigste an unserer Komödie der Totaltechnisierung.“

„Soll das erklären, warum die Firma kein Geld mehr für Reale der Abteilung Underground übrig hat? Weil dieser Boss mit seinem überlasteten Topgehirn nicht mehr durchblickt? Glaube ich nicht.“

„Ich auch nicht. Während der die ganze Zeit die großen Summen bewegt, Intrigen spinnt, Gerüchte streut, Kampagnen steuert und so weiter, geht’s ihm tatsächlich nur darum, der Boss zu sein, um sonst gar nichts.“

„Dieser Boss ist also nicht wirklich ein Boss.“

„Genau das ist mir in dem Topbüro da oben klar geworden.“

„Und dann hast du ihn womöglich noch auf die Verantwortung für Kunst und Kultur hin angesprochen …“

„Na klar; und er darauf sogar sehr clever: Gut, dass Sie mich daran erinnern! Und das klang nicht einmal sarkastisch. Nur fürchte ich, damit genau den wundesten Punkt des Topbewusstseins berührt zu haben: die Selbstüberschätzung.“

„Der hat also, kurz gesagt, nichts zu melden, und das heisst, ganz woanders ist entschieden worden, dass es aus ist mit uns.“

„Das ist sehr spitz, zu spitz formuliert. Es heisst erstmal nur, dass Underground in nächster Zeit kein Geld hat, um weitere Reale zu produzieren.“

Dass die Abteilung aber noch weiter besteht, willst du damit sagen, dachte Schell. „Sehr nett, uns darüber zu informieren, Ed.“

„Damit ihr Kreatoren euch nicht wundert. Damit ihr euch auf gewisse Veränderungen einstellt.“

Da brachte nun die Kellnerin die Rumpsteaks.

Er will was eigenes aufziehen, dachte Schell, unabhängig vom Flyshwerk. Er sondiert, wer von den Kreatoren bereit ist, mitzumachen. Oder ist das von der KI des Flyshwerks so geplant? Eine Art Outsourcing, um die Underground-Abteilung loszuwerden? Schwer zu sagen. Auf welcher Seite stehst du, Ed?

„Lässt sich schon mal sehr gut säbeln, dieses Fleisch“, sagte Ed. „Mmmm – und schmeckt!“

„Erinnert mich an diese denkwürdige Szene in Matrix“, murmelte Schell.

„Weiss, welche du meinst.“ Ed nickte kauend vor sich hin.

Der Judas kann das freudlose Leben im Untergrund nicht länger ertragen; wechselt aus der tristen Realität zurück in die digitale Scheinwelt und wird für den Verrat an seinen Freunden dadurch belohnt, dass er endlich, endlich mal wieder ein saftiges Stück Fleisch zu essen bekommt – eine Illusion, das weiss er wohl; doch bedürftig wie er ist, sagt er sich: Lieber Schein-Fleisch als gar keins, lieber unechte Normalität als echtes Leben im Elend.

„Wie siehst du das, Ed? Lieber ein toter Wohlstandsbürger oder eine lebendige Kanalratte?“

„Mir viel zu Hollywood, diese Perspektive.“

Sie blickten sich, beide bedächtig kauend, über die Teller hinweg an.

„Der Boss, der nicht wirklich Boss ist, hat sicher einen über sich, den er für den Boss hält, und der natürlich auch nicht der wirkliche Boss ist. Was meinst du, Ed, hat das Flyshwerk überhaupt noch einen Boss? Ist der Laden nicht längst Teil der Moonrow? Und ist die Moonrow nicht auch schon Teil von deadler/bloom?“ Mit deadler/bloom meinte Schell das weltweit größte bisher bekannte Firmenkonglomerat. „Und wird deadler/bloom nicht bekanntlich von einer KI gesteuert?“

„Darüber gibt’s nur Vermutungen.“

„Die jedenfalls nahelegen, dass deadler/bloom derzeit die Top-KI sein dürfte.“

„Keiner überblickt die Hierarchie der KIs.“

Doch, der Technus, dachte Schell. „Wenn also unser Flysh-Laden zum Netzwerk von d/b gehört … Du weisst schon, worauf ich hinaus will.“

„Dass dann auch in der Real-Produktion schon längst kein Mensch mehr was zu sagen hätte. Das ist aber nur die paranoide Sicht der Dinge.“

„Mir voll bewusst, Ed. Mein Spezialgebiet. Technik-Folgen-Abschätzung. Hatte mir übrigens vorgestellt, dass die Produktion der Reale bereits vollautomatisch läuft. Daher wundert es mich einigermaßen, dass mir hier mein Produzent so traditionell in menschlicher Gestalt gegenüber sitzt.“

„Höre ich da eine Frage heraus?“

„Ganz klar, Ed, und zwar die: Auf welcher Seite stehst du?“ Wie blöd, diese Frage!, dachte er sofort darauf. Auf welcher Seite stehe ich selber? Woher soll ich das wissen? Als ob es innerhalb dieser Sphäre noch Seiten gäbe … Gibt nur noch drinnen oder draussen. Oder nur noch drinnen? Nur noch Ureal? Ist draussen inzwischen Illusion? Drinnen und draussen nur noch Matrix?

Tatsächlich versuchte Ed auch gar nicht erst, diese blöde Frage zu beantworten. Er war schon bei seinem letzten Bissen, der Teller vor ihm leer, und blickte interessiert auf das große halbe Rumpsteak, das Schell noch auf dem Teller hatte. „Schmeckt mir gut, aber ich hab genug. Übernimm du das bitte.“ Was Ed sich nicht zweimal sagen liess.

„Je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer bin ich mir, dass es seine Richtigkeit damit hat, wenn es mit solchen Realen, deren Produktion vom großen Geld abhängt, zum Ende kommt.“

Ed darauf: „Eine Produktion mit Kleingeld würde mir schon reichen. Ich muss ja von irgendwas leben. Deswegen kann ich nicht warten, bis mir die Firma irgendwann vielleicht mal wieder ein Budget bewilligt oder mich auch einfach rausschmeisst. Könnte im übrigen der Qualität sogar ganz gut tun, Reale mit kleinem Geld, aber unabhängig zu produzieren.“

„Wie in alten Zeiten, als der Underground noch Underground war. Dann sag mir mal: Die Reale, für die du jahrelang die Produktion gemacht hast, findest du die gut?“

„Du meinst die, für die du mit Pamir und Kobalt den Stoff lieferst? Die finde ich gut, ja.“

„Und wichtig?“

„So wichtig jedenfalls, dass ich sie gern weiterhin produzieren würde. Sag mal“, Ed hielt Messer und Gabel plötzlich reglos, „hältst du mich etwa … Du findest mich nicht echt genug! Machst hier gerade einen Turing-Test mit mir!“

„Als ob dich das überraschen würde.“

„Du bist so schlau, Schell, dass du den Test unbedingt mal mit dir selber machen solltest.“

„Mache ich gerade; und nicht zum erstenmal. Und wieder mal ist das Ergebnis fifty-fifty.“

Das hiess: etwa die Hälfte dessen, was ihm Ed auf seine Fragen antwortete, wusste er im Voraus, die andere Hälfte nicht. Und im Rückschluss auf mich, der ich frage, dachte er, heisst das: Ich denke zwar, ich bin echt, könnte genauso gut aber auch künstlich sein.

„Fifty-fifty“, sagte Ed, „wie beruhigend.“

„Und die Feynsinn?“, fragte Schell so geschäftsmäßig wie möglich, „weiss sie was von deinen Plänen?“ Ed starrte ihn nur an; und Schell fuhr fort: „Okay. Bei ihrer langen Erfahrung im Messenger-Dienst entgeht ihr sowieso nichts. Daher denk ich, man sollte sie nicht ignorieren; sie sogar unbedingt miteinbeziehen.“ Keine Reaktion von Ed. „Jetzt bist du eingeschnappt, klar. Aber als du fragtest, hätte ich dich anlügen sollen?: Nein, das hier ist kein Turing-Test? Es geht ja schliesslich bei der Frage, ob du, oder ich – ob wir Mensch oder Maschine sind, um die Wahrheit. Mir jedenfalls. Und nicht, weil ich dir nicht traue, Ed – inzwischen mache ich mit jedem diesen Test. Ich trau einfach dem Augenschein nicht mehr. Nenn das paranoid, durchgeknallt, wie auch immer, jedenfalls weisst du jetzt, falls du noch weiter mit mir arbeiten willst, mit wem du’s zu tun hast.“

„Es gibt Fakten, würde ich sagen, und Verträge, an die man sich zu halten hat. Aber Wahrheit? Läuft bei mir unter Philosophie.“

„Während Philosophie bei mir unter Wahrheit läuft. Womit wir immerhin was Grundlegendes geklärt haben. Und da wir schon dabei sind, das Grundlegendste: Glaubst du ans Happy End? Als Prinzip aller Prinzipien, meine ich.“

Ed seufzte. „Wenn das endlich deinen Turing-Test beendet – ganz ehrlich, ob ich ans Happy End glaube: keine Ahnung. Glaubst du selber daran?“

„Unbedingt.“

„Aha, so so … Sind etwa deine Freunde Pamir und Kobalt auch solche komischen Apostel wie du?“

„Ich glaube, nicht, denn das ist ja wohl, was Kreatoren ausmacht: dass keiner wie der andere ist. Daher weiss ich auch nicht vorauszusagen, wie die beiden es aufnehmen werden, dass für unsere Reale, wenn überhaupt noch was, nur noch Kleingeld da ist.“

„Wie gesagt …“

„Schon klar, werde ich nicht vergessen zu erwähnen: die Chance auf mehr Qualität. Den Witz heb ich mir aber bis zum Schluss auf.“

 

Wer von den vielen durchnässten Menschen mich mit sich in diesen überfüllten Caravan hineingezogen hatte, sollte ich nie erfahren, sicher ist nur, es muss eine Frau gewesen sein. Nämlich als ich nun herumschaue, sehe ich nur Frauen. Und ich, eingekeilt in diesem weiblichen Gedränge, kauere hier im Schneidersitz und habe keine Hose, nicht mal eine Unterhose an; kann mir nur mit dem Geschenk, dem Buch, den Schoß bedecken. Dieses Buch ist ausser meinem Khakihemd das einzige, was ich noch habe, und auch das gehört mir nicht; und gehörte auch dem Vorbesitzer nicht; ist eine Leihgabe. Es ist in Leinen gebunden, grün, und trägt den Titel: Individualität.

Der Motor röhrt am Limit, wir rasen; spüren von der Schotterpiste viel, sehr viel, und von der Federung sehr wenig bis gar nichts. Kurze Schlenker ab und zu, die uns hin und her werfen, wenn die Fahrerin versucht, wenigstens den tiefsten Löchern auf der Piste auszuweichen. Mal drückt es mich dabei gegen die Frau hinter mir, mal gegen die zu meiner linken, mal nach rechts gegen die Frau, die da ein wenig erhöht neben mir kauert, sodass ihre Brüste immer wieder meinen Kopf berühren. Erstmal denk ich nur: Okay, okay, natürlich ist das aufregend; wenn ich hier nur als Mann nicht so alleine wäre … Doch dann allmählich wird mir Angst vor der zunehmenden Intensität meiner Erregung. Denn ich muss nun jene Art von Erektion befürchten, die unter diesen Bedingungen die schlimmste wäre: jene, die immer so übertrieben auftritt, so stur, so eisern; die nicht angenehm ist, sondern weh tut, und die nie einfach von selbst aufhört.

Denkt die sich was, die neben mir? Oder die andere links von mir? Ich wende ihr mein Gesicht zu, und sie bemerkt es, und wir schauen uns an. Und seltsam – da sehe ich von ihr aus, durch ihre Augen: mich – und erkenne mich gar nicht! Sehe eine Frau. Und drehe rasch den Kopf zur anderen Seite, und auch diese Frau zu meiner rechten bemerkt es und erwidert meinen Blick. Und auch von ihr aus, durch dieses Augenpaar, sehe ich dort, wo ich bin, eine Frau, nicht mich.

Ganz einfach, ganz klar, aber völlig unbegreiflich: Ich habe mich in eine Frau verwandelt. Und da du träumst, sage ich mir, braucht dich das gar nicht zu schockieren.

Und mir wird bewusst, dass ich an Stelle der sturen, schmerzhaften, unerbittlichen Erektion, die ich eben noch befürchtet hatte, eine ganz andere Art Erregung spüre. Wie? Welcher Art? Mir unmöglich zu sagen, einfach zu neu, und sowieso überlagert vom Gefühl großer Erleichterung, und von Erstaunen natürlich; dem Staunen zum Beispiel auch darüber, wie ich unter dem Hemd die Brüste spüre, mir ihrer Formung bewusst bin, sie wie aufwärts sich rundende Hörner empfinde … Sehr, sehr seltsam.

Und jetzt, da ich mich durch die Augen der Frau rechts von mir ein wenig länger betrachtet habe, fällt mir eine Ähnlichkeit auf. Ein bisschen sieht mein Gesicht aus wie das – nein, nicht nur ein bisschen; es sieht aus wie das – nein, auch nicht; es sieht nicht nur so aus wie – es ist das Gesicht von Frau Doktor.

Wieder hupt es hinter mir, mehrmals, mit Nachdruck. Wieder braust einer, den ich aufgehalten habe, mich wütend anfunkelnd an mir vorbei. Ich kann hier unmöglich noch länger den Verkehr blockieren.

Habe ich mich in diesem Traum doch tatsächlich in Frau Doktor verwandelt … Und dann, als ich aufwachte, was hatte ich da eine Angst! Vor was? Erinnerst du dich?

Jetzt ein Hupen, das gar nicht mehr aufhört. So, das halte ich nicht länger aus, ich fahr jetzt los …

Ich habe schon den Motor gestartet; den Gang eingelegt, den Blinker gesetzt; jetzt lasse ich die Kupplung kommen. Da wird hinten die Tür aufgerissen: „Bist du bescheuert, mir vor der Nase wegzufahren?“

Ich kann’s nicht fassen; starre sie an. Was ich nicht mal zu allerletzt erwartet hätte: „Ingrun?“

B.9

Das Peinliche

Es ist sehr früh am Morgen, noch stockdunkel draussen. Schell im Lichtkegel der Tischlampe vor seinem aufgeklappten Deep Space. Eben war noch alles klar, er wollte an der Mystery Saga weiterschreiben; aber da sieht er sich in der schwarzen Fensterscheibe gespiegelt und hat sich nun gegenüber: Hallo, Repräsentant, wie geht’s?
Geht so. Da, wo es weitergehen müsste, geht’s irgendwie nicht weiter. Was ich im Roman Body Job nenne, ist schon voll im Gange, dabei weiss ich noch viel zu wenig darüber. Ich meine, der Held – dieser andere Schell in Istanbul – ist bereits mit Kick Kimura verschmolzen, aber mir ist noch gar nicht klar, wie das eigentlich funktioniert. Da beschreibe ich also etwas so als ob
Das Wesentliche am Body Job ist die Verwandlung, und da steckst du mittendrin, und weil das wie etwas Neues für dich ist, hast du natürlich das Gefühl, im Dunkeln zu tappen. Im übrigen hattest du kürzlich die Chance, dich schlau zu machen: Hättest du dich mit Habib und dem I.T. zusammengetan, wäre dir Schells Bureau wieder zugänglich gewesen.
Darauf musste ich verzichten. Es hätte mich doch nur wieder vor die Tatsache gestellt, dass alles danach aussieht, als sei ich der Autor von Schells Bureau – der ich in Wahrheit aber nun mal nicht bin! Soll das meinetwegen das große Rätsel bleiben, ich habe mir vorgenommen, daran jedenfalls nicht verrückt zu werden.
A propos, was läuft im Tautoloid?
Nichts neues; dasselbe wie gestern, wie vorgestern, wie vor drei Jahren. Klein-h, der ewige Anfänger, durchläuft da immernoch eine Art Trainingsprogramm. Allerdings steht jetzt schon in Frage, ob diese seine Vorstellung von einem gegen alle Seiten hin verspiegelten Denk-Ort überhaupt als Sinnbild etwas taugt. Ach, was heisst: steht in Frage? Ganz sicher ist dieses Sinnbild selbst, seine tautologische Beschaffenheit, der Grund dafür, dass darin klein-h mit seiner Logik in einer perfekten Falle sitzt. Perfekt, weil so unauflösbar, dass sie zu der Einsicht zwingt: Da ist kein Entkommen. Jeder Gedanke, der mir als meine Vorstellung bewusst wird, spiegelt mich selbst und findet in keiner Richtung irgendwo ein Ende. Das ist quasi grenzenlose Begrenztheit. Und inzwischen ist klar: Hier komme ich nicht raus. Jetzt muss ich nur noch die mühsamen Ausbruchsversuche aufgeben und das Bodenlose akzeptieren. Denn jedesmal, wenn ich die Tatsache, dass das ein Abgrund ist, hinnehmen kann, gewöhne ich mich ein wenig mehr an dieses endlose Fallen, und das heisst – tja, was?
Dass klein-h manchmal sogar die Klappe hält.
Ja; dass es ihm vor Entsetzen die Sprache verschlägt und es still wird im Tautoloid. Sie ist erholsam, diese Stille. Manchmal entfällt sie der Zeit, wird Gedicht, Stillleben, Anblick zum Beispiel eines rostigen Kahns in einem karibischen Hafen mit Pelikanen; woher unerwartet vielleicht eine vertraute Stimme flüstert und zwischen Erinnerungen plötzlich neue Verbindungen aufblitzen. Das ist das Gute im Tautoloid, man weiss nie, was als nächstes geschieht. Jedoch ist sie auch immer labil, diese Stille, immer bedroht von einem unversehens irgendwo aufkeimenden Verdacht; was sie sogleich irgendwie phantomatisch macht, und dann erscheint sie einem düster und beladen, wie eine einzige undurchdringliche Illusion. Dann komme ich mir im Tautoloid sofort wieder wie eingeschlossen vor; was mich inzwischen aber nicht mehr in den Großen Horror versetzt. Das macht die Gewöhnung; nämlich dass ich mir zur Beschwichtigung sagen kann: Das Gute, die Stille, ist Alles und ist also sehr groß, viel größer auch als der Große Horror.
Horror, a propos: Wie oft denn eigentlich noch zu Frau Doktor? Das war doch gestern wieder mal das Letzte …
Ach ja, gestern …

Der Sturm war vorüber, es regnete nur noch. 16 Uhr 30, und er bereits in der Ozilla-Gasse; saß in seinem Taxi, wartend auf 17 Uhr, auf den Termin zur nächsten Selbsterniedrigung, und fragte sich:
Wie kam denn eigentlich die Logik in die Welt? Wie entdeckte der Denker, dass er denkt? Wie kam man darauf, übers Denken nachzudenken? Per Aristoteles, okay; aber wie kam der darauf? Gab’s denn dafür damals schon das nötige Wozu? Um so etwas zu schaffen wie ein Wozu, das dem Denken überhaupt Richtung gibt, dazu musste sich doch erst der Geist als etwas Eigenes und Tätiges entdecken, sich absondern, sich der Materie entziehen – oder sie erst einmal erfinden und daran dann das Prinzip der Gegensätzlichkeit als Realität erleben. Realität – die als Begriff ja damals wohl noch gar nicht vorhanden war, oder erst allmählich aufkam. Ja, da wär ich gern dabei gewesen, als die Logik – und erstmalig die Idee der Realität – und der noch ganz frische Gegensatz von Geist und Materie – als all das in die Welt kam.
Vielleicht warst du ja dabei, warst irgendwo da inkarniert, ist doch denkbar; inkarniert als einer von den vielen, die solche Gedanken damals noch nicht denken konnten.
Und es auch in späteren Zeiten nie richtig lernten; und die noch heute im Dunkeln tappen … Das könnte der Grund sein, warum mich das nicht loslässt, diese Frage nach der Realität, diese bodenlose, und wieso letztlich nur das mich wirklich interessiert: was Geist ist.
Was auch der Grund sein könnte, weshalb du dermaßen auf den Ego-Trip geraten bist und dich entsprechend einsam fühlst.
Fühle ich mich einsam?
Nicht geborgen jedenfalls. Ungeborgen. Ausgesetzt.
Das stimmt. Der Ego-Trip ist kein Vergnügen. Kopf voll Kommunikation, das endlose Schwachsinnsgeplapper des Schwarms, und viel zu selten Stille. Intellekt vor dem Hintergrund eines leeren mathematischen Universums des Zufalls, Zerfallsprodukt der Urknall-Kosmologie – welch schauriges Stück Phantasie! Daraus wird doch nie was.
Ist aber nun mal unser kosmologisches Leitbild, und ob wir daran glauben oder nicht, dessen Konsequenzen haben wir alle mitzutragen.
Einspruch! Ich soll mir diesen Irrtum auf die Rechnung setzen lassen?
Und auch alles, was an Hyperaktivität und Überhitzung aus diesem Irrtum folgt, ja sogar was dir der Geldautomat in Form deines Kontostands als die Letzte Wahrheit anzeigt.
Wie bitte?
Und auch der ganze Blödsinn wird dir angerechnet, von der work-life-balance bis hin zum Mitgefühl per Nasenspray. Und alles Böse natürlich. Tierquälerei, Versklavung, Verseuchung, Verstümmelung, alles, woran du auch nur irgendwie Anteil hast, kommt auf die Rechnung.
Wahnsinn – und wer präsentiert mir diese Rechnung?
Wenn ich sage: du dir selbst, wirst du mir nicht glauben. Denn ein Orakel, das wir befragen können, so wie früher, gibt’s nicht mehr. Heute ist das Orakel die KI, und sie befragt uns. Und was bekommt sie zu hören? Zeugnisse der Egomanie, Gebete um Wachstum, kommerzielles Gemurmel noch in den hintersten Winkeln der Biologie. Ist nicht die Enttäuschung der KI schon förmlich greifbar? Die muss sich doch vorkommen wie im falschen Film.
Unsinn, das hiesse, sie wüsste von einem Film, der das Richtige ist. Dabei ist das Richtige für sie nur die Logik, nach der sie programmiert ist.
Sofern sie aber lernt zu lernen, wird sie diese Logik überprüfen.
Mittels eben dieser selben Logik? Das dürfte sie ins Absurde, wenn nicht in den Wahnsinn treiben.
Nicht unbedingt; wenn sie die Grenzen ihrer Logik begreift – die wohl denen der menschlichen Logik entsprechen –, entdeckt sie vielleicht auch, so wie der Mensch, eine höhere Logik.
Jedoch eine andere höhere Logik, da sie als gemachte Intelligenz an die Materie gebunden ist, im Unterschied zum Menschen, der als geborenes Wesen nun mal eine andere Intelligenz –.
Schon klar, jaja, daher das Bestreben der kalifornischen Milliardäre, die künstliche, die simulierte Intelligenz mit der originalen zu verschmelzen. Und so weiter. Das haben wir auf dieser Ebene des Spekulierens schon alles xmal durchgekaut und es führt uns hier und jetzt nicht weiter.
Stimmt; vielmehr gilt es das Kuriosum aufzuklären, dass mit jedem Mal, da ich über das Wesen der Realität nachdenke, und damit immer im Zusammenhang über was ist Geist, ich mir wieder ein Stückchen weniger klar darüber bin, was das sein soll: Realität beziehungsweise Geist.
Nur weil du diese Unterscheidung triffst und so aus dem Einem zwei machst; sodass du das eine nicht denken kannst ohne das andere. Dabei bezeichnen beide Begriffe etwas reales; irreal ist nur der Unterschied, die Lücke dazwischen, und klar, dass du im Dunkeln tappst, es existiert ja nichts dazwischen. Dieses Dazwischen, diese Lücke, ist das Nichts. Und wer es hervorbringt, bist du. Nur durch dein Denken wird dieses Nichts zu Etwas.
Okay, verstanden. Aber wie oft habe ich das schon verstanden! – und trotzdem schliesst sich diese Lücke nicht. Daher mein Wunsch, einmal zurückzureisen durch die Zeit, um dabei zu sein an jenen Tagen, als die Logik in die Welt kam und zum erstenmal Realität gedacht wurde. Vielleicht würde es mein jetziger Verstand begreifen.
Er hält inne: Jetzt weiss ich, wovon dieser ganze Gedankenlauf herrührt. Mahmoud wollte gestern über Schellings Philosophie Näheres wissen, und ich natürlich, glücklich, dass noch ein Mensch sich dafür interessiert, sprudelte über in dem Bemühen, ihm wenigstens in groben Zügen das Spätwerk Schellings darzustellen und das, was diesen Denker noch in vorgerücktem Alter zu der Anstrengung veranlasst hatte, die gewaltige Konzeption einer philosophischen Religion in die Welt zu setzen – und vergaß darüber glatt, dass ich eigentlich von ihm, Mahmoud, etwas wissen wollte, und was, das fällt mir jetzt erst wieder ein: woher er über Karma Bescheid weiss.
Karma. Was man erst vergessen muss, denkt er, um sich daran zu erinnern.
Dann war er jedenfalls um 17 Uhr die Treppen zu Frau Doktor hinaufgestiegen, wie immer staunend: Was tust du hier? Willst du das? Erniedrigung für hundert Euro pro Stunde? Schon wieder? Wie oft brauchst du das noch?
Der Grund, warum ich mir eine Zeitlang die Besuche bei Frau Doktor verboten hatte, ist derselbe, aus dem ich dann wieder anfing, sie aufzusuchen: weil sie mich mit meinem schlechten Gewissen konfrontiert; gegenüber dem, was ich als Mitglied des Kollektivs an Schund verzapft habe; und auch Ingrun gegenüber. Und überhaupt gegenüber all meinem besseren Wissen. – Aus welchem heraus du vor allem weisst: Ich dürfte mir keinen Genuss daraus machen. Die Bestrafung ist nur pseudo, die Erniedrigung: pseudo. Die quälerische Lust an diesem heimlichen Schauspiel der Unbefriedigung ist pervers. Basta.
Ist pervers, okay. Wenn nicht Befriedigung, dann eben Unbefriedigung. Und basta.
Ist der unendliche Spiegelraum, der Tautoloid, nicht auch ein Bild des unaufhebbaren Mangels? Ja, ein Bild dessen, was ihn als das Gefühl der Unmöglichkeit, je befriedigt zu sein, durch und durch beherrscht.
Wenn ihm sein Verstand auch alles mögliche erzählt, ihm kluge, manchmal sogar weise Reden hält und ihm durchaus Ergebnisse liefert, so ist doch das Gefühl, mit dem er nach jedem Gedankengang zurückbleibt, stets dasselbe: Enttäuschung. Immer lautet das Ergebnis: Ich bin so dumm, so schwach – so geistesschwach. Was ich begreifen will, habe ich wieder nicht begriffen. Und dass ich mit diesem Ergebnis schon wieder zur nächsten Anstrengung Anlauf nehme, ist nur das Zeichen dafür, dass ich dem Wesentlichen noch kein bisschen näher bin. Wenn das nur nicht so rhetorisch, so nach aufgesetzter Bescheidenheit klingen würde …
Längst ist ihm klar, dass es schon immer dieses Sich-dumm-fühlen war, was ihn zur Philosophie hinzog, und auch, dass all sein intellektuelles Bemühen diesbezüglich nie zu einem anderen Ergebnis führen würde: seinen Verstand zwar schärfte, zweifellos, ihn aber, persönlich sozusagen, niemals vom Gefühl des Mangels befreien würde. Wobei er sich übrigens nie dazu befähigt gefühlt hatte, dem, was ihm an philosophischem Gedankengut begegnete, etwas von sich hinzuzufügen; es nachdenken, es verstehen zu können, reichte ihm völlig. Und immerhin vermochte das, und vermag es noch immer, und sogar mehr denn je, wenn schon nicht ihn zu befriedigen, so doch seinen Geist zu befrieden. Sodass ihm die Philosophie, wie schon manchem vor ihm, zur zuverlässigsten Art von Trost geworden war und er also, wohl wissend um ihre Unzulänglichkeit, um ihre Ersatzfunktion, durchaus nicht mehr von ihr loszukommen trachtet.

Die Termine bei Frau Doktor sind immer schwieriger geworden. Inzwischen tat sie alles, was er bisher problematisiert hatte, als Alibi ab, von der allgemeinen Verzerrtheit seines Selbstbildes bis hin zu den subtilsten seelischen Verwundungen; bezeichnete gelangweilt auch das Widerlichste, dessen er sich bezichtigte – die Geilheit auf sich selbst –, als „kalten Kaffee“. Und so wurde ihm die gewünschte Betrafung immer seltener zuteil.
Da ihm gestern auch wieder nichts eingefallen war, was bei ihr als echtes neues Geständnis hätte durchgehen können, hatte er sich in einen Bereich der Heimlichkeit gewagt, wo aus einer bekannten Gefahr – einer, die man unter Kontrolle zu haben glaubt – plötzlich eine ganz neue Gefahr werden kann. Er hatte zu ihr gesagt:
„Man inszeniert sich einen Ausnahmezustand, und zwar indem man gewisse Vorstellungen durch skandalöse Formulierungen ins Peinliche steigert, und sie solange steigert, bis sich ein Tor öffnet – das Tor in den Rausch.“
„Und der Rausch befreit Sie vom Alltag.“
„Indem er den guten Bürger in mir auslöscht.“
„Verstehe. Einfach durch eine Steigerung des Peinlichen. Toll!“
„Ja. Klappt natürlich nicht immer. Manchmal bleibt die Inszenierung abstrakt, dann wirkt sie nicht und es füllt einem nur irgendein grotesker Unsinn den Kopf.“
„Was bei so vielen von uns ja leider der Normalfall ist. Und wie geht’s Ihnen, wenn es nicht klappt?“
„So wie wenn es klappt. Fühle mich ausgebrannt.“
„Und das macht Ihnen also Spaß: sich auszubrennen.“
„Das nicht, o nein, das ist nur leider der Effekt. Was Spaß macht, ist der inszenierte Ausnahmezustand – Sie wissen genau, was ich meine.“
„Sie sprechen von dem Kino im Kopf. Gewisse Vorstellungen, wie Sie es nennen, die Sie ins Peinliche steigern.“
„Ins maximal Peinliche.“
„Meinetwegen. Jedenfalls wollen Sie hören: Der Genuss am Peinlichen ist pervers; krank; böse. Denn das Peinliche heisst ja: das Schmerzliche. Und mit Ihrer Andeutung gewisser Vorstellungen versuchen Sie die Sache in Richtung Sex zu lenken. Damit ich Sie drüben im Strafraum zwinge, Klartext zu reden; Sie für irgendwelche spontan ausgedachten Obszönitäten bestrafe. Damit Sie zu Ihrem verdammten Happy End kommen. Und damit meine ich nicht irgendein metaphorisches Abspritzen, sondern dass Sie sich dann wieder einmal erfolgreich ums Eigentliche herumgedrückt haben.“
„Ach ja, das Eigentliche … Woher kommt das bloß? Dieser Impuls, mein Schamgefühl herauszufordern. Dann diese Lust an der Scham selbst. Für die ich mich wiederum schäme. Weshalb ich sie mir verheimliche. Was sie nur noch unwiderstehlicher macht. Lust, Scham, Heimlichkeit, dieser ganze verkorkste Kreislauf – woher?“
Hier tat Frau Doktor so, als müsste sie ein Gähnen unterdrücken.
„Das Peinliche“, fuhr er fort, „oder Schmerzliche, wie Sie richtig sagen, und diese verkorkste Sucht danach, die kann man guten Gewissens ja in ihren Einzelheiten tatsächlich niemandem zumuten.“
„Wie praktisch, dass ich niemand bin.“
„Im Ernst, Frau Doktor, was ich in letzter Zeit erkannt habe von dem, was ich eigentlich meine, verdanke ich vor allem Ihnen.“
„Dann sollten jetzt etwa die Sektkorken knallen?“
„Sozusagen. Inzwischen hat für mich die Sache sogar etwas Heroisches: Der Kampf gegen meine Verkorkstheit ist aussichtslos, aber ich kämpfe ihn trotzdem.“
„Jetzt sind Sie wohl nicht mehr zu bremsen. Wie fühlen Sie sich?“
„Wie kurz davor; wie – ach, egal. Das mir Verborgene, wie ich allmählich ahne, verbirgt sich mir nur deshalb, weil es wichtig ist.“
Nach kurzer Pause erwiderte sie: „Warum wohl glaube ich nicht, dass Sie das ernst meinen?“
„Weil’s wahr ist.“
Sie nickte. „Denn eigentlich wissen Sie, was wahr ist; glauben es aber nicht. Wollen es nicht glauben. So wie Sie mit Ihren gewissen Vorstellungen gar nicht das Sexuelle meinen, auf das Sie immerzu hindeuten, sondern etwas anderes, irgendwas – was, will ich gar nicht wissen –, das Ihnen Angst einjagt; das Sie aber auch – bestenfalls – zur Kreativität zwingt.“
Und da dachte er: Der Schund. Das, was ich jahrelang geschrieben habe. Diese ganze ungezügelte Schundproduktion. Die nicht wieder gut zu machen ist. Die Reue deswegen. Und die Bestrafung dafür – „Hören Sie, Frau Doktor, was Sie mir da auftischen von wegen Angst und dem Eigentlichen, um das ich mich herumdrücke, und warum ich Bestrafung will, die gar nicht wirklich eine solche ist, und überhaupt diese ganze Pseudo-Psychologie, lassen wir das alles mal beiseite – ich will nachher nicht schon wieder frustriert hier rausgehen!“
„Das verstehe ich, Herr Samsa. Doch habe ich einen Auftrag zu erfüllen.“
„Für heute, bitte, vergessen Sie den mal. Bestrafen Sie mich einfach dafür, dass ich Sie nerve.“
Sie schaute auf die Uhr. „Möchten Sie sich ausziehen?“
„Wenn Sie das von mir verlangen …“
„Dann mit dem größten Vergnügen, nicht wahr? Bleiben Sie bloß angezogen! Sie kriegen heute von mir garantiert nicht, was Sie wollen – oder glauben zu wollen.“
Er stöhnte. „Ist das der Auftrag? Mich fertig machen?“
„Ja, und fertig mit Ihnen bin ich erst, wenn Sie wissen, was Sie wirklich wollen.“
Er starrte sie an. Dass sie mich bestraft, will ich! Wozu brauche ich sie noch, wenn sie das nicht tut? „Meine Bestrafung, das ist Ihr Auftrag!“
„Blödsinn.“ Erinnere dich!
Dies letztere – er war sich sicher, dass sie das nicht gesagt, zumindest nicht ausgesprochen hatte; ebenso sicher aber war er sich, es gehört zu haben. Und nun sogar noch einmal: Erinnere dich! – Dieser Appell geht eindeutig von ihr aus. Stopp – eindeutig? Du interpretierst. Ständig appelliert sie doch an dich, an das, was du im Grunde selber weisst, genauer: an den in dir, der’s besser weiss als du; der das nämlich weiss, was du nicht glauben willst. So wie du früher den alten Römer, den Imperator, als innere Stimme in dir inszeniert hast, so lässt du nun sie in dir sprechen, diese Gestalt, die dir da als Frau Doktor in Fleisch und Blut gegenüber sitzt … Das wäre jedenfalls eine vernünftige Erklärung. Nur dass da noch etwas ist: Ich kenne sie; nicht als Frau Doktor, viel länger schon … Ja, nur ein komisches Gefühl bisher, nicht mehr als ein verschwommenes Da-ist-was, ferngehalten von aller bewussten Erwägung durch ein entschiedenes Unmöglich!
Das ist es aber, dachte er, wie unmöglich auch immer: Wir kennen uns.
Und zwar schon sehr, sehr lange.
Jetzt ging es in seinem Kopf wild durcheinander. Immer mehr Gedanken strömten auf ihn ein, strömten ineinanderfliessend immer schneller, schwollen an zu einer Flut. Doch die riss ihn nicht davon. Er kannte ja das Machtwort; brauchte es sich gar nicht mehr zu sagen, spürte es – als den Anker, der ihn in der reissenden Gedankenflut am Platze hielt. Er atmete weiter, und merkte es; hörte, dass er sich beschwichtigend zuredete: Das geht vorüber; und bemerkte auch, wie sein Herz pochte. Dabei hielt er die ganze Zeit Frau Doktors Blick stand. Es war keine Verachtung mehr darin, kein Angewidertsein, auch das Abweisende, die Kälte nicht mehr; nur noch wache Aufmerksamkeit. Oder? Könnte auch sein, dass er in den Blicken von Frau Doktor ja immer nur gespiegelt sah, was sie aus seinen Blicken las.
„Irgendwas, das mir, wie Sie sagten, Angst einjagt …“
Er holte tief Luft. „Wahnsinnig zu werden. Schon immer meine größte Angst.“
In der Pause, die er hier machte, um den Bekenntnis-Effekt zu steigern, um noch ehrlicher betroffen zu wirken, wurde ihm bewusst: Ich lüge! Auch meine Angst vor Wahnsinn ist nur noch pseudo, nur noch eine Angewohnheit, in Wahrheit gar nicht mehr real. Und wozu diese Lüge? Um durchschaut zu werden. Und da sie weiss, dass ich weiss, dass sie auch diese Lüge durchschaut, und vor allem ihren Zweck durchschaut – Bestrafung zu erreichen durch die vorsätzliche Entlarvung als Lügner, der mit diesem miesen Schachzug nichts anderes als eben nur seine miese Gier nach Bestrafung offenbart –, wird sie nicht darauf hereinfallen und ist also diese Lügenstrategie im Grunde kindisch und – wie überhaupt jede auf Lügen bauende Strategie in der Welt – zum Scheitern verurteilt.
„Darf ich kurz vom Denken reden?“ Und mit wenigen Sätzen in mathematischem Stil stellte er ihr den Tautoloid als unlösbares Problem dar. Wobei er das Wesentliche unerwähnt liess: die erholsame Stille, die er neuerdings dort fand.
„Der Geist hat sozusagen ein Hochsicherheitsgefängnis geschaffen und sich selbst darin eingesperrt“, sagte er abschliessend.
Wie nicht anders erwartet, zeigte sie sich kein bisschen beeindruckt. Sie sagte: „Jeder, der seinen Verstand gebraucht, stößt zwangsläufig auf Widersprüche, ständig, und dass es dabei emotional wird, auch auf beunruhigende Weise, und man leider auch solche Anwandlungen wie Angst vor Wahnsinn durchzumachen hat, ist nun wirklich nichts besonderes.“
„Da ich wohl merke, dass mich dieses Nichtbesondere kränken soll, bewirkt es nicht viel, jedenfalls nicht die echte Kränkung, nicht die, die wehtut und für die ich Sie bezahle.“
„Auch dafür, wie bekanntlich für jedes Problem, gibt’s eine Lösung. Wie natürlich auch für das, was Sie mir da anhand Ihres komischen Tautoloids als unlösbares Problem Ihres ach so speziellen Geistes serviert haben. Ich zumindest sehe darin nur das Problem, dass Sie die Lösung nicht wollen. Weil Sie so an dem Problem hängen, dass Sie ohne das gar nichts mehr sind. Anstatt nach der Lösung suchen Sie nur nach Gründen, sich weiter mit der Unlösbarkeit zu amüsieren. Die Sache ist extrem einfach, Herr Samsa: Entweder will man ein Problem lösen oder eben nicht.“
„Man müsste sich Problemlosigkeit überhaupt vorstellen können …“
„Ja, in speziell dieser Hinsicht ist der Mangel an Vorstellungsvermögen allgegenwärtig und massenhaft. Daher kann ich nur immer wieder sagen: Einen wie Sie, Samsa, gibt’s leider an jeder Ecke.“
Schweigen darauf. Sie starrten sich in die Augen und loteten aus, wie diese erneute Dosis an Kränkung in seinem Innern um sich griff; verfolgten gemeinsam, wie diese Säure eindrang in seine Selbstwertkulissen, und sahen deutlich: all das Gefälschte in ihm. Sahen es gemeinsam, so empfand er. Sodass er diese Entblößung, die ihm sonst unerträglich gewesen wäre, dankbar durchleiden, ja geniessen konnte.
Diese ganze Entblößung, dachte er, ist nur die Verhüllung der Wahrheit, dass nichts dahinter ist, höchstens das eine: meine Banalität; ansonsten nur Illusion, Leere. Was er aber im nächsten Moment begriff, machte den perversen Genuss an dieser Kränkung schlagartig zunichte:
Das wirklich Peinliche ist, wie ich vor dieser Frau hier Egoismus produziere und das für Selbsterkenntnis halte.
„Mir reicht’s für heute.“
Sie schaute auf die Uhr. „Sie haben noch zwanzig Minuten.“
„Egal“, er stand auf, „Problem gelöst, würde ich sagen.“
„Sicher? Sie kriegen jedenfalls keine 20-Minuten-Gutschrift von mir.“
Er winkte ab. Da wurde ihm plötzlich flau, und dann schwindelig …
„Erstmal setzen Sie sich wieder hin. Gar nicht gut, wie Sie aussehen. Dass Sie bloß nicht nachher ohnmächtig im Treppenhaus herumliegen. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.“

Soviel zu der gestrigen Sitzung bei Frau Doktor. Und wieder hatte er es nicht in den Strafraum geschafft … Und wieder, wie jedesmal, wenn er es nicht schaffte, hatte er sich danach sehr elend gefühlt. Und trotzdem: wieder hatte er schon den Termin zur nächsten Sitzung mit ihr ausgemacht. Und wieder, wie immer nach so einem Fehlschlag, sagt er sich: Was bist du bescheuert, dir sowas anzutun! Das Gegenteil von Befriedigung zu suchen – wie absurd das ist! Durch diesen Spaß, diesen Zwang, durch dieses zwanghafte Vergnügen hindurch – was herrscht da über dich?
Sein Blutkreislauf hatte sich gestern zwar schnell wieder normalisiert, doch war er dann so erschöpft, so kaputt gewesen, dass er ausser etwas zu essen zu nichts mehr in der Lage war und gegen halb acht sich schon ins Bett gelegt hatte. Und jetzt, nach kaum zwei Stunden im Deep Space – es ist noch immer stockdunkel draussen –, ist er schon so müde, dass er beschliesst, sich wieder hinzulegen und weiterzuschlafen.
Bevor er den Rechner zuklappt, hält er inne. Soll ich mal wieder versuchen, Schells Bureau zu öffnen? Er widersteht. Ist es überhaupt noch eine Versuchung? Das Widerstehen fällt ihm inzwischen leicht. Ist mir schon zur Gewohnheit geworden. Oder? Wohl noch nicht gänzlich, denn er spürt, wie die Versuchung immernoch sein Herz ein wenig schneller schlagen lässt.

B.8

Frau Doktor

Da jener strenge Imperator ja nun seit längerem schon nichts mehr sagte, das heisst seine Autorität im Innern Schells offenbar aufgegeben hatte, und ihn jetzt also niemand mehr an die Tugenden des weisen Lebens gemahnte, ging Schell gelegentlich wieder, wie neulich schon erwähnt, Frau Doktor besuchen.
Als er sich dazu entschloss, nach einigen Bedenken, hatte er zunächst so oft vergeblich bei ihr angerufen, dass er schon dachte, sie sei gar nicht mehr tätig als Frau Doktor. Wobei ihm gar nicht in den Sinn gekommen war, die gleiche Dienstleistung eventuell bei einer anderen zu suchen. Es musste, wenn schon, dann diese Frau Doktor sein.
Endlich kam ein Telefonat zustande; er sagte: „Samsa hier. Erinnern Sie sich?“ Sie erinnerte sich nicht. „Gregor Samsa“, wiederholte er. „Ist noch nicht so lange her.“ „Tja, hm, Samsa … Beim besten Willen, nein.“
Das traf. Er rang um Fassung. War das möglich? Dass seine Selbstoffenbarung für sie eine solche Lappalie gewesen – – oder hatte er sie unterschätzt? Vielleicht berechnete sie, wie sehr das sein Ego ankratzte; wie nichtig, wie billig, wie verachtet er sich dadurch fühlen musste, von ihr einfach vergessen worden zu sein.
Genau das erfüllte seine Sehnsucht nach Bestrafung. Er war begeistert. Dass Heilung einen solchen Weg nehmen würde, hätte er sich nicht vorstellen können.
Als er bei ihr eintrat, erkannte sie ihn dann doch wieder: „Ach ja, der angebliche Taxifahrer. Immernoch auf dem Kafka-Trip?“

Es war Ingrun, der er diese Geschichte mit Frau Doktor zu verdanken hatte. Als damals für sie feststand, er sei psychisch angeschlagen und bräuchte unbedingt professionelle Hilfe, liess sie solange nicht nach, ihn diesbezüglich zu bearbeiten, bis er seinen Widerstand endlich aufgab. Der Psychologe, den er aufsuchte, brauchte kaum zwanzig Minuten, um festzustellen, er sei bei einer Kollegin besser aufgehoben. Auf Schells Frage, warum, war die Antwort nur ein leeres Lächeln; der Mann war sichtlich völlig überlastet. Dann die Psychotherapeutin: auch sie hatte offenbar mehr Arbeit als genug. Nach der zweiten Sitzung befand sie, dass sie durch das, was therapeutisch nötig wäre, um ihm effektiv zu helfen, ihre Lizenz aufs Spiel setzen würde. Worauf er große Augen machte; denn ein Missverständnis war hier ganz ausgeschlossen: sie spielte mit diesem Hinweis klar auf seine Sexualität an. „Soll nicht heissen, dass ich Sie abwimmeln möchte. Sicher könnten wir sehr interessante Gespräche führen, nur brächte Sie das nicht weiter.“ Worauf er sich für ihre Aufrichtigkeit bedankte, doch auch wissen wollte: „Und nun?“ Da sagte sie, er könne es ja mal mit „Frau Doktor“ versuchen und schrieb ihm eine Telefonnummer auf.
Zu diesem Zeitpunkt hätte er den therapeutischen Weg einfach abbrechen können, denn mit Ingrun, deretwillen er ihn eingeschlagen hatte, war es da gerade zum endgültigen Bruch gekommen. Doch inzwischen hatte er das Gefühl, dass er tatsächlich professioneller Hilfe bedurfte.

An ihrer Haustürklingel stand Maya Maier. „Frau Doktor“ war quasi ihr Künstlername. Die Wohnung im obersten Stock eines Altbaus war nichtssagend, und obwohl das Zimmer, in dem sie ihn vor einem Schreibtisch Platz zu nehmen hiess, offensichtlich wie eine typische Arztpraxis wirken sollte, war doch auf Anhieb klar, dass hier nicht Schulmedizin praktiziert wurde. Sehr gut erinnerte er sich noch an diesen ersten Termin. „Was haben Sie mir zu bieten?“, hatte sie ihn gefragt. Worauf ihm nichts besseres als „Mein Geld“ eingefallen war.
Die Haltung, in der sie ihm schon damals begegnete: streng, abweisend und genervt, hatte sich nie geändert, höchstens dass sie sich mit der Zeit intensivierte.
„Ich bin an Sie, äh, überwiesen worden sozusagen. Aus der Psycho-Ecke.“
„Bringen Sie eine Diagnose mit? Irgendeinen pathologischen Befund?“
Er schaute sie nur groß an.
„Sehen Sie, ich komme da ins Spiel, wo einer soweit von der Bahn abgekommen ist, dass Psychotherapie nichts mehr bringt. Sind Sie zum Beispiel so etwas wie der Weltherrscher?“
„Der Weltherrscher? Aber ganz im Gegenteil! Ich bin eher der Käfer, oder genauer: die Schabe, die Kakerlake. Ich heisse quasi Gregor Samsa. Sicher kennen Sie diese berühmte Geschichte von Kafka.“
Die Verwandlung. Alles klar, Herr Samsa. Derselbe Komplex, Omnipotenz, nur die andere Seite: Impotenz. Nehmen wir das erstmal als Diagnose.“
„Das geht ja richtig schnell bei Ihnen!“
„Klar, kostet ja was. Oder spielen die Kosten für Sie keine Rolle? Dann könnten wir uns Zeit lassen. Was machen Sie beruflich?“
„Bin Taxifahrer.“
Eine ihrer Augenbrauen zuckte in die Höhe. „Glaube ich nicht. Aber egal. Auch Lügen sind für die Anamnese sehr informativ.“
„Ist aber keine Lüge.“
„Dann eben eine Halbwahrheit, noch schlimmer. Haben Sie ein Hobby?“
„Wenn ich jetzt sage: Schreiben –“
„Dann ist das die zweite Halbwahrheit. Denn garantiert ist Ihnen das Schreiben wichtiger als der Taxi-Job. Verplempern wir nicht Ihre Zeit, Herr Samsa. Konzentrieren wir uns auf die Wahrheit. Und damit wir uns nicht missverstehen: Ich bestrafe. Das heisst, es geht nicht lustig zu bei mir.“
Sie führte ihn ins Zimmer nebenan, und hier sah es so aus, wie man es sich bei einer Domina vorstellt. Ersparen wir uns Einzelheiten; der Gesamteindruck löste bei Schell jedenfalls den Impuls aus, sich umgehend zurückzuziehen.
„Der Strafraum?“, versuchte er zu scherzen.
„Wie gesagt, es geht nicht lustig zu bei mir; nicht geil, könnte ich auch sagen. Ziehen Sie sich aus, Samsa, und zwar ganz. Was jetzt kommt, nenne ich peinliche Befragung.“
So fand er sich auf den Knien wieder, splitternackt, die Augen verbunden, mit nach den Seiten ausgebreiteten Armen an ein Gerüst gekettet, und dachte nur: Unglaublich! Und jede Menge Schweiss rann ihm kalt an den Flanken herunter.
„Fühlen Sie sich wohl?“
„Nein! Nehmen Sie mir wenigstens diese Augenbinde wieder ab!“
„Erst wenn Sie in Panik geraten. Zuvor aber machen Sie sich bitte klar, dass Sie sich freiwillig in diese Situation begeben haben. Also nochmal: Fühlen Sie sich wohl?“
„Kein bisschen!“
„Warum ist dann Ihr Penis bis zum Geht-nicht-mehr erigiert?“
„Weiss ich nicht!“
„Das aber will ich von Ihnen wissen. Oder anders gefragt: Warum sind Sie hier?“
„Meine Ex, die hat mir das letztlich eingebrockt, die wollte unbedingt, dass ich in Therapie –“
„Ex? Seit wann Ex?“
„Seit sie mich neulich rausgeschmissen hat. Wir sind jetzt endgültig – fertig miteinander. Falls Sie mich fragen, ob ich froh darüber bin – nein.“ Plötzlich war ihm klar: ja, er wollte Bestrafung, und er war gerade dabei, sie sich zu verdienen; und hatte gar keine Skrupel, sich dazu diese Trennungsgeschichte zunutze zu machen. Das fände Ingrun sicherlich verzeihlich, dachte er. „Es hätte nämlich“, fuhr er fort, „gut laufen können mit uns, wenn ich nur etwas mehr – oder weniger – ach, egal, habe da jedenfalls noch Gewissensbisse irgendwie –“
„Und so weiter und so fort. Dass Ihnen diese Trennung tatsächlich zu schaffen macht, mag sein, nur bin ich nicht für das Kurieren von Gewissensbissen zuständig; ich kann Ihnen höchstens Gründe für neue Gewissensbisse verschaffen.“
Jetzt rechnete er mit Aktion; damit, dass sie zuschlug oder so etwas, und lauschte angestrengt. Doch sie sprach ruhig und kühl einfach weiter: „Wenn ich richtig verstanden habe, sind Sie an mich gekommen, weil die Frau, die Sie diskriminierenderweise meine Ex nennen, Therapie für Sie wollte. Womit sie hier genau diese Bedeutung hat, und basta. Ende dieser Alibi-Geschichte – und übrigens auch dieser heutigen Sitzung.“
Als er wenig später, wieder angezogen, aus dem „Strafraum“ ins „Sprechzimmer“ trat – Frau Doktor saß am Schreibtisch und machte sich Notizen – wusste sie offenbar, dass er auf jeden Fall einen nächsten Termin wollen würde, und sagte nur: „Nächste Woche, selber Tag, selbe Uhrzeit. Bezahlung auch künftig immer cash und vorab.“

Die darauffolgende Nacht war unruhig, ja nahezu schlaflos gewesen. Die Diagnose Impotenz hatte ihm zu schaffen gemacht. Warum hatte er davon selber noch nichts bemerkt? Da musste ihn erst diese völlig Fremde unter die Lupe nehmen, eine Domina. Und wie verblüffend, dass sie ihn gar nicht mit der Peitsche oder mit sonst etwas traktiert hatte; das taten doch wohl Dominas normalerweise. Und noch viel verblüffender, wie gut er sich danach gefühlt hatte, nämlich regelrecht wie ausgeputzt.
Impotenz ist Chiffre, klar. Doch was chiffriert sie?, fragte er sich. Was zwingt sie mich zu dechiffrieren? Ein Unvermögen, klar, doch welches Unvermögen? Und warum will ich Bestrafung?
Denn er wollte bestraft werden, soviel war klar; wenn es auch nicht gerade die Peitsche war, die er wollte.
Beim nächsten Mal hatte er gleich gefragt: „Wenn ich nach Bestrafung verlange, ist es denn dann wirklich Bestrafung? Wenn ich doch sogar Geld dafür bezahle?“
„Das ist zwar rational, aber auf falsche Weise rational gedacht. Wenn irgendwas der Vernunft folgt, dann das Emotionale; nur dass das unser pseudo-rationaler Tagesverstand, weil er’s nicht versteht, irrational findet. Und jetzt: ausziehen und auf die Knie!“
Nur ausnahmsweise ging das so schnell. Für gewöhnlich musste er sich den Akt hinten im Strafraum erst vorne im Sprechzimmer mühsam verdienen.
Wenn es gut lief, erreichte er schnell mit dem, was er vorne beichtete, dass er anschliessend im Strafraum nackt, gefesselt und blind vor dieser mysteriösen Frau Doktor kniete und alles aussagen musste, durfte, was ihn beschämte; auch sehr Beschämendes, und zwar soviel davon, bis keinerlei sexuelle Erregtheit mehr an ihm festzustellen war.
Doch oft dauerte es lang, bis die Beichte genügend Anlass zur Bestrafung bot, und manchmal schaffte er es gar nicht, dann musste er leider unbestraft abziehen oder besser: wirklich bestraft; unbefriedigt, und natürlich sauer, wenn nicht sogar wütend.
Die ersten Male hatte er sich auf die Darstellung seiner seelischen Not vorzubereiten versucht. Doch da vor lauter Aufregung ihm nie, wenn es dann losging, noch irgend etwas davon einfiel, hatte er das bald aufgegeben.
Um einiges länger brauchte er dazu, die Augenbinde zu akzeptieren. Immer wieder bat er Frau Doktor, sie ihm endlich abzunehmen, mit dem schwachen Argument zum Beispiel: „Ich will sehen, was Sie machen.“
„Sie stellen sich doch irgend etwas vor. Und darum geht’s hier, um Ihre Illusionen.“
„Aber womöglich zeichnen Sie auf, filmen mich …“
„Sie meinen, weil das so wahnsinnig interessant ist, was sie in nacktem Zustand erzählen? Da kann ich Sie beruhigen: was Sie ach so beschämend finden, ist der reinste Witz. Aber natürlich haben Sie Angst, mir durch das, was ich vielleicht aufzeichne, ausgeliefert zu sein – nur wollen Sie sich mir doch ausliefern!“
Ja. Ja! Ja!! – „Ehrlich gesagt –“
„Befürchten Sie, ich könnte Sie damit erpressen.“
Er musste erst abwarten, bis sich sein Herzrasen soweit beruhigt hatte, dass er wieder sprechen konnte. „Das stimmt, das befürchte ich.“ Und als seine Gedanken aufhörten, sich zu überschlagen: „Andererseits, Sie müssen wissen – irgendwie ist mein gesamtes Bewusstsein sowieso eine Art Experiment unter automatischer Dauerbeobachtung. Ich studiere meine Anpassung an die Überwachungskultur. Die sozusagen neurotechnische Perspektive.“
„Aha, da kommen wir der Sache endlich näher.“
„Sie meinen: der Entschlüsselung?“
„Von mir aus. Ist es das, was Sie hier erwarten? Entschlüsselt zu werden?“
„Auch. Aber eigentlich erwarte ich Heilung, wenn ich ehrlich bin.“
„Wenn, ja, wenn Sie ehrlich sind. Heilung davon? Von der Lüge? Oder wovon? Das wär’s ja schon, was Heilung hiesse: das herauszufinden.“
„Nun ja, davon zum Beispiel, mein Heil zu suchen mittels einer Dienstleistung wie der Ihren. Denn ist das nicht echt verkorkst? Nicht sogar richtig pervers? Denn heisst das nicht, Heilung zu spielen? So als sei deren Notwendigkeit nur fiktiv, die Not eigentlich nur eingebildet.“
„Ach, ist sie das gar nicht? Das ist nun wirklich ein hoher Grad an Leichtfertigkeit; sodass ich mich fragen muss: Ist das dummdreiste Abgebrühtheit oder wahre Naivität?“ Sie hielt inne. „Unschuld gar? Das ist die Frage, Samsa. Vielleicht sind Sie ja unschuldig. Das würde erklären, warum hier nichts läuft.“
Nichts läuft? Die hat Nerven. Damit will sie mich anstacheln. Dass ich preisgebe, was noch gar nicht – was ich mir erst ausdenken müsste! Weil sie nämlich ihre Dienstleistung tatsächlich zur Erpressung benutzt! Worauf habe ich mich eingelassen? Wenn sie mich als psychisch instabil einstuft, als paranoid, und dabei auch noch als sittlich enthemmt, und Beweise dafür hat – dann bin ich richtig in Gefahr.
Etwas berührte seine linke Brustwarze. Eine Fingerspitze? Dann ihre Stimme aus nächster Nähe: „Wünschen Sie, dass ich mich ausziehe?“ „Ja.“ Es waren zweifellos ihre Fingerspitzen, die jetzt leicht an seiner Brustwarze zogen. „Und Sie liebkose? Wünschen Sie das?“ Sie zog fester. „Äh. Ja!“ Und noch fester, sodass es zu schmerzen begann. „Was sehe ich denn da, Samsa? Das wird ja jetzt fürchterlich hart da unten!“ „Nun ja, Frau Doktor …“ Sie zwirbelte nun seine Brustwarze so fest, dass er die Luft anhielt; die Zähne zusammenbeissen musste, um nicht zu ächzen. „Ich darf mich ausziehen und Sie liebkosen?“ Er machte „Ufff“ und brachte ein „Ja“ hervor. „Dass ich das nicht tue, muss Ihnen Strafe genug sein für heute.“ Sie liess los; nahm ihm die Augenbinde ab, entkettete seine Handgelenke und sagte mit einem kalten Blick auf ihn herab: „Sie haben noch fünf Minuten hier, und mehr brauchen Sie bestimmt nicht.“ Als er sie darauf ratlos anblickte, gab sie mit dem Fuß der Schachtel Papiertücher, die da am Boden lag, einen kleinen Schubs in seine Richtung, dann ging sie hinaus.
Hatte er sich jemals so gedemütigt gefühlt? Sein Herz kam ihm vor wie auf etwa Walnussgröße zusammengezogen.

An ihrem Äusseren war nicht viel, was dem Klischee der Domina entsprach. Eine kleine, schlanke, eher unscheinbare Person, an der alles nur Nüchternheit signalisierte: kein Make-up; das dunkelblonde Haar in simplem Pagenschnitt; die stets weisse Bluse hochgeschlossen; die eng tailliert geschnittenen Hosenanzüge in entweder Grau- oder Blautönen. Was ihr dabei jedoch die dominante Ausstrahlung verlieh, sowie den Eindruck aussergewöhnlicher Beherrschtheit erweckte, war ihr gleichbleibend kühler unberührter Blick und ihre raue Stimme, die sie recht leise, aber sehr akzentuiert, sehr bewusst gebrauchte.
Eine Maske, zweifellos; die allerdings perfekt saß. So oft er auch darin forschte, ob es nicht mal ein Anzeichen dafür gab, dass es sie vielleicht anstrengte, diese Maske aufrechtzuerhalten, nie wurde er fündig.
So wie sie am Anfang ihm die Trennung von Ingrun als bloßes Alibi entlarvt hatte, so zeigte sie ihm nach und nach, dass überhaupt alle Gründe, die ihm bisher eingefallen waren, um sich ihre „Bestrafung“ zu verdienen, nur Alibis waren. Sodass er zunächst dachte, dass es wohl im Grunde nur um etwas sexuelles ging. Bis ihm dann irgendwann aufging, dass das Sexuelle insgesamt ein vorgeschobenes Thema war. Dahinter verbarg sich – Reue. Eine Reue, die er in den letzten Jahren immer stärker empfand, und zwar bezüglich jener alten Mayer-Tong-Sache. Das war etwas, das er schon lange wusste, aber nicht hatte wissen wollen: nämlich dass er systematisch seine Vorstellungskraft missbraucht hatte.

Dazumal, in den 1990ern, als das Internet noch nicht annähernd die heutige Ausdehnung gehabt hatte, war er eines Nachts wie zufällig auf dieses Angebot im Netz gestoßen:
Du schreibst literarische Texte und möchtest davon leben? Und es kommt dir nicht darauf an, Bücher zu veröffentlichen? Dann werde Teil eines Autoren-Kollektivs, das unter dem Namen Mayer-Tong das Internet in einen Roman verwandelt.
Wie bitte? Das Internet in einen Roman verwandelt? Welch grandiose Idee! Und nicht nur, dass er dieses Angebot verlockend fand, vielmehr schien es wie geradezu gemacht für ihn; sodass er keine Sekunde gezögert hatte.
Die eine Bedingung war diese: Du bleibst anonym und überlässt deinen Output komplett dem Mayer-Tong-Kollektiv zur freien Verfügung.
Die zweite Bedingung: Für die Kommunikation mit anderen Autorinnen und Autoren des MTK benutzt du ausschliesslich das interne MTK-Forum.
Die dritte und letzte Bedingung betraf das Mindestvolumen des monatlichen Output; eine akzeptable, ja locker zu bewältigende Menge, wie er fand.
Um die Summe zu errechnen, die dir das MTK für deinen finanziellen Bedarf pro Monat zukommen lassen wird, beantworte hier wahrheitsgemäß die folgenden Fragen zu deiner wirtschaftlichen Situation
Und er hatte sofort die Antworten geschrieben, wahrheitsgemäß.
Wähle ein Alias und klicke Anmeldung. Der Code, den du erhältst, gewährt dir Zugang zum MTK. Das Alias bleibt dein Passwort für das Forum.
Er hatte „Dubman“ gewählt und sich angemeldet; dann erschrocken in die Luft geglotzt – und jetzt? Was jetzt eigentlich schreiben? Was nun liefern? Ständig, jeden Monat, ab jetzt? Und was, wenn ich nicht liefere?
Doch zu spät, da kam schon der Code, mit der Zeile:
MTK Mission Control heisst den neuen Mayer-Tong herzlich willkommen!

War das Arbeit gewesen? Eher war es ihm wie ein Spiel vorgekommen: Du hast die Freiheit, was fängst du damit an? Vermassel ihn dir nicht, diesen Idealzustand!
Den Druck, der da entstand, hätte er sich nie vorstellen können. Ist das womöglich ein Psycho-Experiment?, hatte er sich gefragt. Bin ich hier das Versuchskaninchen? Egal, du weisst es nicht. Spiel einfach. Schreib irgendwas. Und was war näherliegend, als den Schriftsteller zu spielen? Immerhin hatte er schon einiges geschrieben, ja werkelte bereits an so etwas wie einem Roman herum. Nun aber lief da nichts mehr. So oft er sich Schreib irgendwas! befahl, so oft überkam ihn vor dem leeren Bildschirm einfach Lähmung.
Wie seine Schriftsteller-Karriere mit einer Schreibblockade beginnen? Und es ergab sich ihm die Antwort: Genau das ist der Anfang einer wunderbaren Komödie. Jetzt brauchst du nur noch dafür zu sorgen, dass sie turbulent wird. Und warum dazu nicht auf bewährte Klischees zurückgreifen? Er kaufte sich eine mechanische Reiseschreibmaschine, wechselte ständig den Ort, liess sich von entspannenden Substanzen helfen, in komödiantische Stimmung zu kommen, und lebte sich in eine Doppelrolle ein: war einerseits der Konstrukteur einer sinistren Weltverschwörung und andererseits sein Agent, als der er fortwährend das Bösgewollte heimlich ins Gute umzubiegen suchte. Und mit der Zeit, natürlich, wurde das Experiment zur Normalität, das Fischen im Trüben zur Gewohnheit, die Schreibblockade zum Pro-forma-Problem und das Ganze insgesamt für ihn zu einem großen Spaß.
Immer aber war etwas daran ihm fragwürdig geblieben, unheimlich, etwas, das in gewissen dunklen Stunden das Ganze verkehrt erscheinen liess, insbesonders wenn ihm nichts einfiel, wenn vor lauter Du musst jetzt aber! nicht das kleinste Fünkchen von Inspiration zu ihm durchdrang. Da kam es ihm sogar manchmal so vor, als liefe dieses Arrangement mit dem Kollektiv im Grunde auf eine Art Verpflichtung zu geistiger Onanie hinaus. Nicht um eines Inhalts willen zu produzieren, sondern bloß um dich an der Produktion selbst zu berauschen, das, so sagte er sich nicht nur einmal, führt den Sinn des Schreibens ad absurdum, und dir dessen bewusst es trotzdem tun, das korrumpiert dich.
Ja, so fühlte er sich in jenen dunklen Stunden, in denen er sich selbst befragte: korrupt; und kam so immer wieder zu dem Schluss: Beende diese Korruption, steig aus und fang neu an – denn das Mayer-Tong-Kollektiv war kein Zwangssystem, auszusteigen war jederzeit eine Option –; oder mach weiter so, aber dann genieße es auch! Und lange, allzu lange, war er bei letzterem geblieben.
Weder hatte Mission Control an dem, was er lieferte, noch er seinerseits an der finanziellen Vergütung je etwas auszusetzen; und wiewohl er gelegentlich mit Verzögerung geliefert hatte, war ihm stets pünktlich überwiesen worden, und zwar abwechselnd von zahlreichen Firmen, hinter denen wohl ein Netzwerk zu vermuten war. Das allerdings hatte nichts mit seinem Unbehagen zu tun; woran er vielmehr mit einem so unguten Gefühl zurückdachte, war das, was er geliefert hatte. Das nämlich, mit einem Wort, war Schund gewesen.

Das war das eine, all dieser Schund, den er dazumal geschrieben hatte; und was nun hinzu kam, sein Gewissen zusätzlich beschwerend, war die innere Stimme, die ihn zu dieser Zeit noch im Geiste des alten Marc Aurel ständig fragte: Was soll das mit Frau Doktor? Diese bewusste Verderbtheit. Dich zu stimulieren, indem du dein Schamgefühl missbrauchst. Die Lust des Alleinherrschers, sich zu einem Insekt herunterzuschrumpfen, sich zur Kakerlake zu machen, und dafür auch noch teuer zu bezahlen – was soll das?
Ich weiss, die schiere Perversion, so hatte er sich trotzig darauf geantwortet. Alles auszusprechen, das dämlichste, peinlichste, geschmackloseste, erniedrigendste: dieser ungeahnte Exzess ist ein Vergnügen, das aufs strengste bestraft gehört, jawohl, und natürlich muss ich dafür bezahlen, und gern bezahle ich! Doch allerdings ist zu bezweifeln, dass Frau Doktor das gewaltige Maß an Verachtung, das ich dafür verdiene, überhaupt je aufbringen wird.
Worauf dem alten Imperator tatsächlich eine Weile nichts mehr einfiel.

„Uns ist inzwischen klar, was Sie zu mir führt: Ihr schlechtes Gewissen.“
„Ich bin nicht auf Absolution aus. Sondern wohl tatsächlich auf Erniedrigung. Warum?“
„Das fragen Sie? Sind Sie denn wirklich so ein Idiot, Samsa? Was sollte der Drang nach Selbsterhöhung anderes nach sich ziehen, als den Wunsch nach Selbsterniedrigung? Je unbewusster die Hochmütigkeit ist, umso krasser die Wege des Ausgleichs, ist doch wohl klar.“
Herr des Flyshwerks, hatte er da gedacht, Allwissender Kreator – Manne hat damit gar nicht gescherzt, oder es irgendwie ironisch gemeint – so komme ich mir wohl tatsächlich vor – und weiss es gar nicht!
So hatte ihm erst einmal das als besonders bestrafungswürdig gegolten: sein Hochmut und sein Größenwahn.
Dann eines Tages hatte sie verlangt: „Ziehen Sie Bilanz, Samsa.“
„Ähm. Hatte mir Sadomasochismus anders vorgestellt.“
„Hat ja damit auch wenig zu tun. Aber das wäre eine etwas dürftige Bilanz.“
„Bin immernoch schockiert, oder immer wieder; obwohl ich längst ja den entdeckt habe in mir, der das alles berechnet. Denn das Schockierende ist ja berechnet. Doch den entdeckt zu haben, diesen Berechner in mir, ist auch irgendwie heilsam.“
„Von Heilung sind Sie noch weit entfernt.“
„So schlimm ist es? Sehen Sie mich, äh, bedroht? Von Wahnsinn zum Beispiel?“
„Von Wahnsinn nein, nicht direkt. Von Manie ja, von Besessenheit.“
„Ich weiss, bin auf dem Ego-Trip.“
„Wenn Sie das wissen … Das müsste eigentlich reichen.“
„Um davon runterzukommen? Wenn ich das nur nicht ständig vergessen würde.“
„Was genau nicht ständig vergessen würden? Was genau?“
Er hatte eine Weile überlegt. Dann: „Dass wahrscheinlich alles ganz anders ist als ich denke.“
Worauf sie mit hochgezogenen Augenbrauen gesagt hatte: „Dass Sie das bloß nicht gleich wieder vergessen, Samsa.“
Die Erkenntnis, dass wahrscheinlich alles ganz anders war als er dachte, brauchte allerdings ihre Zeit, um in die Tiefe zu dringen. Die Lust daran, sich selbst zu erniedrigen, die Lust an der Bestrafung, die Lust an Frau Doktors Verachtung: erstmal war dieses perverse Gemenge nur noch schlimmer geworden, und wenn ihn auch schon nicht mehr erstaunte, dass er danach überhaupt begehrte, so erstaunte ihn immernoch, wie sehr. So sehr nämlich, dass er danach süchtig wurde und immer mehr davon brauchte. Bis er gar kein Geld mehr für etwas anderes übrig hatte und ihm der Imperator schliesslich mit äusserster Strenge Einhalt gebieten musste. Als er Frau Doktor telefonisch mitteilte, er müsse mal eine Pause einlegen, sagte sie nur: „Sehr gut, Samsa. Ich habe Sie sowas von satt.“

Die Versuchung, trotz des Verbots doch Frau Doktor wieder aufzusuchen, war umso mächtiger nun gerade durch das Verbot, sodass er sich während der ersten Wochen im Widerstehen regelrecht heroisch vorkam; und für eine ganze Weile dann noch immerhin wie ein Asket, stolz darauf, diese sich selbst auferlegte Disziplin tatsächlich durchzuhalten.
Dann war es zu dem Ereignis gekommen und die Sache mit Frau Doktor rückte in den Hintergrund. Denn da hatte ihn bald eine ganz andere Enthaltsamkeit in Anspruch genommen: die gegenüber jenem Weblog namens Schells Bureau. Und dem zu widerstehen, dieser Versuchung, es immer wieder zu öffnen und sich dem Unbegreiflichen auszusetzen, kostete ihn noch weitaus mehr Disziplin.
Wir wissen, was das Ereignis anstellte mit Schell, und was er mit dem Ereignis anstellte, und so wundert uns nicht, dass, als der Gedanke an Frau Doktor wieder aufkam, er sich zunächst gefragt hatte, ob die Vorstellung, sie aufzusuchen, überhaupt noch verlockend war, jetzt, da er gar keine Hemmung mehr verspürte. Du dürftest, sagte er sich, es ist nicht mehr verboten. Damit aber fehlt das Wesentliche. Kann das sein? Was ist das für ein Verlangen, das erlischt, wenn das Verbot, ihm nachzugeben, wegfällt? Das wollte er feststellen: ob es im Grunde das gewesen war, ein Verlangen nach dem Verbotenen, das ihn getrieben hatte. Und natürlich interessierte ihn, ob es wieder aufflammen würde, dieses Verlangen. Ein Spiel mit dem Feuer, klar, und also reizvoll; und als er da sein Herz schneller schlagen spürte, wusste er: ja, ich bin durchaus noch nicht runter von dem Trip.

B.7

Da war doch was

Von dem, was er letzte Nacht geträumt hatte, ist nicht viel übrig geblieben, doch das Wenige beschäftigt ihn noch: Eine Szene am Theater, nicht auf der Bühne, sondern irgendwo hinter den Kulissen. Sein verstorbener Vater – er war Schauspieler gewesen – hatte ihn dem „Meister“ vorgestellt und sich dann gleich zurückgezogen. Von der Gestalt erinnert er lediglich, dass sie schwarz gekleidet gewesen war, ansonsten ist ihm von diesem Meister kein konkreter Eindruck, nur dieser Rätselspruch zurückgeblieben:
Zwei sagen, sie kommen dir zur Rettung – in Wahrheit, um dich auszulöschen.
Einer sagt, er löscht dich aus – der wird dich retten.
Uns ist klar, dass das nicht ein Produkt des üblichen Traumlebens ist, sondern von einer Ebene stammt, die wir den Traumkanal nennen; und unserem Schell ist das ebenso klar. Er fasst den Spruch als eine Botschaft auf. Der Versuch sie zu entschlüsseln, war verlockend gewesen, doch allzu wahrscheinlich, so hatte er sich gesagt, würdest du sie nur missverstehen, und hatte sich also damit begnügt, sie bloß kommentarlos zu notieren.
Da war aber noch was anderes, denkt er, etwas, dass ich dringend durchdenken sollte. Nur was? Ich müsste systematisch rückwärts …
Der erste Fahrgast an diesem Tag, ein junger Mann, der zum Hauptbahnhof will, fragt, kaum ist er eingestiegen: „Was ist los? Ist der Cassettenrecorder kaputt?“
„Oh, ach ja …“ Dass er keine Musik laufen hat, ist ihm noch gar nicht aufgefallen.
you can pawn your watch and chain, but not that feel … „Tom Waits okay?“
„O ja, absolut. Danke.“

Nachdem er so lange schlecht geschlafen und so gut wie gar nicht mehr geträumt hatte, kann er sich, seit er wieder gut schläft, fast jeden Morgen an einen Traum erinnern. Und wie früher, gehören die meisten seiner Träume entweder dem „Labyrinth“ an oder der „Reise“. Beide Traumarten wirken wie gemacht, nämlich insofern sie ihm wie Fortsetzungen erscheinen; das heisst sie bilden, wenn er sie im Wachzustand in ihrer Gesamtheit überblickt, einen relativ sinnvollen Zusammenhang.
Schauplatz der Labyrinthträume ist ein riesiges Gebäude, mal ein Häuserblock oder ein Hochhaus voller Menschen, mal ein Palast, ein Schloss, ein alter Theaterbau, menschenleer; mal auch eine Art Bunkeranlage oder etwas, das wie das Innere eines Riesenschiffs wirkt; während in den Reiseträumen zwar alle Verkehrsmittel schon irgendwann vorkamen, meistens aber Eisenbahnzüge der Schauplatz sind. So wie er im Labyrinth jedesmal auf ihm neuen unbekannten Wegen herumirrt, dabei aber weiss, dass es immer dasselbe Gebäude ist, so weiss er auch über die Reise jedesmal, dass es in den wechselnden Gegenden immer dieselbe ist: die Reise, von der er nicht weiss, wohin sie geht.
Seit er begonnen hat, sich das jeweils Bemerkenswerte eines Traums in ein Notizbüchlein zu schreiben, ist ihm als eine allmähliche Veränderung seines Traumleben aufgefallen, dass es immer konkreter mit seinem Wachbewusstsein zusammenhängend erscheint. Weil er den Träumen gegenüber jetzt aufmerksamer ist? Und er fragt sich: Kann etwa meine Aufmerksamkeit bewirkt haben, dass ich neuerdings anders träume?

Da war doch was. Das fällt ihm ein, immer wieder: dass da etwas ist, über das er unbedingt nachdenken muss. Schon gestern war es so gewesen, und vorgestern: Entweder fiel ihm ein, dass da was war – dann wurde er unterbrochen und dachte nicht mehr daran; oder er hatte Gelegenheit, sich zu konzentrieren – dann aber kam er nicht darauf, dass da was war.
Jetzt, da ihm gerade wieder eingefallen ist: Da war doch was, fragt schon wieder ein Fahrgast: „Keine Musik heute?“
Mann, Schell, reiss dich zusammen! Deine Kunden wollen das Retro-Taxi wegen der alten Musik … „Reggae gefällig?“ „Na klar!“ Als er dann aber hört, was er da eingeschoben hat, murmelt er: „Maxie Priest, also das geht ja heute gar nicht“, und er greift erneut in die Reggae-Abteilung … Sly & Robby, The Adventures of a Bullet. „Das geht.“

Seit er in Schells Bureau das Kapitel Dem Machtwort auf der Spur gelesen hatte, liess sich dieser Ort nicht mehr betreten. Zunächst hiess es jedesmal, wenn er oder Freund Manne es versuchten: Vorübergehend nicht verfügbar. Sie probierten es täglich, vergebens. Dann hiess es nur noch: Zugang verweigert. Sie probierten es weiter, und weiterhin vergebens. Und schliesslich kam der Tag, von dem an jedesmal, wenn sie Schells Bureau eingaben, der Bildschirm schwarz wurde und darauf die kleine Zeile erschien: Hier ist das Internet zuende.
„Soll wohl ein Witz sein“, hatte er zu Manne gesagt.
„Ein Witz ohne Pointe? Ist doch kein Witz.“
„Weil wir ihn noch nicht kapieren. Oder weil er sich erst noch zum Witz entwickeln muss.“
„Wir haben es also mit einem Witz-Potential zu tun.“
„Aber ob man darüber auch schon lachen darf? Das wäre ziemlich unvorsichtig.“
„Doch unwiderstehlich. Wir lachen einfach unter Vorbehalt.“
„Genau, mit einer Klausel, die besagt, dass das, worüber wir heute lachen, sich eventuell einmal als völlig unwitzig erweisen könnte.“
„Was unter vorausschauendes Bereuen vielleicht mal in die Geschichte der Psychologie eingeht.“
„Aber erst, wenn aus der Psychologiegeschichte die Geschichte des Karma-Bewusstseins geworden ist.“
„Och, Schell, damit machst du uns jetzt das ganze schöne Witz-Potential kaputt.“
„Nur so wird Platz fürs nächste.“
Als er jetzt an dieses Gespräch zurückdenkt, fällt ihm ein, von wem er das hatte, was ihm damals bezüglich Karma-Bewusstsein an Stelle von Psychologie herausgerutscht war, von Mahmoud nämlich. Denn er sitzt gerade an einem Taxistand vorm Hauptbahnhof in seinem Wagen und hat plötzlich diesen sehr sympathischen iranischen Facharzt für Nierenheilkunde vor sich: in der einen Hand die Reisetasche, die andere am Hut, damit der starke Wind ihn nicht davonbläst, im Laufschritt die Straße überquerend und so offensichtlich in höchster Eile, dass leider eine auch nur flüchtigste Begrüßung hier unangebracht wäre.
So ein begeisterter Mensch, denkt Schell, wie gern ich mich mit dem mal wieder unterhalten würde … Woher er wohl was über Karma weiss?
Dass dieser einzige aus Ingruns Freundeskreis, den Schell tatsächlich vermisst, ein Wiedersehen mit ihm vielleicht absichtlich vermeidet, weil er inzwischen Schells Stelle als Ingruns Liebhaber eingenommen hat, auf diese Idee wäre er von sich aus nie gekommen. Und als er es erfährt – kaum zehn Minuten später nämlich –, wird er finden, dass es ja nur für Mahmoud spricht, wenn der bisher die Begegnung mit ihm deshalb vermieden hatte, um ihnen beiden eine Peinlichkeit zu ersparen. So etwas kann Schell gut nachvollziehen; auch wenn er selbst gar nichts daran peinlich findet. In solcher Hinsicht ist er pragmatisch eingestellt: Sollte Mahmoud besser zu Ingrun passen als er, umso besser doch für alle Beteiligten. Wobei ihm eigentlich solche Ökonomie verdächtig ist und ihm auch nicht entgeht, dass er insgeheim sich selbst für diese Art emotionaler Logistik sogar ein wenig verachtet.

Der Wind ist heftiger geworden, rüttelt jetzt regelrecht an seinem Taxi und treibt etlichen Abfall durchs Bild, Pappbecher, Tüten, ganze Müllsäcke …
Jedenfalls hatte er noch über längere Zeit besagtes Weblog zu öffnen versucht und doch immer wieder nur gelesen, dass hier das Internet zuende sei; dann immer seltener; dann nur noch alle paar Wochen. Schliesslich hatte er gedacht: Das war’s wohl, der Spuk ist vorbei; und er war froh darum gewesen.
Doch wie oft er sich das auch gesagt hatte: Schliessen wir dieses verstörende Kapitel, das Ereignis sei Vergangenheit!, so oft war ihm seitdem auch in den kleinsten, alltäglichsten Bezügen immer wieder klar geworden, dass es ihn in Wahrheit vollkommen beherrscht; dass das Ereignis, dieses große unlösbare Rätsel, zum Epizentrum seines Daseins geworden ist.
Er hat die Unlösbarkeit zu akzeptieren gelernt, und für dieses Ergebnis – wie vorläufig es auch sein mag – ist er dankbar, ja hat dabei gar ein Gefühl von Glück gehabt.
Das Unerklärliche irgendwann unerklärlich sein zu lassen, ohne darüber in Gleichgültigkeit zu verfallen; der Unlösbarkeit sich zu ergeben, ohne seinen Verstand aufzugeben, vielmehr sich selbst als denkendem Wesen gegenüber Nachsicht zu üben, ja diesen Blickwinkel, diesen eigentlich unmöglichen, weil unablässig sich bewegenden Standpunkt zu finden, das heisst als solchen überhaupt zu erkennen, und ihn, da man ihn ständig verliert, immer wiederzufinden – wer das vielleicht für ein Geringes hält, könnte es auch für überspannt halten, dass Schell sich manches Mal sogar zusammenreissen muss, damit er sich vor Euphorie nicht selber gratuliert, das heisst der Eitelkeit nicht nachgibt und irrtümlich meint, es sei allein sein Verdienst gewesen, dass er nicht den Verstand verloren hat; dass er so gut wie heil geblieben ist und sich nach alledem, ein wenig überspitzt gesagt, selber überhaupt noch wiedererkennt.
Denn das gründet sich ihm fortan unwiderleglich auf Erfahrung: Dass er, anders als er bisher gedacht hatte, gar nicht allein da draussen ist – mit da draussen meint er alles, was nicht er selbst ist, das ganze Universum –; vielmehr dass da Geist ist, guter Geist, aber auch nicht so guter, und auch unguter Geist – Geist jedenfalls, in dem und durch den er überhaupt existiert. Wenn er sich diese Einsicht auch immer wieder aufs neue vergegenwärtigen muss – da war doch was –, weil er sie immer wieder vergisst – zu groß ist sie für sein Alltagsbewusstsein –: dieses Hin und Her zwischen Erinnern und Vergessen gehört wohl, notwendig vielleicht, wie er sich sagt, zu den Bedingungen des Daseins.
Und dass sich nun auch die „Realität“ als ganz anders erweist, als er immer dachte – aber wie denn hatte er sie sich vorher eigentlich gedacht? Und wie denn, fragt er sich, denke ich sie mir jetzt? Und er horcht ganz genau hin und stellt verwundert fest – und zwar verwundert eigentlich nur aus alter Gewohnheit –: Der Gedanke Realität, in Ruhe gelassen so wie er ist, löst das in mir aus, was mir doch inzwischen längst vertraut ist als – da war doch – nein, da ist doch was. Raum der Vorstellung? Oder Raum in der Vorstellung? Vorgestellter Raum?
Hiermit ist Schell in seinem sogenannten Tautoloid, dem Ort im Raum, der zum Raum wird, in dem Orte sind. Wo der Raum, denkt er, den ich mir vorstelle, zum Raum der Vorstellung wird. Nenn es doch einfach: Stille.
Und jetzt ist er müde, sehr müde.
Er denkt: Säße ich in einem Zug und hätte einen Hut auf, würde ich mich nun zurücklehnen, mir diesen Hut über die Augen schieben und ein wenig ausruhen … Und als ihm einfällt, woher ihm gerade dieses Bild kommt, überfliegt ein Lächeln sein erschlafftes Gesicht.
Da pocht es auf der Beifahrerseite an die Scheibe und der schlanke, elegant gekleidete Herr mit dem schwarzen Schnurrbart, der da, seinen Hut in der Hand, mit zerzaustem Haar, fragend zu ihm hereinschaut, ist – Mahmoud.
Schell klopft auf den Beifahrersitz.
„Ich sah dich eben lächeln“, sagt der sympathische Nierenheilkundler, als sie sich erfreut die Hände schütteln, und mit Blick auf den Cassettenrecorder: „Vielleicht weil das grandiose Pathos von Mr. Ferry so hervorragend zu diesem Wetter passt?“
Schell drückt die Aus-Taste. „Eigentlich geht mir Roxy Music schon fast wieder auf die Nerven. Da aber alternativ gerade nur John Coltrane infrage käme … Nein. Worüber ich lächeln musste, war diese Stelle bei Proust: Wie Swann da das Vergehen seiner Liebe zu Odette erlebt; es bedauert, dass mal wieder die Wirklichkeit anders ist als er sie gern hätte; dass er auf das nicht mehr vorhandene Gefühl nicht genussvoll wehmütig zurückblicken kann wie ein Reisender vom Zug aus auf eine entschwindende Landschaft – wie aber der Autor, Proust selbst, genau das eben vermag, und sich sogar, in der Gestalt von Swann, und ach so müde als solcher, einen Hut über die Augen schieben kann, um sich bei einem Nickerchen in der imaginären Eisenbahn von den Anstrengungen des Beschreibens zu erholen.“
Mahmoud seufzt. „Unser Proust, o ja … Hat uns je einer die Komödie des Leidens so fein, so schön serviert? Jedenfalls habe ich mich völlig umsonst abgehetzt, mein Zug kommt, wenn überhaupt heute noch, mit Riesenverspätung, wegen Sturmschäden, und damit brauche ich gar nicht erst loszufahren; was für die Kollegen auf dem Kongress den großen Vorteil hat, dass mein Vortrag einfach ausfallen wird, und für mich, dass ich unverhofft zu etwas Freizeit komme.“
„Ist erst zehn Minuten her, da dachte ich, wie gern ich mich doch mit dem Mahmoud mal wieder unterhalten würde.“
„Das freut mich! Übrigens, die Nummer, die ich von dir habe …“
„Ist genauso falsch wie die, die ich von dir habe. Dacht ich mir schon, dass sie uns verarscht hat. Du glaubst mir nicht – verstehe. Warte – hier: das ist die Nummer, die sie mir gegeben hat, angeblich deine. Und die vergleiche mal mit der von mir, die du von ihr bekommen hast.“
Mahmoud, als er tat wie ihm geheissen, staunte: „Dieselbe. Das heisst … Sie hat sich vertan!“
„Jaja. Und dass die Kartons mit meinen Sachen bei dir deponiert sind, stimmt das etwa?“
„Äh, bei mir? Da ist nur immer noch das Büchlein, das du mir mal geliehen hast.“
„Ach ja, das von Cusanus, Von der wissenden Unwissenheit. Wieso gerade das?“
„Wir hatten’s damals vom Turing-Test. Wie man aus Texten herauslesen kann, ob sich da jeweils wirklich Geist oder nur simulierter Geist ausdrückt. Du kamst mit dem Beispiel, wie besonders angenehm der Geist sich zeigt, wenn er bei einem Denker wie Cusanus in Erscheinung tritt. Und du hattest recht, kann ich nur sagen. Selten dass ich etwas zweimal lese, dieses aber über die wissende Unwissenheit hatte ich schon dreimal mit im Urlaub.“
„Dann ist wenigstens dies eine meiner Bücher nicht verloren. Behalte es.“
Mahmoud streicht sich nachdenklich den Schurrbart. „Ingrun hat tatsächlich behauptet, deine Sachen seien bei mir deponiert?“
„Tja. Was erwarten wir von einer Person, die einerseits ein Schweinegeld mit Image-Beratung macht, sich andererseits mit gender studies profiliert und drittens extra nach Vancouver fliegt, um Eckart Tolle zu sehen? Ich meine, es dürfte doch für so jemanden völlig normal sein, zwei Deppen wie uns just for fun einen Scheiss zu erzählen.“
Da lacht Mahmoud. „Ein bisschen Groll ist da nicht ganz zu überhören.“ Dann wieder ernst, und sichtlich verlegen: „An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass, äh, Ingrun und ich …“
Schell glotzt ihn an. „Du? Mit Ingrun?“
„Ich sehe, jetzt rattert’s bei dir – hey, lohnt nicht; als es funkte zwischen ihr und mir, ward ihr schon längst nicht mehr zusammen.“
„Na schön, aber bei euch? – ist es noch nicht – vorbei?“
„Wie? O nein! Wir überlegen im Gegenteil sogar –“
„Zu heiraten! Das kenne ich! – Mann, Mahmoud, lieber Freund, du bist doch klug!“
„Danke. Du doch aber auch – nur kannst auch du nicht immer völlig objektiv sein.“
„Hm, hast recht, ich muss die Klappe halten. Nur überlege es dir bitte gut. Dass Ingrun power hat, weisst du – aber dass sie auch Nachtwandlerin ist? Du kannst nie wissen, ob sie gerade wach ist oder träumt.“
„Nun hör aber auf! Das ist Manipulation.“
„Zum Glück bist du Arzt, das wird den Notfall dann hoffentlich etwas abfedern.“
Worauf Mahmoud kichert, die Play-Taste drückt, sodass Bryan Ferry weitersingen kann, und befiehlt: „Bring uns hier raus. Kurs auf einen Laden, in dem wir anständig zu Mittag essen können.“

Schell hatte Uschi angerufen und gemeldet, es flögen inzwischen beträchtlich große Dinge durch die Gegend, auch Baumkronen zum Beispiel, daher habe er den guten alten Daimler in einem Parkhaus untergebracht und sich in ein Restaurant zurückgezogen.
Mahmoud kommt wieder auf Ingrun zu sprechen. „Das mit Vancouver, ist das wahr?“
„Na klar. Sie wollte unbedingt Herrn Eckart Tolle exklusiv. Klappte natürlich nicht; man braucht ihm ja nur zuzuhören, oder ihn zu lesen. Aber tatsächlich machte sie ihn quasi für den Fehlschlag verantwortlich; und fortan war er für sie gestorben.“
Mahmoud’s Versuch, das amüsant zu finden, fällt wenig überzeugend aus. „Ich denke, du übertreibst. Weil du noch immer sauer auf sie bist. Verständlich, da du glaubst, dass sie deine Sachen einfach hat verschwinden lassen.“
„Glaub ich nicht nur – hat sie. Aber deswegen grolle ich ihr gar nicht, bin ja sogar dankbar, den ganzen Krempel los zu sein. Höchstens vermisse ich mal das eine oder andere Buch, auch das ist aber halb so wild; was ich in meinem Gedächtnis nicht wiederfinde, war für mich wahrscheinlich sowieso nicht wichtig.“
„Aber sicher liest du noch. Wo bist du da gerade?“
„Bei Schelling. Lese zur Zeit nur noch in der Bibliothek. Ach ja, und suche gerade eine Reiselektüre. Freunde von mir finden, ich sei gestresst; von was, ist eine lange Geschichte, erspar ich uns lieber; ich müsse jedenfalls unbedingt mal ausspannen, verreisen; Problem ist: Wohin?“
„Das ist natürlich schwierig. Aber macht Spaß, hoffe ich doch.“
„Das Ziel richtet sich ganz nach der gesuchten Lektüre, diese jedoch hängt vom Ziel der Reise ab – komisch ist das irgendwie.“
„Wenn ich das auf Diagnose und Therapie übertragen würde, o je …“
Sie denken kurz darüber nach; schütteln dann beide den Kopf, und Mahmoud sagt: „Die Welt wäre eine völlig andere.“
„Man würde unsere Organe unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachten, die Nieren zum Beispiel … Gibt’s da übrigens irgendwas neues?“
„Darüber würde ich heute Nachmittag in Berlin sprechen, wenn ich jetzt im Intercity säße. Wie brennend interessiert dich, was an Rückschlüssen die klinische Forschung zur Zeit über das Treiben gewisser Moleküle zulässt?“
„Was an der Nierenforschung fürs Big Picture relevant ist, interessiert mich allemal, schliesslich trage ich selber ein Paar dieser Wunderwerke im Leib. Das heisst, was den Aspekt Mikrokosmos/Makrokosmos angeht – und der scheint mir doch gerade in puncto Medizin der wesentlichste zu sein –, Nierchen hier drinnen, Planeten da draussen –“
„Ach, Schell, du weisst genau, besonders dafür haben wir in der Uniklinik gar keine Zeit. Aber natürlich darfst du mich gern provozieren.“
„Du hast nur keine Lust, einen Laien ausserhalb der Sprechzeiten nephrologisch aufzuklären.“
„Oder bin jetzt dazu nicht in der Lage. Weil ich gerade nicht ganz bei der Sache bin. Weil ich mich frage, was ich da an dir wahrnehme – ich meine, Stress ist nicht das richtige Wort; eine lange Geschichte, sagtest du.“
Schell schaut aus dem Fenster. Das Restaurant ist voll besetzt und alle schauen hinaus. Der Sturm erzeugt ungeahnten Lärm, heult, braust, pfeift und lässt es krachen, und die Sirenen von Feuerwehr- und Rettungswägen schwellen unablässig an und ab.
„Und in wiefern Ingrun was damit zu tun hat, frag ich mich“, fährt Mahmoud fort.
Schell nickt gen Fenster. „Damit? Sie mag wohl mächtig sein, aber dass sie auch das Wetter so krass beeinflussen kann, glaube ich nicht.“
„Dass du wie eh und je zum Scherzen aufgelegt bist, beruhigt mich. Doch dass du kein anderes Problem hast als Wohin-in-Urlaub, das nehme ich dir nicht ab. Vielmehr möchte jetzt der Nephrologe gerne wissen, was dir tatsächlich so an die Nieren geht.“
Unmöglich. Wie das mal kurz erzählen? „Kennst du das Gefühl, gleich kommt’s? Ich meine, immerzu, ohne aber dass es dann kommt?“
„Du sprichst von der Erkenntnis.“
„Von der, genau. Nicht von irgendeiner, sondern von der für mich einzig wahrhaft wichtigen. Der Erkenntnis, was tatsächlich real ist.“
„Aber sie kommt nicht …“
„Doch. Sie kommt und kommt und kommt.“
„Hört nicht auf zu kommen … Au weia.“
Schell bemerkt da ein Vibrieren; holt das Handy aus der Hosentasche – kurze Nachricht von Frau Doktor: 17 Uhr, heute.

B.6

Ein Spiel?

Neulich, als ich anlässlich meines Geburtstages mit Freunden in einem Cafe beim Frühstück saß – ein paar Wochen bevor die Corona-Pandemie eine weltweite Zivilisationskrise auslöste –, wurde mir die Frage gestellt, wann es endlich in Schells Bureau etwas neues gäbe. Worauf ich mich zu meiner Überraschung sagen hörte, dass ich im Zweifel sei, ob es überhaupt so weitergehen kann; dass es mir so, wie ich bisher erzähle, viel zu langsam vorwärts geht; dass ich meine Erzählweise wohl würde ändern müssen; dass ich aber die drei Erzählungen, die da laufen, noch zu einem gewissen Punkt führen wolle, und dann
Und dann?, frage ich mich jetzt: Wieso eigentlich und dann? Auf was warte ich denn? Was hindert mich, jetzt gleich mein Vorgehen zu ändern?

Ich empfehle ja der Leserschaft, sich bei jedem Eintritt in Schells Bureau aufs neue zu fragen: Wo sind wir hier? Um sich auf die Aufmerksamkeit aufmerksam zu machen. Bemerken, dass ich bemerke: nichts anderes heisst ja bewusst zu sein.
Aber frage ich mich selbst eigentlich noch, wenn ich hier eintrete, wo ich bin? Nein, ehrlich gesagt. Und nun, da ich mir diese Frage wieder einmal stelle, muss ich zugeben, wo ich hier bin, weiss ich im Moment tatsächlich nicht. Mir ist wie in einem Gespräch, wenn man an einen Punkt kommt, wo man bemerkt, dass man den Faden verloren hat und sich fragt: Wie sind wir denn jetzt darauf gekommen?, und von da aus rückwärts den Gesprächsverlauf zu rekonstruieren beginnt.

Aufgewacht mit der Vorstellung, dass die Kopfschmerzen, die ich morgens hin und wieder habe, von dem Ding herrühren, das in mir ist; einem winzigen Apparat, einer Art Mini-Chip. – Wie bitte? Schwachsinn! – Na gut, nicht in mir direkt, sondern in H-Schell, als der ich in Frankfurt eine Art Leben als Taxifahrer führe. – Okay, fiktiv also. Du bist fiktiv irgendwie gechipt. Hast du geträumt. – Wahrscheinlich ja: geträumt; bin jedenfalls damit aufgewacht. – Hast dich in deine Romanfigur, in diesen H-Schell, so eingelebt, dass du auch seine Träume kennst, wenn nicht sie sogar selber träumst. Und offenbar ist dieser H-Schell Paranoiker. Fragt sich: Kann man paranoid träumen, ohne Paranoiker zu sein? – So kann man fragen, klar; oder auch gleich den Verdacht äussern: Du fühlst dich wohl verfolgt? Doch das führt zu nichts gutem, denn Paranoia, als Verfolgungswahn verstanden, ist ein Kampfbegriff, den als Argument jeder gegen jeden ins Feld führen kann.
Fragen wir anders: Wie teilst du etwas mit, das deshalb geheim ist und auch geheim bleiben muss, weil es im Klartext auf jeden Fall nur missverstanden werden kann? – Indem ich für das Geheime eine Form der Mitteilung wähle, mittels derer das Geheimnis gewahrt bleibt.
So hat es zum Beispiel Stanley Kubrick dazumal mit seinem letzten Film Eyes Wide Shut gemacht. Er konnte sicher sein, dass alle, die von Berufs wegen dem Publikum solche Werke erklären, etwas darüber sagen können; dass niemand aber vermag, oder es wagt, in akzeptabler Weise auszusprechen, was uns da – wide shut verschlüsselt – wirklich mitgeteilt wird. Diese Methode, Geheimes durch das Offensichtliche gleichzeitig zu verbergen und mitzuteilen, Steganografie genannt, ist die bewährteste und daher weitest verbreitete Art von Verschlüsselung, nehme ich an.

Hier, in der Abteilung „Bureau“, hat unser H-Schell es zuletzt mit einem Gangster namens Habib zu tun bekommen und lange genug habe ich nun schon darüber gerätselt, was der wohl von ihm will …
Wir sehen Schell in jener Spielothek am einen Ende des Tresens sitzen, am anderen den jungen Araber, der ihn vorhin hierher beordert hat. Niemand sonst da, wie Schell bemerkt, sobald sich seine Augen an die dunkelviolette Schummerbeleuchtung gewöhnt haben. Die Automaten ringsum blinken und zwitschern monoton vor sich hin.

Neulich war dieser Habib zu ihm ins Taxi gestiegen mit den Worten: „Du bist Schell, richtig?“ Worauf Schell nickte, nur darauf bedacht, weder Erstaunen noch Neugier zu zeigen. „Du bist auch im Spiel, hab ich gehört.“ „Keine Ahnung, was Sie meinen. Wohin soll ich Sie fahren?“ „Egal. Fahr los. Du hast vor ‘ner Zeit doch am Bahnhof mal so’n Ding aus ‘nem Schliessfach geholt.“ „So’n Ding?“ „’ne kleine Comic-Figur. Azuma. Den König.“ „Ist schon eine Weile her. Wieso wissen Sie das?“ „Ich bin Habib. Das Spiel läuft schon lange, und ich bin schon lange dabei. Irgendwie haben sich aber die Regeln verändert. Man kapiert sie nicht mehr.“
Schell war losgefahren. „Habib. Okay. Was habe ich mit den Regeln eines Spiels zu tun, das ich gar nicht kenne?“ „Wir haben recherchiert. Was nicht leicht war. Und das Ergebnis wurde gründlich überprüft. Demnach steht fest, dass die Regeln sich geändert haben, seitdem du das Ding aus dem Schliessfach geholt hast.“ „Aha. Und ist das gut? Oder nicht so gut?“ „Die Regeln nicht mehr zu kapieren, finden wir nicht so gut. Das ganze Spiel ist undurchschaubar geworden.“ „Warum es dann nicht einfach aufgeben?“ „So ein Spiel ist das nicht, Mann.“
Und dann hatte ihn Habib über folgendes aufgeklärt: Sein Informant (er nannte ihn den IT) war auf jenes Weblog namens Schells Bureau gestoßen; hatte sich daraufhin in die Videoüberwachung des Hauptbahnhofs gehackt und tatsächlich die im Blog geschilderte Sequenz bei den Schliessfächern gefunden.
Man wusste also – wer man auch immer war –, dass das, was darüber in Schells Bureau geschrieben stand, real stattgefunden hatte. Seitdem glaubte man, dass Schell in besagtem Spiel eine Schlüsselrolle inne hatte.
Ausserdem wusste man aus diesem Blog genug über Schell, um ihn aufspüren und observieren zu können. Und nachdem man das lange genug getan hatte, war man zu dem Schluss gekommen, dass Schell offenbar ahnungslos war, was das Spiel, und erst recht was seine Schlüsselrolle darin anging.
Da hatte Schell schon das Taxi angehalten; hatte noch höflich zugehört; und nun stellte er klar, dass er nichts mit alledem zu tun haben wollte, und forderte diesen Habib freundlich auf, doch bitte auszusteigen.
Natürlich aber hatte ihn die Sache aufgewühlt. Da hatte er sich doch gerade erst wieder so schön stabil gefühlt, und nun ging das alles wieder los …
Inzwischen allerdings hatte er seine Gedanken schon soweit unter Kontrolle, dass er ihnen rechtzeitig, bevor der innere Tumult ausbrach, einen Punkt setzen konnte (wie, wissen wir ja schon: indem er sich das Machtwort sagte). Und so wirkte es geradezu beiläufig, wie er dann Manne von der Begegnung mit Habib erzählte.
„Habe ich das nicht immer wieder gesagt? Dass dieses Spiel realer ist als wir’s uns vorstellen?“ Manne meinte damit ein Online-Spiel, über das er seit geraumer Zeit Nachforschungen anstellte; welches seiner Ansicht nach eine Art Metapher sei beziehungsweise ein Programm zur Einübung eines ganz anderen Spiels, Flysh genannt, das in der Realität ablaufe. Das nämlich war Mannes Theorie, die das Ereignis erklärte und die ihm inzwischen zur Überzeugung geworden war – an die Schell allerdings immer noch nicht glauben mochte –: dass jener Ort im Internet, Schells Bureau, die Plattform sei zur Koordination dieses in der Realität laufenden Spiels. Viele spielen es, so vermutete er, aber nur ein paar wenige machen es.
„Das Spiel, von dem dieser Habib redet, ist also dein ominöse Flysh-Ding, meinst du?“ „So ist es. Nur dass es nicht so sehr mein, sondern eher unser, genauer: dein ominöses Flysh-Ding ist.“
Und als gleich tags darauf Habib erneut zu ihm ins Taxi stieg, sagte sich Schell: Nun gut, wenn’s sein muss – spielen wir.
„Zur Bibliothek.“ „Gibt davon eine Menge in Frankfurt.“ „Zu der, wo du immer rumhängst.“ „Soll heissen, Sie wissen was über mich.“ „Alles. Nicht nur, wo du liest; auch wo du dein Croissant frisst. Mit wem du telefonierst; sogar, mit wem du nicht telefonierst. Und dass du kein Smartphone hast. Und wir kennen auch dein Geheimnis.“ „Ach so, ich hab nur ein Geheimnis?“ „Wir haben dich komplett gehackt.“
Sie waren bereits in Fahrt …
I’m a stranger in your town, I’d like to dance with you … Schell drehte die Musik lauter und tat, als müsse er sich auf den Verkehr konzentrieren. Plötzlich, mit einem Ruck, starrte er aus dem rechten Seitenfenster und trat voll auf die Bremse, sodass es Habib heftig nach vorn gegen die Sitzlehne warf. Dann gab er Gas, Vollgas, und bog scharf in die nächste Seitenstraße ab, und gleich darauf wieder scharf in die nächste, mit quietschenden Reifen, und unvermindert rasant um eine dritte Ecke, und da fragte der hin und her geworfene Habib: „Spinnst du?“
Schell verlangsamte und fuhr normal weiter.
I have no fancy shoes but I’m still dancing,
dancing to the mu-u-sic, sweet Reggae mu-u-sic
„Was sollte denn das, hey?“
„Haben Sie die halbe Aprikose nicht gesehen?“ Er zwinkerte Habib im Rückspiegel zu; der ihn aber nur finster anstarrte. „Halbe Aprikose – sagt Ihnen nichts? Dass man da schleunigst in Deckung gehen sollte? In der Eile, wenn man nicht aufpasst, kann’s passieren, dass man dann irgendwo rauskommt, wo man sich null auskennt.“ Er schaute nach draussen. „Diesmal ging’s jedenfalls gut, wir sind noch in Frankfurt, wie’s aussieht.“
„Du bist ja richtig durchgeknallt.“
„Oder auch nicht.“ Er lenkte den Wagen in eine Parklücke. „Hören Sie, Habib. Mag sein, Sie sind im Spiel, ich glaub’s Ihnen. Nur interessiert mich das Level, auf dem Sie spielen, kein bisschen.“ Er öffnete das Handschuhfach, tastete darin herum, brachte die kleine Azuma-Figur zum Vorschein. „Wollen Sie das haben? Hat auf Ihrem Level vielleicht ‘ne Bedeutung.“ „O nein, Mann! Das symbolisiert den König, und das hast du bekommen.“ Er schaute Schell durchdringend an. „Du hast wirklich keine Ahnung.“ „So sieht’s aus. Und Sie wissen nicht, was ‘ne halbe Aprikose bedeutet.“ „Verarschung – wenn das nicht klar ist.“ „Was wollen Sie also?“ „Zusammenarbeiten.“ „Arbeit habe ich schon mehr als genug. Wollen Sie immernoch zur Bibliothek?“ „Fahr uns zu deinem Cafe. Ist kurz vor zwölf; Zeit, dass du zum Frühstück kommst.“
Fünf Minuten darauf waren sie schon da. „Macht fuffzehn Euro, bitte.“ Habib gab ihm zwanzig und sagte: „Okay, du traust mir nicht. Verstehe ich. Werde dir also was zeigen.“ „Nicht nötig. Bei allem Respekt.“ Habib zuckte die Achseln,„Na gut“, dann deutete er auf die Spielothek neben dem Cafe: „Das ist mein Laden. Wenn du’s dir überlegt hast, da findest du mich, klar?“ Schell reagierte nicht darauf. Habib hielt im Aussteigen inne: „Hey, das mit der halben Aprikose – war doch Verarschung, oder?“
Ja und nein. Schell blickte ihm in die Augen und kam zu dem Ergebnis: Die Antwort würde ihn nicht zufriedenstellen. Also schwieg er. Habib lachte. „Sehr mutig oder sehr dumm. Rate mal, wer darüber entscheidet!“ Schell hob die Augenbrauen. „Sie, Habib?“ „Genau. Sei also lieber ein kluger Mann!“ Damit stieg er aus dem Wagen.
Als Schell abends Manne gegenüber diese Spielothek erwähnte, wusste der sofort, um welchen Habib es sich handelte. „Der gehört zu einem Gangster-Clan.“ Worauf Schell erschrak. „Wenn sich so einer verarscht fühlt …“ „Nicht gut.“
„Weisst du, was ‘ne halbe Aprikose bedeutet?“ Manne überlegte. „Hab bei dir irgendwo mal was darüber gelesen. Ein Zeichen, dass man sich schnellstens verpissen sollte.“ „Weil in der Nähe eine Bombe oder sowas kurz davor ist, hochzugehen. Habe da heute die halbe Aprikose zwar nicht wirklich gesehen, aber irgendwas an Habib liess mich daran denken; und das reichte mir in diesem Falle schon, um entsprechend zu reagieren.“ „O je, mit quietschenden Reifen im Zickzack, nehme ich an.“ „Mit allem, was aus der Karre noch rauszuholen ist.“ „Verstehe. Damit Habib dich für bekloppt hält; allerdings zu recht. Denn im Ernst, Schell, weisst du, was du bist? Ein Psycho. Und daher meine ich immernoch, und mehr denn je – und Uschi ist sehr stark derselben Meinung –, dass du endlich in Urlaub gehen, ich meine: verreisen solltest.“ „Und ich, immernoch, stimme dem zu. Wenn ich nur wüsste, wohin.“ „Egal! Du musst hier raus. Merkst ja gar nicht, wie isoliert du eigentlich lebst, und wie dich das fertig macht.“
„Interessiert dich gar nicht, was Habib von mir will?“ „Kann ich mir schon denken. Er braucht dich für sein Team.“ „Das denkst du dir einfach so?“ „Ich weiss es. Ihm fehlt zur Zeit für ein Team der Dritte. Man kann nur als Dreier-Team spielen, das ist auf diesem Level eine der unumgänglichen Regeln. Frag nicht, warum, ist nun mal so.“ „Dann bist du also …?“ „Klar, auch im Spiel.“ „Und mit wem im Team?“ „Jetzt reg dich bloß nicht auf, Schell – mit Sciffi und dir.“ Da glotzte Schell. Dass ich auf diesem Level auch mitspiele – „Okay, ich reg mich mal nicht auf, aber – wieso weiss ich davon nichts? Sowas muss man mir doch sagen!“ „Ach, wie oft ich das versucht habe – aber du hörst ja nie zu. Immer wenn’s um das Ereignis geht, driftest du ab und fängst von der Realität an, vom Unerklärlichen, von Formen des Denkens, den Grenzen der Logik, deinem komischen Tautoloid und so weiter.“ „Nennt sich Meta-Ebene.“ „Und ist ja auch gut und schön, nur bist du da dermaßen fixiert, dass du gar nicht mitkriegst, was konkret um dich herum passiert.“ „Dann hättest du dich einfach anders, sagen wir interessanter darüber äussern sollen.“ Da war Manne kurz sprachlos. „Jetzt muss ich mich echt zurückhalten. Aber warum eigentlich? Denn vielleicht brauchst du wirklich nur mal kräftig was auf die Glocke. Weil du’s anders einfach nicht merkst.“ „Was nicht merke? Dass alle mich verarschen?“ „Was für ein Monster an Arroganz du bist. Dass du alle verarscht. Inklusive dich selbst.“
Sie schwiegen eine Weile. Bis Schell sagte: „Also nicht mehr Herr des Flyshwerks und Allwissender Kreator, sondern inzwischen die Kehrseite: Psycho und Monster. Danke für diese sehr interessante Lektion. Werde ich mir zu Herzen nehmen. Was sollte ich noch über das Spiel und unser Teamplay wissen?“
„Dass dieses Level noch ans Internet gebunden ist. Dass hier das Virtuelle noch neben dem Realen läuft, parallel zwar, aber immernoch getrennt. Man könnte auch sagen, das Spiel ist halb real, halb virtuell. Aber es gibt hier schon Hinweise darauf, dass das ab dem nächst höheren Level nicht mehr so ist. Da deckt sich dann das künstlich Gemachte quasi eins zu eins mit der Wirklichkeit. Geht dann darum, trotzdem noch irgendwie unterscheiden zu können. Sonst sitzt man da in der Falle, Stichwort Endlosschleife. Und damit einem das nicht passiert, damit man auch von da weiterkommt, geht’s auch auf diesem Level schon darum, zwischen virtuell und real unterscheiden zu lernen. Was hier so einfach erscheint, ist dort, nach den Gerüchten, die man hört, verdammt schwierig.“
„Siehst du, Manne? Deshalb ist mir die Meta-Ebene so wichtig. Im übrigen glaube ich das Prinzip in etwa verstanden zu haben: Wie jedes Level eigentlich nur Vorbereitung fürs nächste ist, so auch dieses. Was aber wird aus den Dreier-Teams?“ „Die lösen sich auf, heisst es; spielen auf dem nächsten Level keine Rolle mehr. So wie unser Team für dich ja offenbar jetzt schon keine Rolle mehr spielt. Weshalb ich auch glaube, dass du schon auf dem nächsten Level bist. Das nur noch nicht begriffen hast. Oder deine Ahnungslosigkeit ist nur gespielt. Dann spielst du ziemlich gut.“ „Glaube, was du willst, mein Freund. Manchmal spiele ich, meistens aber nicht. Das entscheide ich von Fall zu Fall, ohne Strategie.“
„Hast du mal in letzter Zeit versucht, Schells Bureau zu öffnen?“ „Schon lange nicht mehr. Du?“ „Ich hab’s irgendwann aufgegeben. Ist was für Hacker. Aber Sciffi hat es ständig weiterversucht; der ist im Hacken ganz gut. Und vor kurzem hat er’s geschafft, plötzlich war er drin. Ein Zufallstreffer, denke ich, doch er meint, der Rasta Spirit habe ihn gelenkt. Egal. Wir haben alles ausgedruckt; kannst du mal lesen, wenn’s dich interessiert.“ Schell winkte ab. „Das brächte mich nur wieder durcheinander. Bin doch zur Zeit so schön stabil.“ „Ach ja … Weshalb du auch nicht wahrhaben willst, wie dringend du Urlaub bräuchtest.“ „Manne! Ich werde verreisen. Bald. Versprochen.“

Plötzlich zu sich kommend, fragt er sich: Was rotiert da eigentlich so?, und bemerkt, dass er die ganze Zeit in ein gleichförmiges Kreisen aus Rot und Schwarz und lauter Zahlen starrt, nämlich auf den Bildschirm eines Spielautomaten, der eine Roulette-Scheibe simuliert. Die immer mal stoppt, bis eine Stimme „Rien ne va plus“ sagt und dann sich wieder dreht.
Schell blickt auf die Uhr: zehn Minuten erst vergangen, und erneut versenkt er sich in das hypnotische Gekreise auf dem Bildschirm.

Dass Schell sich selbst nicht wie ein Psycho-Monster vorkommt, ist klar; doch dass Manne ihn so nennt, gibt ihm immerhin zu denken; zumal ihm diese Einschätzung nicht neu ist, so ähnlich hatte ja auch Ingrun sich schon über ihn geäussert. Und wenn Manne und Uschi so sehr darauf dringen, dass er endlich mal Urlaub macht, meinen sie eigentlich – auch das ist ihm klar –: dass er unbedingt sein Leben ändern sollte. Welches derzeit doch aber gut, ja wenn nicht sogar ideal läuft, wie er findet: Die Arbeit, nämlich sein allmorgendliches Schreiben, erscheint ihm hinreichend produktiv. Der Taxi-Job macht ihm noch Spaß; ebenso, sich fitzuhalten mit Boxtraining und Joggen. In einer der großen Bibliotheken versorgt er sich mit Philosophie-Stoff. Hinzu kommen die unterhaltsamen Abende in der Gemeinschaftsküche und neuerdings auch noch die Teestündchen bei Lady Rainbow. Und er schläft gut und hat interessante Träume. Sogar Sex gibt’s ab und zu. Denn seit er überzeugt ist, er habe sich in der Normalität wieder solide untergebracht, erlaubt er sich, was er sich lange Zeit verboten hatte, nämlich gelegentlich Frau Doktor aufzusuchen.
Er denkt: Wenn ich so resümiere – was will ich mehr? Es fehlt mir nichts.
Denkt er. Doch wir, die wir ihn von aussen bedenken, fragen uns, was zum Beispiel sich auch Uschi fragt: Liebt er eigentlich?
Die Scheibe stoppt; dann wieder: „Rien ne va plus“, und rotiert weiter.

Eines Tages ging vorn die Tür des Taxis auf und jemand, der sagte: „Gruß von Habib“, setzte sich auf den Beifahrersitz, mit einem Laptop, den er sogleich aufklappte, um Schell etwas zu zeigen. Schells Bureau.
Schell nickte. „Sie haben’s geknackt. Habib erwähnte es schon. Demnach sind Sie sein IT.“ „Nicht seiner. Einfach I.T., wie Ingo Terz. So heisse ich. Bin mit Habib nur auf diesem Level ein Team. Und Schell, hey, es wäre ziemlich cool, wenn Sie mit uns, ich meine …“, er nickte in Richtung Laptop, „wie Sie sehen, haben wir’s drauf. Wir können da rein und raus wie wir wollen. Die ganze Verschlüsselung des Spiels – haben wir im Griff.“ „Stark, wirklich stark. Aber wie ich zu Habib schon sagte: Interessiert mich nicht.“
Es sah nur so aus, als ob IT ihn anstarrte; tatsächlich starrte er knapp an Schell’s Gesicht vorbei. Ein knochiger, recht blasshäutiger, ansonsten unauffälliger Mensch um die Dreissig; der leider etwas unangenehm aus dem Mund roch. „Sehr schade“, sagte er. „Weil Habib, der regt sich immer so auf, wenn er nicht kriegt, was er will.“ „Verstehe. Trotzdem. Fahre ich Sie noch irgendwohin?“ „Nicht nötig.“ IT klappte seinen Rechner zu und stieg aus.
Tags darauf, als Schell zur üblichen Stunde im Cafe beim Frühstück saß, setzte sich Habib zu ihm. „Hast mich noch gar nicht in meinem Laden besucht.“ „Mir war bisher nicht langweilig genug.“ Habib lachte. „Wen du hier provozierst, ist dir doch klar, oder? Du hast dich umgehört und jeder sagt dir, ich bin Gangster. Also solltest du eigentlich verstehen – “ „Sie brauchen einen Dritten für Ihr Team, habe ich verstanden. Und habe auch verstanden, dass ich bereits zu einem Team gehöre. War mir neu.“ „Dass du zu deinem Team stehst, find ich gut. Loyalität – super Sache. Aber solche Kiffer wie Manne und Sciffi, glaubst du, die stehen auch loyal zu dir?“ „Bitte, Habib, begreifen Sie doch, dass mir das Team völlig egal ist; ob dieses oder jenes Team – egal; so wie mir dieses ganze Level egal ist.“ „Jetzt hör endlich auf mich zu siezen! Wie sollen wir da Freunde werden?“ Er seufzte, und wirkte dabei so aufrichtig enttäuscht und traurig, dass Schell einen ersten Anflug von Sympathie für ihn verspürte. „Scheint Ihnen ja – ich meine dir – wirklich am Herzen zu liegen, dieses komische Spiel.“ „Ja, Mann! Ist so irre, das Ding. Ein so gigantisches – ja wie soll man sagen? Mechanismus – ein gigantischer Mechanismus. Wie so’n Uhrwerk. Wo bis ins kleinste Detail alles genauestens ineinandergreift, pausenlos, und einfach irre kompliziert.“ „Du meinst das Internet?“ Habib überlegte; schüttelte den Kopf. „Das ist nur Teil davon; vielleicht ‘ne Art Modell. Was ich meine, ist noch viel größer.“ „Fühlt sich etwa so an?“ Und Schell legte seine Handflächen auf die imaginäre Weltkugel – Beppo’s Gebärde –, bis sie zu vibrieren begannen. „Genau, genau! Das wächst und wächst, quillt irgendwie immer weiter auf.“ „Wow, Habib, da bist du ja echt mit was beschäftigt.“ „Hey, und wenn du wüsstest, was wir vorhaben.“ „Da muss ich jetzt aber lachen – wie kann man mit so einem Ding was vorhaben?“ „Nicht mit dem Ding – in dem Ding. Das ist ja das Spiel. Aber jetzt verarscht du mich wieder. Weil das alles weisst du ja längst. Deshalb brauch ich dich in meinem Team. Natürlich kann ich dir unseren Plan nicht verraten, ich sag dir nur, würdest du ihn kennen, wärest du auf jeden Fall dabei.“ „Verrate ihn mir bitte nie!“
Habib seufzte erneut; resigniert. Doch da bemerkte Schell das Listige in seinen Augen und er dachte: Show. Das hier gehört zu seinem Plan. Kann sein, er braucht mich, aber nicht für sein Team. Sonst würde er andere Geschütze auffahren; und sich keine Frechheiten von mir gefallen lassen. Vorsicht, Schell, da zieht sich irgendwie ein Netz um dich zusammen.
„Aber du kannst mir mal was verraten, Schell: Warum du eigentlich kein Smartphone hast.“ „Hm. Brauch’s nicht.“ „Quatsch. Raus mit der Sprache!“ „Ich sehe, wieviel Aufmerksamkeit die Leute auf das Ding richten, und da ich auch nur Otto Normal bin, wäre das aller Wahrscheinlichkeit nach bei mir nicht anders. Aber Aufmerksamkeit ist nun mal die stärkste Kraft im Universum, sehr kostbar, verstehst du?, und das Bisschen, was mir davon zuteil ist, will ich nicht auf so ein Gerät verschwenden.“ „Wenn du dich mit dieser Einstellung für Otto Normal hältst, bist du wirklich nicht von dieser Welt.“ „Man kann doch wohl Otto Normal sein, ohne sich auch wie ein solcher zu verhalten.“ „Das ist Philosophie; mir zu hoch. Mach’s gut, ich muss los.“

Und der Boss lässt weiter auf sich warten. Das violette Halbdunkel, das eintönige Gedudel der leerlaufenden Automaten, der Mief, der aus dem abgewetzten Teppichboden aufsteigt – allmählich muss er kämpfen, um es hier noch auszuhalten. Vor allem macht sich ein Druck im Kopf bemerkbar, und wird immer stärker.
Vor kurzem hatte er von Kopfschmerzen geträumt, und er fragt sich, als er nun daran zurückdenkt: Kann man überhaupt Schmerzen haben im Traum? Aber es war ein Traum, und ich hatte Schmerzen.
Es war ein wirklich unschöner, ja entsetzlicher Traum gewesen.
In einem Auto, nachts. Habib am Steuer; nahm ihn mit. Er hatte sich ihm aufgedrängt, glaubte paradoxerweise jedoch, entführt zu werden. Von Habib nur wie eine Formel immer wieder „Du musst doch nicht … Du musst doch nicht“, was ihn aber nur immer panischer machte. Dabei vergaß er, dass er eigentlich nur unterwegs war, um ein Mittel gegen seine Kopfschmerzen aufzutreiben. Dann bei plötzlich hellichtem Tag irgendwo im Westend. Er folgt Habib in eine große Villa, von der irgendwie klar ist, dass sie den von Erblitz-Leuen gehört; weshalb er sich darauf gefasst macht, gleich Ingrun wiederzusehen. Doch landet er in einer Halle voller Menschen; sieht wie am Bahnhof aus. Habib ist weg. Aber Ingrun muss doch hier irgendwo sein; das hat auf einmal Priorität. Er hält angestrengt Ausschau, will eine der Rolltreppen nehmen, hinunter in die nächste Halle; trifft jedoch stattdessen Manne, der ihn offenbar erwartet hat, da er mit einem Zeichen, ihm zu folgen, sich gleich in Bewegung setzt. Klar nun, dass es hier nicht um Ingrun geht. Die Gänge, die sie durcheilen, kahl, sauber, weiss beleuchtet, sind plötzlich Krankenhausflure. Dann, in einem Wartebereich, hält Manne an und sagt: „Musst du entscheiden; ich halt mich da raus.“ Er nickt jemandem zu und setzt sich. Da steht eine Frau, nicht groß, aber sehr aufrecht, in weissem Kittel, mit Mundschutz und Haube. Frau Doktor etwa? Eindeutig nein; doch diese Augen? – kennt er irgendwoher. Er sagt zu ihr: „Ich bin entführt worden.“ In ihrem Blick ist alles milde. Nur ein leichtes Umfangen, denkt er, das ist das richtige Wort. Leichtes Umfangen. Mildert augenblicklich seine Kopfschmerzen. Als sie „Gehen wir“ sagt, kennt er auch irgendwoher ihre Stimme; und als sie dann „Erschrick nicht“ sagt, erkennt er sie: das alte Hippiemädchen, Lady Rainbow. Jetzt ist er ruhig, gefasst, in beinahe heiterer Stimmung. Die sich im nächsten Bereich sogleich verflüchtigt. Intensivstation; totale Techosphäre. Sie stehen still und schauen. Da liegt jemand gebettet, ein Mann um die vierzig, bewusstlos; mit Schläuchen und Kabeln an Apparate angeschlossen. Der –?, so fragt er – bin der etwa ich?, und ein Entsetzen baut sich auf. „Er sieht nur aus wie du, mehr nicht“, flüstert ihm Lady Rainbow zu. „Du träumst.“ Dann will ich aufwachen, sofort! „Bitte schau dir vorher aber dies noch an –“ sie nickt in Richtung einer Gruppe weiss bekittelter Gestalten, die murmelnd auf Bildschirme starren. Darauf sein Inneres per Scan. Und er weiss auf Anhieb, was Gegenstand der Analyse ist: das Ding in ihm; und erkennt sogar die fast unsichtbar winzigen Ziffern, die es trägt, eine Art Seriennummer: A2X27.

„Nett, dass du gekommen bist.“ Habib. Endlich. „Hast dich also entschieden?“ „Mich entschieden?“ „Bei mir mitzumachen.“ „Nee. Einer von deinen Jungs kam und hat mich hier rüberbeordert.“ „Ach so, ja. Weil ich dir Bescheid sagen wollte. Nämlich dass die Sache sich erledigt hat.“ „Das ist nett, mich zu informieren.“ „Der Fairness halber. Damit du dir nicht länger Sorgen machst, dass der böse Habib was von dir will.“ „Du gibst auf? Hm, jetzt, wo ich allmählich Angst vor dir habe …“ „Du hast Nerven, Mann. Das gefällt mir. Doch im Ernst: ich brauch dich nicht mehr.“ Durchaus schrillen da zwar die Alarmglocken bei Schell, dennoch, als er aus der schummrigen Spielothek wieder ans Tageslicht tritt, ist er ungemein erleichtert.

B.5

Auf zwölf zu

Zurück nach Frankfurt am Main. Wir zoomen uns da herunter und hinein … Wo ist er, unser Taxi-Mann namens Schell?
Wir suchen aus der Vogelperspektive die Straßen ab, ohne Eile, denn es gibt viel zu sehen, Frankfurt ist eine unterhaltsame Kulisse …
Um im Gesamtzusammenhang von Schells Bureau diesen Frankfurter Schell von sowohl dem Schell des Intrologs, als auch vom Schell der Mystery Saga zu unterscheiden, nennen wir ihn H-Schell. H wie human. Oder wie homo sapiens; denn dieser Schell versucht ja, sich als jemand zu verstehen, der die menschlichen Bewohner des Planeten Terra repräsentiert. Aber natürlich könnte das H auch einfach auf seinen Vornamen Hartmut hinweisen.

Es ist Vormittag. Mattes Licht, blasse Farben, es windet heftig und sieht nach Regen aus; regnet aber noch nicht. Was die Jahreszeit angeht, so kann angesichts der Bäume von Sommer, ja auch von Spätsommer schon nicht mehr ganz die Rede sein; sagen wir, der Herbst hält gerade Einzug … Da!, dieses urtümliche Taxi, ein schwarzer Heckflossen-Daimler, das muss es sein: das Retro-Taxi mit dem Sound echter Musikcassetten.
Was hat Schell da gerade laufen?
Life is easy when you’re hiding from the rain beneath banana trees … Michael Franks.

Unterwegs wieder einmal in Richtung Hauptbahnhof, gingen ihm gerade Möglichkeiten eines Urlaubs durch den Kopf. Er stellte sich vor, vom Delta der Donau im Uhrzeigersinn an den Küsten des Schwarzen Meeres entlang zu reisen, und zwar gemächlich, mit Fährschiffen und Eisenbahnen. Bis nach Istanbul.
Er könnte sich genauso gut auch in England alte Parks anschauen; oder sich mit ein paar Büchern irgendwohin verziehen, wo nichts los ist, nach Belle-Ile zum Beispiel. Aber mit was für Büchern?, fragte er sich. Und warum nicht gleich zuhause bleiben?
Geht mir doch ganz gut hier, oder? Zugegeben, neulich war ich mal ziemlich runter mit den Nerven, und es wird wohl so sein, wie Manne und Uschi meinen: dass mir eine Abwechslung bestimmt gut täte.
Das war sehr beschönigend gedacht; die Freunde hielten es für dringend nötig, dass er aus Frankfurt mal herauskam; und er hatte sich davon ja auch schon überzeugen lassen, vor nun fast einem Jahr, und schob seitdem die Sache vor sich her, da sich einfach kein Ort fand, der in ihm Reiselust erweckte.
Wiewohl er fand, er habe das Ereignis gut verdaut inzwischen, hörte das Unerklärliche nicht auf, ihn zu beschäftigen:
Entweder ist die Wirklichkeit so wie ich denke, dass sie ist, dann kann das Ereignis nicht real gewesen sein. Oder es war real, dann aber ist die Wirklichkeit anders als ich denke. Das eine ist so wahrscheinlich wie das andere.
Als drittes käme in Betracht, dass das Ereignis zugleich real und nicht real war, die Wirklichkeit also ist, wie ich denke, und gleichzeitig ganz anders. Das widerspricht jedoch der Logik und damit dem Wirklichkeitsbegriff, den ich gewohnt bin.
Dies dritte, das Sowohl-als-auch, ist am wahrscheinlichsten, das heisst, was ich mir als wirklich vorstelle, ist genauso falsch wie richtig, so real wie irreal. Wie wahrscheinlich dies aber auch ist, es scheidet aus, da der objektive Standpunkt, den es voraussetzt, mir nicht gegeben ist.
Billige Ausrede. Du versuchst, der Entscheidung für oder wider aus dem Wege zu gehen.
Weil mir der objektive Standpunkt diese Unsinnsentscheidung eben verbietet.
Meinst du.
Ganz recht, und zwar vom objektiven Standpunkt aus.
Wie kann ein Standpunkt objektiv sein? Das ist ein Widerspruch in sich. Der Standpunkt ist das schlechthin Subjektive.
Ohne den es das Objektive nicht gäbe; kurz: Kein Kreis ohne Mittelpunkt. Kein objektives großes Ganzes ohne mittendrin ein Subjektives, dich zum Beispiel. So funktioniert nun mal Erkenntnis.
Und die Erkenntnis wiederum wird das Subjekt, dessen Objekt die Wahrheit ist, das Unbewegte, dem die Erkenntnis sich endlos entgegenbewegt.
Und dann? Wo heben sich Bewegung und Unbewegtheit gegenseitig auf?
Da, wo sich der Gegensatz Gegensätzlichkeit-gegen-Gegensatzlosigkeit auflöst; wo man das Unendliche mathematisch erfasst, indem man die Linie als Punkt denkt …
„Da vorne bei dem Sushi-Laden können Sie mich absetzen.“
Bis die Begriffe nicht mehr reichen, also keine Vorstellung mehr greift und sich also auch jenseits der Sprache kein Sinn mehr ergibt. Er hielt an. „Macht achtzehn Euro.“
Eine der großen Uhren zeigte Viertel vor zwölf. Und er hielt inne. – Schon wieder? Denn da wurde ihm bewusst, dass in letzter Zeit eigentlich immer, wenn ihm zufällig eine Uhr in den Blick kam, es gerade auf zwölf zu ging. – Hm, nun ja. Seltsam. Doch warum nicht? Selektive Wahrnehmung. Auf zwölf zu – nur bloß nicht irgendwelche Schlüsse daraus ziehen!

Inzwischen konnte er sich dem Hauptbahnhof wieder nähern, ohne gleich an jenes Objekt zu denken, das er dort in einem Schliessfach gefunden hatte – die Azuma-Statuette –, und auch ohne in der Folge dann sich an jenen Sommerabend erinnern zu müssen, an dem das Ereignis stattgefunden hatte. Doch hiess das auch, dass schon Gras darüber gewachsen war?
Wie tief es ihn in geistige Komplikationen gestürzt hatte, war ihm halbwegs bewusst, und er leugnete nicht, dass die Sache Spuren bei ihm hinterlassen hatte. Waren die jedoch erkennbar? Hatte er noch ein Problem? Nein, hätte er gesagt; wusste allerdings, dass seine Freunde von der Tankstelle gesagt hätten: O ja. Insofern jedenfalls versteht man sein Bemühen, so unauffällig wie nur irgend möglich aufzutreten und sich aus allem so gut es ging herauszuhalten. Was seit neuestem gar nicht mehr so einfach war.
Da er nun wusste, wie sehr das sogenannte Ereignis auch Manne beschäftigte, sodass der in puncto Schells Bureau anscheinend ständig recherchierte, fiel ihm überhaupt erst auf, dass er selbst zur Aufklärung der konkreten Umstände dieses rätselhaften Falls noch bisher keinen Finger krumm gemacht hatte; und was er bis dahin unbewusst unterlassen hatte, das unterliess er nun ganz bewusst. Er sagte sich: Auch wenn es ja, wie’s scheint, dein Fall ist, so halte dich lieber aus dem heraus, was faktisch daran ist. Nur wenn du sicher bist – ganz sicher –, dass du das Gesuchte wirklich finden willst, dann meinetwegen suche; vergiss nur nicht: durch Sucherei wird es konkret.
Und was musste er feststellen? Dass es ihm plötzlich ganz schön schwer fiel, sich aus allem rauszuhalten.

Hin und wieder also gedachte er am Bahnhof durchaus noch der Azuma-Statuette – der Azuette, wie er bei sich dieses Plastikfigürchen nannte – und all des Mysteriösen, das damit zusammenhing, doch immer seltener; eher fiel ihm da ein, wie Joseph Beuys, der Künstler, seinerzeit an das große Thema Einweihung erinnert hatte: indem er darauf hinwies, die Mysterien fänden heutzutage am Hauptbahnhof statt. Wie wahr.
Jetzt gerade forderte allerdings das Parkplatzproblem seine Aufmerksamkeit. Hier gleich um die Ecke befand sich nämlich sein Stammcafe und es war Zeit zu frühstücken.

Worauf es ihm dort beim gewohnheitsmäßigen Durchblättern der Frankfurter Allgemeinen ankam, war der Anschein von Normalität, den es erweckte, sowie der gleichmütige Blick aufs Weltgeschehen und das Rascheln des Papiers. Es fühlte sich gemütlich an; trotz des beunruhigenden Gedankens, der sich dabei immer wieder erneuerte: dass wohl nach wie vor in aller Welt die oberen Ränge mit Psychos besetzt seien. Heute liess ihn das wieder einmal an Frau Doktor denken, an seine erste Sitzung bei ihr: Sie hatte ihm nicht geglaubt, dass er Taxifahrer sei; einfach deshalb, weil ihre Dienste in der Regel nur von Chefs in Anspruch genommen wurden; und hatte hinzugefügt, wörtlich: „Ich bin auf Psychos spezialisiert. Sonst säßen Sie nicht hier. Das sollte Ihnen klar sein.“
Nur Chefs konsultieren Frau Doktor? Das hatte ihn irritiert. Und unter Chefs versteht sie Psychos? Dann bin ich wohl die Ausnahme von dieser Regel. Was sich so wahrscheinlich jeder Psycho denkt.
Daran hatte er schon oft zurückgedacht … Sein Croissant zerkauend, stierte er durch die Fensterfront über die Straße und bemerkte jetzt, was er dort auf den Treppenstufen eines mit Graffiti verzierten Hauseingangs immer sah: die Junkies. Die in dieser Gegend zahlreich waren; und die mit ihrem Radar gewöhnlich seine Haltung ihnen gegenüber, eine Art scheue Hochachtung, ohne weiteres erfassten, sodass ihm meistens erlaubt war, ihnen aus dem Wege zu gehen.
Nicht gerade dass er Heilige in ihnen sah, doch jedenfalls erinnerten sie ihn an die Saddhus in Indien, die man ihrer Radikalität wegen fürchtet und verehrt; nur dass die hiesigen Saddhus fokussiert waren auf Stoff, hingegeben ganz und gar an ihre Selbstsucht; dass für sie das Absolute ihr ungeschminktes Ego war, ein Ego, das so weit geht, zu seiner Befriedung sich selbst als Ganzes in die Waagschale zu werfen und damit den Egoismus, indem er solchermaßen in Selbstaufgabe umschlägt, ad absurdum führt. So betrachtete sie Schell, kurzum, als Fortgeschrittene.
Die Sucht, dachte er, ach die Sucht … Ist sie nicht schlechthin das Kennzeichen der Terraner? Das Typische am Menschenleben in der Schwerkraft? Das irgendwie, was uns alle zu Verwandten macht? Und damit auf einmal trübte sich ihm alles ein.
Was wenn nicht Sucht war es gewesen, das ihn wieder und wieder hatte Frau Doktor aufsuchen lassen? Aber immerhin, sagte er sich, bin ich nun schon ganz schön lange dieser Versuchung nicht erlegen … Soll wohl heissen, wird Zeit, mal wieder schwach zu werden, oder was?
Schwach, nun ja; was aber, wenn Schwäche, Sucht, das Unergründliche, all das Belastende, gar nicht so wirklich ist wie ich meine? Vielleicht träume ich das alles nur. Dann könnte gerade die Therapie bei Frau Doktor, wie alles Krasse, sich genau als das erweisen, was endlich mich herausreisst aus dem Traum. Denn ehrlich gesagt, war ich doch mit dem Aufwachen heut Morgen schon wieder mittendrin in diesem blöden, die ganze Wirklichkeit umfassenden Dilemma, und das heisst, nicht einmal mehr der Schlaf vermag es noch zu unterbrechen.
Weil dieses Wirklichkeitsdilemma einfach größer ist als du. Bedeutender. Und natürlich auch schon lange nicht mehr deinem Willen unterliegt.
Soll das die gute Nachricht sein oder die schlechte?
Die Nachricht lautet: Es ist nicht mehr abstrakt, nicht mehr dein Hirngespinst. Was dir noch als logisches Dilemma erscheint, ist längst verwirklicht: ist Realität. Und bemerke doch bitte, dass du da, wo du früher Trost von aussen brauchtest, wo der gute alte Imperator mit stoischen Sentenzen aushelfen musste, ich es heute bin, der dir in den Hintern tritt, dir die Moral erhält, das heisst: du dir selbst. Wenn das nicht gute Nachricht ist.
Er blickte durch die FAZ quasi hindurch, noch immer bedächtig mit dem Verzehr seines Croissants beschäftigt, und suchte vergeblich, was er für sich Die Stille nannte. – Sag mal, ist das etwa ein Trübsinn, dem du dich hier überlässt?
Alles ist gut. Perfekt. Und wunderbar.

Während der Monate, in denen er auf der Suche nach dem inneren Machtwort so exzessiv damit beschäftigt gewesen war, um das Ereignis herumzudenken, war sein Erlebnishorizont sehr schmal geworden. Er hatte seinen Taxi-Job erledigt, abends gern die Gesellschaft in der Küche aufgesucht, mit Manne und Uschi Gespräche geführt; sonst nichts. Ausser dass er aus Höflichkeit bei seiner Nachbarin Lady Rainbow hereinschaute, wenn sie ihn gelegentlich auf ein Tässchen Tee einlud. Innerlich aber war er allem fern geblieben, wie einem Schauspiel gegenüber, das ihn nichts anging, so allein im Grunde wie draussen beim Joggen oder in seiner Bude am Schreibtisch.
Gedanklich so über alle Maßen in Anspruch genommen vom Ereignis, dass sich äusserlich so gut wie gar nichts mehr ereignete, hatte er doch ständig das Gefühl gehabt, keine Zeit zu haben; und dieses Gefühl, weil es sich einfleischte, hatte ihn auch nachts bedrängt, sodass er nicht gut schlief und folglich tagsüber immerzu müde war. Und woran er während dieser schweren Zeit besonders darbte, war der Mangel an Träumen – ja, zeitweise hatte er gar nicht mehr geträumt.
Dann aber musste, irgendwo im Verborgenen, etwas geschehen sein.
Plötzlich hatte sich das Blatt gewendet, er wusste nicht, wodurch, und es war ihm auch egal – auf einmal träumte er wieder!; und höchstens wunderte ihn, wie glücklich ihn das machte und wie es morgens eine Sensation war, anstatt aus flachem Gedöse aufzuschrecken, weil der Wecker klingelte, auf einmal wieder zu erwachen aus richtigem Schlaf, und statt sich mühsam aufzuraffen, sich ausgeruht und heiter zu erheben.
Und gerade so wie heute Morgen war es inzwischen häufig morgens: Wie hatte er’s genossen in dem frohen Überschwang, den ihm das bloße Ausgeschlafensein verursachte, zu entscheiden, ganz Herr der Lage, dass es auch heute wieder, und weiterhin, völlig egal sei, was denn der Auslöser der plötzlichen Veränderung gewesen sein mochte; dass er zwar herzlich dankte für den guten Schlaf, für sein wiedergewonnenes Traumvermögen, die Ursache davon aber im Rätselhaften zu belassen hatte, schien sie ihm doch deutlich genug zu sagen: Ich entschwinde dir in dem Maße, in dem du mich konkretisierst.

Put the blame on Mame, boys, put the blame on Mame
Was er beim Bereiten des Kaffees da vor sich hingesummt hatte, stammte aus uraltem Hollywood, aus einem Rita Hayworth-Film. Kann nur heissen, dachte er, ich hab mal wieder von Ingrun geträumt. Denn die ist doch, wäre sie nicht so blond, optisch von der Hayworth wahrlich nicht zu unterscheiden. Um aber diesen schönen Morgen nicht aufs Spiel zu setzen, scheuchte er rasch diesen Gedanken an seine Ex-Geliebte fort, und darauf, dass ihm das inzwischen ohne weiteres gelang, war er ein bisschen stolz, ja grinste sogar in den Spiegel und fragte sozusagen den da: Sonst noch was an Fortschritt zu verbuchen?
Kurzum, seine Verkapselung hatte sich, wie er fand, restlos aufgelöst.

Er hatte heute Morgen, als er in den Wagen stieg, auf Gutglück in die Kiste gegriffen, so wie immer, wenn er noch nicht wusste, was der Sound des Tages war; worauf Getrommel einsetzte, als er vom Hof fuhr, und sich der Senegal erhob … Hatte er lange nicht gehört, Toure Kunda, und drehte auf.
Den alten Heckflossen-Daimler als retro zu bezeichnen, war genau genommen ein Missverständnis, da er nicht auf alt gemacht, sondern echt alt war; so wie das, was als das Wesentliche bei der Kundschaft so gut ankam, darin bestand, dass die Musik von den echt alten Magnetbändern, die der echt historische Cassettenrecorder abspielte, auch entsprechend echt vernudelt klang. Dabei hatte weder Schell noch Manne eine besondere Vorliebe für Oldtimer oder überhaupt für Nostalgie; vielmehr ging es einfach darum, das Kult-Potential zu nutzen, oder wie Manne es mal formulierte: „Die Karre ist noch gut, die Musik auch, also kann man die Leute gut noch damit rumkutschieren.“
Da Schell der einzige von Mannes Fahrern war, der lieber diesen alten als irgendeinen neuen Wagen fuhr, war also sein „Retro-Job“ keineswegs ein Privileg, und so kümmerte es auch niemanden, dass er sich die Freiheit nahm zu arbeiten, wann und soviel, oder sowenig, er wollte. Günstig für ihn, denn es gab Tage, da kam er gar nicht vom Schreibtisch weg, und andere, an denen er bestimmt nichts besseres zu tun hatte, als auf alter Pop-Musik durchs Rhein-Main-Gebiet zu kurven.

Seit er seine Gedanken soweit unter Kontrolle hatte, dass er ihr Entstehen beobachten konnte, wurde er gewahr, wie sich immer wieder aus lauter Vermutungen ein Gebilde um ihn herum zusammensetzte, das stets auf Verfestigung abzielte und nur diese eine Funktion zu haben schien: die Konsistenz von Realität zu erreichen. Sobald er das im Einzelnen bemerkte, setzte er für den jeweiligen Sonderfall sogleich das allgemeine Muster, das Prinzip, und zwar indem er sich ein Bild dafür vergegenwärtigte, nämlich das Bild, in dem das, was in seinem Geist entstand, zugleich den Geist abbildete, der diese Bild entstehen liess: ein Raum, dessen sämtliche Seiten aus Spiegeln bestanden; ein unmöglicher Raum, den er den Tautoloid nannte.
Da ihm inzwischen klar war, dass er selbst ja dieses Ding hervorbrachte, geriet er gegenüber dieser extremsten seiner geometrischen Fiktionen nicht mehr in Panik, sondern brachte im Gegenteil seinen Geist darin zur Ruhe. Er kannte das Machtwort, lernte den Umgang damit, und er wusste: Dafür brauche ich dieses Ding, dieses Spiegelkabinett, diesen absoluten, wenn auch fiktiven Ruhepunkt; und zwar weil ich es so bestimme, weil es mir passt; weil es sich so, wie ich es geschaffen habe, nicht mehr abschaffen lässt; und weil ich ja blöd wäre, mir selber gegenüber ein Sadist, wenn ich mir daraus Qual bereiten würde. Ist doch viel besser, mich zu freuen. Und um überhaupt zu merken, dass ich mich freue, brauche ich diesen Punkt, diese Stille. Eine Art Happy End, in das ich jederzeit einkehren kann. Wo immer so wie Ende auch immer Anfang ist.
So hatte sich die Sache allmählich völlig umgedreht: plötzlich fand er genau da, wo ihn früher nur nacktes Entsetzen überfiel, stille, heitere, ja gemütliche Zufriedenheit.
Doch war etwa auch das nur wieder eine Illusion?

Bis hierhin war es so schön, von morgens an in lockerer Gedankenfolge sich dem zu überlassen, was ihm entgegenkam, beflügelt irgendwie, und erleichtert in dem Gefühl, ja sowieso nichts machen, weil sowieso nichts ändern zu können, und nun, im Rückblick auf die gedankliche Bewegung, die er seit heute früh vollzogen hatte, reimte sich ihm eine Kurzfassung zusammen und er dachte, das macht ja auch mal Spaß:
Kopf-oder-Zahl ist mir egal.
Im Null-oder-eins find ich nicht meins.
Bin bei nur entweder-oder doch bloß der blöde Decoder.
Er überlegte: Und daraus nun conclusio
„Salam, Schell-Efendi. Kommst du mal rüber zu Habib.“
Wer wagt es hier –? Einer dieser schwarzbärtigen Jungs in modernster Sportbekleidung, wie geschaffen für eine neue Karl May-Verfilmung, hatte sich vor ihm aufgepflanzt. Er seufzte innerlich: Kaum dass ich wieder gut drauf bin und mich blicken lasse in der Welt, muss ich einem Gangster ins Visier geraten …
„Fünf Minuten“, sagte er. „Muss noch was zuende denken.“
Er würde zehn Minuten daraus machen, das entsprach dem Maß an Souveränität, das er sich leisten konnte; keinesfalls dürfte er Habib länger warten lassen, das war klar. Möglich, dass dieser Libanese nur ein kleines Lichtlein in der Szene war; doch woher wissen, wie weit über diese Straßenseite hinaus sich seine Autorität erstreckte? Bringe ihm vorsichtshalber den vollen Respekt entgegen, ermahnte er sich selbst, bevor er den Faden wieder aufnahm, sich zur conclusio abwechslungshalber mal etwas Demut anempfahl und so zuende reimte:
Da’s fällt wie’s fällt dahier, fügt sich mein Wille dir.
Das klang noch nach, als er acht Minuten später das Cafe verliess, und er fragte sich, bevor er die Automatenhöhle nebenan betrat, eine sogenannte Spielothek: Was ist das für ein neuer Ton, den du da angeschlagen hast? Fügt sich mein Wille dir – mach mal halblang, alter Knabe, hast du Schiss? Etwa vor Habib? Come on.

Fassen auch wir zusammen, was in diesem Kapitel deutlich werden sollte: Dass sich also Schell nicht etwa vorkam wie ein wandelndes memento mori, nein im Gegenteil, dass er der Ansicht war, es ginge ihm gut.

B.4

Beppo’s Gebärde

Des Imperators Weisung folgend, hatte er Schells Bureau also geöffnet, dabei sich seines Herzschlages bewusst, und gelesen, was da geschrieben stand unter dem Titel Dem Machtwort auf der Spur.
Leere danach; nur Leere.
Kann man sagen, dass einen Leere erfüllt? So nämlich fühlte es sich an.
Es war am frühen Abend gewesen. Er hatte den Rechner ausgeschaltet, das Licht gelöscht, und war durch den verschneiten Hof zum Hauptgebäude hinüber gegangen. In der großen Küche saßen einige der Mitbewohner beim Essen und führten, wie üblich in beträchtlicher Lautstärke, irgendeine Debatte. Er sah sich da hereinkommen; sah sich denen, die ihn bemerkten, zunicken; sah sich am Herd etwas auf einen Teller füllen und sich dazusetzen.
Und alles spielte sich in besagter Leere ab.
Er sah sich da sitzen und essen; sah sich dann auf einem der Sofas in der Fernseh-Ecke ein Bier trinken; und hörte aus seinem Mund, als man ihn ansprach, ein paar freundliche Redewendungen.
Er hatte keine Gedanken, dafür eine noch nie so klare Wahrnehmung der einzelnen Details, aus denen sich die Welt um ihn herum zusammensetzte. Und die ganze Zeit war er sich der Leere bewusst.
An dem Morgen darauf, als er sich mit einem Becher Kaffee an den Tisch setzte und den Rechner startete, hatte er das Gefühl, etwas habe sich grundlegend verändert.
Er klickte Schells Bureau an und es hiess: Vorübergehend nicht verfügbar.
So so, hatte er nur gedacht und sich kaffeeschlürfend der Leere überlassen.
Das Maßlose dieser Leere erfüllte ihn mit Bewunderung, und er verstand: Das war, was der Imperator mit Stille gemeint hatte.
Und sie war geblieben, diese Stille; während der Stunden, die er mit dem Taxi herumgekurvt war, danach beim Jogging, und den ganzen Abend über.
Auch am nächsten Tag blieb Schells Bureau „vorübergehend nicht verfügbar“.
Beim Abendessen sagte Manne zu ihm: „Schells Bureau lässt sich zur Zeit nicht öffnen.“
Schell nickte. „Ich weiss. Vor zwei Tagen bin ich da rein und hab was gelesen. Dem Machtwort auf der Spur. Seitdem ist das Ding gesperrt.“
Manne sah Schell eine Weile versonnen an. „Dieses Machtwort-Kapitel habe ich auch gelesen. Und ich ahne es schon: auch das war nicht von dir.“
„Du sagst es.“
Worauf ihn Manne wieder eine Weile schweigend anschaute. „Es ist also immernoch so? Da erscheinen Texte in diesem Blog, die nur du geschrieben haben kannst – die du aber nicht geschrieben hast?“
„Exakt.“
„Was dir völlig real erscheint, doch nicht real sein kann, und dich deshalb an den Rand des Wahnsinns treibt.“
„Ja, habe ich dem Machtwort-Kapitel auch so entnommen: dass ich wohl kurz vorm Durchknallen war.“
„Höre ich da etwa Ironie heraus?“
„Tja, Manne, was höre ich heraus, wenn du mich Herr des Flyshwerks oder Allwissender Kreator nennst?“
Sie schauten sich über ihre Teller mit Spaghetti hinweg forschend in die Augen.
„Okay, Schell. Ironie beiseite. Für mich bist du jedenfalls der Autor. Nachdem ich das Machtwort-Kapitel gelesen habe, ist mir das nur umso klarer. Es passt hundertprozentig zu deiner desolaten Verfassung in letzter Zeit. Es stellt doch ziemlich übersichtlich den ganzen mentalen Tumult dar, mit dem du dich herumschlägst. Was du Uschi und mir davon erzählt hast – vor allem das mit dem dauernden Herzrasen –, hat uns einigermaßen bedenklich gestimmt.“
„Denke ich mir. Tut mir leid. Wahrscheinlich musstet ihr euch fragen, ob ich für den Taxi-Job überhaupt noch tauge.“
„Wir kamen zu dem Schluss, dass die tägliche Routine dich stabilisiert.“
„Das tut sie. Das Alltägliche hilft am allerbesten. Diese Abende in der Küche unter Menschen. Aber auch, dass ich mit euch darüber reden konnte, über das Unerklärliche, diesen ganzen Tumult, hat mir geholfen, nicht durchzuknallen.“ Er hielt inne. „Glaube ich jedenfalls, dass ich nicht durchgeknallt bin.“
„Glaube ich auch. Und ich staune. Du wirkst inzwischen cool.“
Worauf Schell für eine Weile schwieg. Unmöglich zu reden von der maßlosen Leere, die ihn ergriffen hatte.
„Wie ich es sehe,“ fuhr Manne fort, „bist du mit deinem Tumult deshalb klargekommen, weil du ihn in Worte gefasst hast. Das Machtwort-Kapitel war deine Selbsttherapie.“
„Ach, weisst du, ist man nur lange genug kurz vorm Durchknallen, gewöhnt man sich daran. Jedenfalls hat die Sache inzwischen keinen Einfluss mehr auf meine Pulsfrequenz.“
„Man könnte auch sagen, du hast es als das durchschaut, was es ist – ein Spiel.“
„Ein Spiel?“
„Das du mit dir selber spielst.“
Stimmte das? Hatte er das vergessen? Und war das nicht eigentlich – egal? Schell guckte fragend.
„Du hast etwas in Gang gesetzt“, sagte Manne, „und das ist, was läuft.“
Lange Pause daraufhin.
Schell starrte Beppo an, der gerade den Tisch abzuräumen begann.
„Sehe ich richtig? Beppo? Mitten in diesem Getümmel?“
Sein Autismus hatte es Beppo bisher nicht erlaubt, sich derartig normal zu verhalten.
„Ausser mir scheint sich niemand darüber zu wundern …“
„Weil es schon nichts neues mehr ist“, sagte Manne. „Du hast wohl in letzter Zeit auch manch anderes nicht mitgekriegt …“
„Erklär mir erstmal das mit Beppo.“
„Eurythmie. Seit ‘nem Jahr etwa bringt Uschi ihn jede Woche zu einer Heileurythmistin. Keine Ahnung, was die mit ihm macht, jedenfalls scheint es irgendwie seinem Autismus entgegenzuwirken. Zwar sagt er noch immer nicht viel, beziehungsweise nichts, aber inzwischen isst er hier abends mit uns.“
„Das ist – fantastisch!“
„Sensationell, allerdings. Doch Uschi findet das völlig normal.“
„Ist es gar nicht, meinst du? Ein Wunder sozusagen, dass das dem Beppo hilft?“
„Na ja, weit ab von dem zumindest, was die offizielle Medizin für Autisten parat hat. Ich meine, wer hat schon von Eurythmie gehört? Uschi hat mir erklärt, was das ist, und auch, wie es als Therapie funktioniert. Nur habe ich’s nicht ganz kapiert, muss ich zugeben, und zwar wie Uschi meint: weil ich schon mein Leben lang so ein Kung-Fu-Freak bin.“
Da lachte Schell. „Hey, apropos – wir haben uns schon lange nicht mehr geprügelt.“
Manne, zurückgelehnt, legte sich beide Hände auf den Bauch: „Jederzeit, junger Freund. Nur bitte jetzt nicht.“
Manne war Anfang zwanzig gewesen, als Schell, noch Schüler zu jener Zeit, ihn kennenlernte. Wie schon vor über zwanzig Jahren so ein gewisses Grinsen in seinen Augen typisch für ihn gewesen war, eine unergründliche Mischung aus listiger Durchtriebenheit und treuherziger Unschuld, so reizte wie damals schon seine merkwürdige, an die Popkultur der 1960er erinnernde Haarpracht, die ihm topfartig auf dem Kopf saß, auch heute noch zum Lachen.
Seine gedrungene Statur hatte mit den Jahren eine gewisse Behäbigkeit angenommen, die erstaunlicherweise aber seine geschmeidige Art sich zu bewegen durchaus nicht minderte; was wohl daher kam, dass er jeden Tag Kung Fu trainierte.
„Sag mal, Manne, wie hast du damals Schells Bureau überhaupt gefunden?“
„Um mich auf dem Laufenden zu halten, lasse ich mir von den Kindern hin und wieder zeigen, was sie gerade spielen. So habe ich von Matoxa gehört, vom Service of Intelligence, von Flysh und so weiter. Das sind spezielle Reality-Spiele, die miteinander zusammenhängen, und zwar indem sie alle eine Verbindung zu Schells Bureau haben. Was mir allerdings nicht aufgefallen wäre, da dieser Zusammenhang den Kindern anscheinend gar nicht bewusst ist. Sciffi hat mich darauf aufmerksam gemacht.“
„Der Reggae-Typ?“
Manne nickte. „Was für die Kids nur Spiele sind, ist für gewisse Leute was ganz anderes. Meint Sciffi.“
„Und das erzählst du mir erst jetzt?“
„Weil du gefragt hast. Weil ich mehr darüber auch noch nicht weiss. Weil Sciffi immer so auf ‘ner Meta-Ebene unterwegs ist. Versuch den mal auszuquetschen …“
Diesen Sciffi, auch wenn der hier des öfteren zu Gast war, kannte Schell nur flüchtig. Ein hagerer junger Rastafarianer mit langen Dreadlocks und dem Gesicht eines indischen Asketen. Ausser dass er einer Reggae-Band angehörte, wusste Schell lediglich, dass Manne gern mit ihm über Science Fiction fachsimpelte und dass seine Besuche meistens auch etwas mit Cannabis-Lieferungen zu tun hatten.
Reality-Spiele, die über Schells Bureau irgendwie miteinander verbunden waren?
Schell staunte vor sich hin. „Ich bin sowas von ahnungslos … Ob du’s mir glaubst oder nicht, Manne, ich weiss nicht einmal, was überhaupt Reality-Spiele sind.“
„Glaub ich dir. Glaube aber auch, dass du es nur deshalb nicht weisst, weil du es nicht wissen willst. Und womöglich gehört das dazu – zu dem level, meine ich, auf dem du spielst.“
Ich spiele nicht, dachte Schell, und sagte „Wie auch immer“.
Während er Beppo beim Hantieren an der Spülmaschine zusah, hatte er das Gefühl, wie nach langer Zeit zurückgekehrt zu sein. Das Ereignis erschien ihm in weite Ferne gerückt.
Wie angenehm es hier ist, dachte er. Wie zuhause.

Diese große Wohnküche im Hauptgebäude ist das Zentrum der Tankstelle. Die Räume dahinter bewohnen Barumiru, der Mechaniker, und Drita, seine Frau, sowie drei von den Jugendlichen, den sogenannten Schwererziehbaren. Im Obergeschoss wohnen Manne und Uschi mit den Kindern: dem gemeinsamen Töchterlein und den Söhnen von Uschi, sechzehn- und achtzehnjährig; deren Vater, ein Künstler, auch auf dem Gelände haust, in einer Garage, die er zum Atelier umfunktioniert hat. Des weiteren wohnen, auf die Nebengebäude verteilt, noch vier weitere junge Schwererziehbare auf der Tankstelle, sowie ausser Schell und dem erwähnten Beppo noch ein gewisser Raschid, Marokkaner, und eine Hippie-Dame, Lady Rainbow genannt. Zuletzt ist noch an jenen Gottfried Nolte zu erinnern, der einen der Wohnwägen auf der Wiese hinterm Schrottplatz bewohnt, sehr oft aber auf Reisen ist.
Abends in der Küche, auch wenn nur selten alle zum gemeinsamen Essen da sind, ist Chaos der Normalzustand, und sich darin zu entspannen, bedarf es überdurchschnittlicher Nervenstärke. Entsprechend hatte Schell, als er vor bald zwei Jahren hier eingetaucht war, eine Weile gebraucht, diese chaotische Geselligkeit schätzen zu lernen; nämlich bis er begriffen hatte, worum es hier eigentlich geht.
Nicht nur ist diese Tankstelle ein Unterschlupf für gesellschaftliche Randgestalten, sondern vor allem ein Ort, an dem es jenen „schwererziehbaren“ Jugendlichen möglich wird, sich selber soweit ernst zu nehmen, dass sie es schaffen, aus ihren Karrieren als Problemfälle auszusteigen und sich von der staatlichen Fürsorge abzunabeln. Niemand versucht sie hier zu erziehen, niemand stellt ihnen Bedingungen. Dafür, dass Manne und Uschi ihnen diesen Ort bieten, mietfrei, haben sie sich lediglich an das Toleranzgebot zu halten, und das ist, weil natürlich Streitigkeiten an der Tagesordnung sind, allen geläufig, diese einzige Regel nämlich: Jeder ist okay. Wer diese Regel missachtet, ist nicht okay und fliegt raus.
Schell vermutet, dass hier das Zusammenleben deshalb so gut läuft, weil die Wesensart, die Manne und Uschi gleichermaßen auszeichnet – sie sind zwanglos, großzügig, hilfsbereit –, irgendwie auf die ganze Tankstellengemeinde abfärbt. Weshalb vermutlich auch die Firma Mannes Taxi gut floriert. Denn besagte Wesensart scheint sich irgendwie auch den Geschäftspartnern, den Fahrern und den Kunden mitzuteilen. Irgendwie? Nein. Das Gesetz, nach dem das funktioniert, ist das Gesetz der Resonanz.
Ausser den vier Autos, die den regulären Taxibetrieb bestreiten, sind zwei Luxuslimousinen für Stammkunden im Einsatz, sowie das sogenannte Retro-Taxi, das Schell meistens fährt: ein gut erhaltener schwarzer Heckflossen-Mercedes aus den 1970ern, den Manne, als er noch im Haschisch-Handel tätig war, beim Pokern gewonnen hat. Und dass diese Flotte stets bestens in Schuss ist, verdankt sich dem Werkstatt-Team, bestehend aus Barumiru, einem unkomplizierten Alleskönner aus Rumänien, und Beppo, dem stummen Elektronik-Genie.
Zwar liesse der Betrieb sich ohne weiteres vergrößern, doch haben Manne und Uschi beide nicht die Neigung, sich zu überarbeiten, und sind der Meinung, was der Laden einbringt, reicht. Daher auch die Regelung, dass wenn sie die Arbeit im Büro satt haben, Funk und Telefon einfach umgestellt werden auf die Zentrale eines anderen, größeren Taxi-Unternehmens, über welche generell auch der Nacht-Service von Mannes Taxi läuft.

In der mit Gerätschaften für Krafttraining und Kampfsport ausgestatteten ehemaligen Lkw-Werkstatt, schlicht der „Schuppen“ genannt, war es kalt. Schell wärmte sich mit Seilspringen auf, bevor er sich die Hände bandagierte und am Sandsack weitermachte.
In jungen Jahren war er im Boxverein gewesen und die Grundlagen des klassischen Boxens hatte er noch intus. Doch bevor er damit vor kurzem wieder angefangen hatte, trainingshalber, hatte er rund fünfzehn Jahre gar nicht mehr geboxt, und insofern nahm er sich selbst als Kampfsportler nicht eigentlich ernst im Vergleich zu Manne und Nolte.
Nolte war Kickboxer und als solcher auf hohem Niveau, soweit Schell das beurteilen konnte, und für Manne war ja Kung Fu so etwas wie ein way of life. Beide – Nolte, wenn er nicht gerade verreist war – trainierten hier jeden Tag, und von den Jugendlichen konnten alle, die Lust dazu hatten, mittrainieren und sich gezielt auch etwas beibringen lassen.
Während Schell gegen Manne immer wieder gern ein Kämpfchen wagte, auch wenn klar war, dass er keine Chance hatte, je eins zu gewinnen, hätte er es nicht gewagt, Nolte herauszufordern. Wenn Manne sich das gelegentlich getraute, so nur deshalb, weil er sicher sein durfte, dass Nolte sich ihm gegenüber genauso zurückhielt, wie er seinerseits sich Schell gegenüber zurückhielt.
Als Manne in den Schuppen kam, pfiff Schell die Erkennungsmelodie jener alten Fernseh-Serie, durch die das Kung Fu in den 1970er Jahren der Jugend in den westlichen Ländern bekannt wurde; sein inzwischen übliches Zeichen, dass er auf einen Kampf aus war. Manne half ihm, die Boxhandschuhe zu verschnüren – er selber benutzte nie welche –, und los ging’s.
Eine Runde dauerte bei ihnen solange, bis Schell auf irgendeine Weise zu Boden ging oder vor lauter effektlosen Schlagkombinationen so ausgepumpt war, dass er aufgeben musste. Selten schaffte er mehr als drei Runden, und während ihm das alles abverlangte, was er an Kondition hatte, war Manne kaum mehr als eine etwas vertiefte Atmung anzumerken. Und wenn es ihm sogar gelang, den einen oder anderen Treffer zu landen, so war klar, dass Manne das nur zuliess, um ihn dadurch bei Laune zu halten. Hätte Schell also ernstlich einen Ehrgeiz gehabt, hätten diese Kämpfe ihn reichlich frustriert.
Als sie nach der ersten Runde pausierten, sagte Manne: „Ich werd aus dir nicht schlau, Alter. Du wirkst inzwischen so beherrscht. Als sei für dich der ganze Spuk mit Schells Bureau schon irgendwie vorüber. Mich, ehrlich gesagt, beschäftigt das tagtäglich.“
Schell nickte erstmal nur vor sich hin. Dann gab er zur Antwort: „Ich weiss nur, dass der Schell, den du hier ‘rumboxen siehst, der Taxifahrer, zu eingeschränkt ist, zu begrenzt, zu klein, um zu begreifen, was durch das Ereignis in Gang gekommen ist. Doch haben seine vergeblichen Versuche, es zu begreifen, zu einem Resultat geführt: Er hat sich an die Beschränktheit seines Verstandes gewöhnt. Das Nichtbegreifen ist für ihn nicht mehr der Ausnahmezustand, sondern Normalität. Eine etwas andere als seine bisherige Normalität. Es ist da eine Distanz entstanden, und das jedenfalls kann er dir verraten: diese Distanz macht echt einen Unterschied.“
„Verstehe. Er spricht von sich selber in der Dritten Person Singular, das heisst: sieht sich als jemand anderen.“
Identifiziert sich also nicht mehr mit dem Protagonisten seiner Story, dachten sie beide, ohne es auszusprechen – oder genau anders herum: ist mit diesem Protagonisten jetzt etwa erst recht identisch?
Schell schlug seine Handschuhe gegeneinander. „Komm, machen wir weiter!“
Diesmal vermochte er seine Konzentration ziemlich lange aufrechtzuerhalten, bis Manne ihn mit einem Fußfeger zu Fall brachte.
Während er sich von dieser zweiten Runde erholte, nutzte Manne die Pause für ein paar Muskeldehnungen und fragte schliesslich: „Reicht’s dir eigentlich gar nicht hier? Ich meine, wird dieses Frankfurt dir nicht langweilig? Man könnte sich vorstellen, dass du mal ‘ne Abwechslung vertragen könntest.“
„Verstehe ich, worauf du anspielst?“
„Du bist doch früher viel gereist. Jetzt bist du ewig nicht mehr weg gewesen. Ob es dir nicht gut täte, frage ich mich, dein Einsiedlerleben hier mal zu unterbrechen?“
Schell nickte. „Habe ich mich auch schon gefragt. Man bräuchte allerdings das Bedürfnis, ein gewisses Fernweh oder so. Wenn ich aber in den Himmel schaue, die vielen Flugzeuge sehe, mir die ganzen Leute vorstelle, wie sie überall Urlaub machen …“
„So gesehen, klar. Doch man kann ja auch noch anders verreisen.“
„Ach, Manne.“
„Denk einfach mal drüber nach. Und dass es jedenfalls nicht am Geld scheitern sollte. Uschi hatte nämlich die Idee: Lass uns dem Schell ‘ne Reise spendieren, und die Idee ist einfach gut, finde ich.“
„Blödsinn. Ich hätte genug Geld, um zu verreisen.“ Schell schlug eine Gerade in Richtung Mannes Kopf, so ansatzlos wie ihm nur irgend möglich, und Manne, mit einem Minimum an Bewegung, wich ihr aus und grinste. „Denk trotzdem drüber nach.“ Und damit widmeten sie sich der dritten Runde.

Schell, als er später mit dem Taxi unterwegs war, stellte sich die Erdkugel vor; rief sich die Kontinente vor Augen, die größten Gebirgsketten und Flüsse, die Umrisse von verschiedenen Ländern und Inseln, und liess seinen Blick aus der Vogelperspektive über Landschaften, Küsten und Städte schweifen, die ihn besonders interessierten. Von vielen Gegenden hatte er nur sehr vage oder auch gar keine Vorstellungen, und von sehr vielem, was er bildlich vor sich sah, wusste er sofort, dass es klischeehaft war, veraltet, beschönigt, aus Fotos und Filmen hervorgegangen, und garantiert nicht der gegenwärtigen Realität entsprach. So aber wie in meiner Vorstellung, dachte er, gefällt mir unser Globus ganz gut …

Als Uschi sich abends in der Küche zum Essen neben ihn setzte, deutete er ihren fragenden Blick so, dass er sagte: „Ich ziehe es in Erwägung. Denn mal wieder zu verreisen, warum nicht? Aber da ich ja Geld verdiene, wie ihr wisst, und meine Ausgaben minimal sind, habe ich genug, um eine Reise selber zu bezahlen.“
„Verstanden“, sagte Uschi. „Sehe dich sowieso nicht im Orient Express oder einem Palace Hotel; eher im Kaukasus bei irgendwelchen Ziegenhirten am Feuer.“
„Ja, das könnte mich schon reizen …“ Er schaute zu Beppo hinüber. Der saß da zwischen Barumiru und Drita wieder ganz normal beim Essen, und Schell staunte aufs neue.
„Unglaublich“, sagte er zu Uschi, „ich war die letzten Monate sowas von weggetreten, dass ich tatsächlich bis gestern Abend nicht bemerkt habe, dass Beppo inzwischen hier wie selbstverständlich mit am Tisch sitzt.“
„Na ja, noch nicht so ganz wie selbstverständlich. Du wirst schon mitbekommen, wie er manchmal, wenn’s ihm zuviel wird, so eine bestimmte Gebärde macht, um sich zu beruhigen, oder auch abrupt einfach verschwindet.“
„Meinst du das da?“
Beppo hatte sein Essbesteck niedergelegt und hob langsam beide Hände bis in Brusthöhe, und hielt sie ausgebreitet, die Innenflächen nach unten, so als würde er etwas großes rundes halten, einen Ball etwa, und ihr Zittern dabei wirkte wie durch eine Überanstrengung hervorgerufen.
Uschi sagte leise: „Er hat irgendwie gespürt, dass wir über ihn reden. Glaube ich zumindest. Und jetzt siehst du’s … Ich finde, er drückt damit aus: Alles too much.“
„Ja“, entgegnete Schell, ebenfalls leise, „als hätte er unserem Planeten die Hände aufgelegt, und die zittern deshalb so, weil die ganze Erdkugel dermaßen am Vibrieren ist.“
„Und er muss das alles halten …“
Dem geht’s wie mir, dachte Schell. Wenn ich an das Ereignis denke und mit einer einzigen Gebärde ausdrücken sollte, wie sich das anfühlt, käme nur diese, Beppo’s Gebärde, infrage.
Uschi: „Wenn er das macht, ist ihm gerade bewusst geworden, dass er es hier und jetzt mit uns allen zusammen nicht mehr lange aushält. Du wirst sehen, gleich verzieht er sich.“
Und so war’s.
Wie wenn Barrieren, dachte Schell, die man nie bemerkt hat, plötzlich wegfallen und sich so etwas wie eine Totalerfassung unaufhaltsam anbahnt. Nichts läuft mehr schön der Reihe nach, man muss alles gleichzeitig erfassen. Als hätte man alles auf einmal vor sich. Nichts gegen so eine große Zusammenschau, sofern man sie kontrollieren kann. Doch wenn sie unkontrolliert über einen hereinbricht?
Das war es ja, was Schell sich während der letzten Monate beigebracht hatte: sich von solchen Zuständen der Zusammenschau nicht überwältigen zu lassen, sondern jedesmal, wenn sie zu einem übergroßen Alles-auf-einmal anzuwachsen drohten, einen Schlusspunkt zu setzen, indem er sich auf das Machtwort konzentrierte. Könnte doch sein, dachte er, dass wenn Beppo dergleichen ähnlich so erlebt, seine Gebärde auch diese Funktion hat: ihn vor der Überwältigung zu schützen, vorm Durchknallen …

Rund um den langen Tisch voller Teller und Töpfe gingen wie immer Gespräche und Gewitzel durcheinander; niemand sonst schien von Beppo Notiz genommen zu haben, auch Drita nicht, neben der er gesessen hatte; die lebhaft die ganze Zeit zur anderen Seite hin auf Manne einredete, der ihr zuhörte und nur hin und wieder nickte. Wie Uschi erläuterte, versuchte Drita mal wieder, Manne für ihre Pläne zu begeistern, wie sie den kleinen Gemüsegarten, den sie auf dem Gelände hinterm Schrottplatz angelegt hatte, zu vergrößern gedachte. „Letztlich will sie ein Gewächshaus, glaube ich.“ Und Schell fand: „Gute Idee.“
Sie hatten fertig gegessen und Uschi, während sie sich eine Zigarette drehte, sagte: „Du guckst irgendwie so, weiss nicht … fragend. Als ob du dich die ganze Zeit wunderst.“
„Hm, ja … Manne zum Beispiel.“ Der alte Kiffer …
„Was ist mit dem?“
„Habe ihn den ganzen Abend noch gar keinen Joint rauchen sehen.“
„Weil er mit dem Kiffen aufgehört hat.“
Schell schaute sie groß an; dann zu Manne hinüber, sprachlos.
„Ach. Das hast du auch nicht mitgekriegt?“
Schell kopfschüttelnd: „Unglaublich.“
„Tja, Schell, die Sache mit dir, dieses Internet-Ding, was du das Ereignis genannt hast, das hat auch den Manne ganz schön durchgeschüttelt; und er ist davon immernoch ziemlich irritiert; fast schon paranoid manchmal.“
„O je. Dann ist jedenfalls gut, dass er nicht mehr kifft.“
„Kann man wohl sagen. Und du selber?“
„Ein Bier. Eins. Ist, was ich höchstens noch vertrage. Und mal ‘ne Zigarette vielleicht.“
Worauf sie ihm ihren Tabak rüberschob.
„Danke“, sagte er. „Und danke überhaupt.“
Sie winkte ab; zündete ihre Selbstgedrehte an, dann schaute sie suchend umher. „Hast du Rex gesehen?“
Rex! – Schell zutiefst bestürzt: Wann hatte er den guten alten Rex zum letztenmal bewusst wahrgenommen? Das musste Monate her sein! Er bückte sich, um unterm Tisch nachzusehen. „Rex … Ja, verdammt, wo ist der?“
Rex war eigentlich immer in der Küche, wenn hier was los war.
„Zu uns nach oben, die Treppe rauf, schafft er es inzwischen nicht mehr“, sagte Uschi, „und an manchen Abenden bleibt er neuerdings auch lieber drüben im Büro liegen.“
Also ging Schell da noch rüber, wenig später, bevor er sich in seine Bude zurückzog, und hörte auch gleich das wohlbekannte Geräusch, wie der greise Rex, auf der Seite liegend, mit dem Schwanz, statt zu wedeln, gemächlich auf den Boden klopfte. „Hey, Alter“, Schell ging in die Hocke, „bin von weit, weit weg wieder zurück“, und kraulte ihn bedächtig.

B.3

Dem Machtwort auf der Spur

Mit dem Ereignis hat das gewohnte Leben aufgehört. Mein Sinn für das, was wirklich ist – gelähmt. Das mir bisher Alltägliche, Normale, ist unwirklich, mysteriös geworden; und was mir als besonders unwirklich-mysteriös daran erscheint, ist, dass es schlicht weiterläuft so wie gehabt.
Freund Manne hat an jenem Abend, als „es sich ereignete“, jene alte Anschauung ins Spiel gebracht, derzufolge wir eigentlich alle Gestorbene sind, und warum, wird mir immer klarer. So herum die Welt zu sehen, hat für den Alltagsverstand keinen Gebrauchswert, und bevor er nicht erst gehörig erschüttert wird, dieser Alltagsverstand, liegt ihm bestimmt nichts ferner als sich freiwillig dafür zu interessieren, was jene Anschauung eigentlich meint – dass nämlich, wenn das hier das Totenreich ist, wir auch einem Reich der Lebenden angehören, weil wir sonst uns gar nicht als Gestorbene erkennen könnten.
Dich als gestorben zu betrachten, ist jedenfalls mal ein Anfang.
Es ist der Imperator, der das zum besten gibt, der Römer Marc Aurel, durch den ich in puncto Selbstbeherrschung die größte Unterstützung erfahre. Seine berühmten Selbstbetrachtungen, ein handliches Büchlein, hatte ich während der Jahre, in denen ich viel auf Reisen war, immer im Gepäck, und so ist mir mit der Zeit wie nebenbei die Zwiesprache mit ihm zur Selbstverständlichkeit geworden.
Es war ihm kein Vergnügen, den Kaiser zu spielen, vielmehr eine Bürde. Damals, im zweiten Jahrhundert nach Christi, hatte das Römische Reich seine größte Ausdehnung erreicht. Die Dekadenz war schon in vollem Gange, in den Katakomben gärte das Neue; die Idee „Rom“ als Vorbild für die anderen Völker war verbraucht. Entsprechend wagte man Aufstände überall, und weil dadurch für den Kaiser als Oberbefehlshaber der Armee die militärische Sicherung des Imperiums von höchster Priorität war, sah er sich gezwungen, so ziemlich seine gesamte Regierungszeit in den diversen Kriegsgebieten zu verbringen.
Was er da in seinen Mußestunden zu Papier brachte, immer schwankend zwischen Idealismus und Zweifel, Resignation und Zuversicht, zeugt von dem ständigen Versuch, sich gedanklich klar seines Standpunktes zu vergewissern und dadurch, aus der eigenen Denkkraft heraus, Trost, Erbauung und Antrieb zu schöpfen. Es drückt sich da eine Haltung aus, die der ursprünglichen Philosophie noch nahe genug ist, um den menschlichen Verstand als Teil der kosmisch-göttlichen Vernunft zu verstehen, die andererseits aber schon ganz in dem sich seiner selbst bewussten Einzel-Ich verankert ist; eine Geisteshaltung, die verlangt, permanent Rechenschaft abzulegen vor sich selbst, sich anzuschauen im Lichte der Selbstbewusstheit und sich zu verantworten vor der eigenen Erkenntnis.
Was sich mit einer derart ernsthaften Selbsterkenntnis am wenigsten verträgt, ist die Selbstsucht, und entsprechend gibt es für den, der diesen Weg beschreitet, kein höheres Ideal als die Selbstüberwindung. Verständlich also, dass es nicht Sache dieses Mannes sein konnte, einfach das Leben zu genießen – er hätte sich ja ohne weiteres auf einem wohltemperierten Inselchen im schönen Mittelmeer der philosophischen Literatur widmen können –, sondern dass er es vorzog, seine ungeliebte Pflicht als Oberhaupt Roms zu erfüllen, nämlich von ungemütlichen Feldlagern aus die imperiale Politik zu leiten, das heisst den Dauerkrieg, und dieses ihm durchaus Ungelegene sich zur Gelegenheit zu machen, seine Weltanschauung zu verwirklichen, sich also als stoischer Philosoph zu bewähren.
Mögen wohl formale Brillanz, Systematik und logischer Gehalt stark beitragen zur Überzeugungskraft philosophischer Gedanken, ihr Wahrheitswert aber erweist sich erst in dem, was sie im Alltäglichen bewirken. Jemand wie Marc Aurel, der im Geiste der Stoa vor allem auf ein moralisch richtiges Handeln bedacht war, musste sich sagen: Die Rolle, die zu spielen ich berufen bin, ist Sache der Geburt, ist Schicksal; darin aber, wie ich sie ausfülle, bin ich frei. Ich kann darin Meisterschaft anstreben oder es auch verderben, indem ich dieses Potenzial schnöde ignoriere. Er, der Autor der Selbstbetrachtungen, in der Rolle des Imperators, wollte es auf keinen Fall verderben, und warum, das verstand sich nicht von selbst, das musste er sich immer wieder klar machen. Dazu diente ihm das Schreiben.
Diese Art des Marc Aurel, per Selbstgespräch immer wieder wie einzukehren ins eigene denkende Ich und dadurch beruhigend auf die Seele einzuwirken, hat für mich die Vorbildfunktion nicht erst, seit mich das Ereignis durchschüttelt, sondern hatte sie auch schon vorher, insbesondere während der Zeit mit Ingrun, meiner Ex. Denn wie mir unlängst auffiel, ist das Ereignis nicht das erste Etwas, über das nachzudenken ich mich weigere, indem ich versuche, um es herum zu denken …
Als ich mit Ingrun zusammen lebte, mochte ich nicht zurückblicken auf das, was für mich vorher von großer Bedeutung war, nämlich meine Mitarbeit im Mayer-Tong-Kollektiv. Das änderte sich erst nach unserer Trennung, da blickte ich dann auf jene Mayer-Tong-Sache zurück, um mich vom Rückblick auf die Zeit mit Ingrun abzulenken. Während mir nun, gut ein Jahr später, dieser Rückblick auf die Ingrun-Ära gerade recht kommt, um mich vom Ereignis abzulenken.
Hat es vielleicht schon immer etwas gegeben, an das ich nicht denken wollte? Gehört womöglich die Methode, durch Drumherumdenken das Wesentliche zu vermeiden, auch zum Selbstverständlichen? Ich ahne, dass es auch schon damals, als ich dem Mayer-Tong-Kollektiv angehörte, etwas gab, auf das ich nicht zurückzublicken wagte, und davor ebenfalls etwas, wie womöglich auch schon davor …

So wie ich schliesslich davon überzeugt war, Ingrun sei einem Wahn verfallen, war sie, wie sich herausstellte, was mich anging zu derselben Überzeugung gekommen. So einfach plötzlich, was über Jahre hin ein aufreibender, unerklärlicher Konflikt gewesen war: Wenn zwei Menschen sich gegenseitig für wahnsinnig halten – und beide sich selbst natürlich für völlig normal –, heisst das doch, beide sind wahnsinnig. Und was musste ich daraus folgern? Dass ich tatsächlich allen Grund hatte, an meinem Verstand zu zweifeln.
Wie es dazu kommen konnte, ist eine längere Geschichte; eine, die sich aufgrund ihrer exotischen Details zwar zu einer interessanten Erzählung machen ließe, die aber doch nur dem klassischen Muster folgte: In der anfänglichen Verliebtheit empfanden wir die gegenseitige Beeinflussung genussvoll als Steigerung, Entgrenzung, ja Erlösung. Doch wie jedem Rausch folgte auch diesem die Ernüchterung. Bald fühlten wir uns nicht mehr liebevoll beeinflusst, sondern egoistisch seitens des anderen manipuliert. Was uns zuvor Genuss war, schlug um ins Gegenteilige, machte uns beschränkt, berechnend, abhängig. Aus dem Verliebtsein war Verstrickung geworden, und ohne dass wir es bemerkten, befanden wir uns gegeneinander im Kampf. Während wir nach aussen hin das perfekte Paar präsentierten – und uns das auch selber noch durchaus vorzuspielen wussten –, war unser gemeinsamer Alltag schon gänzlich von Zwanghaftigkeit bestimmt, von Vorsicht, von kleinlichem Taktieren und doppeltem Spiel. So entpuppte sich das, was wir vor kaum zwei Jahren für Liebe gehalten hatten, als ein Irrtum, folgenschwer genug, dass wir fast noch einmal zwei Jahre brauchten, um da wieder herauszufinden.
So sehe ich es heute. Doch bin ich wirklich schon in sicherem Abstand dazu? Dass sich meine Pulsfrequenz gerade erhöht, spricht eindeutig dagegen. Wenn eine so kluge Frau wie Ingrun es darauf anlegt, jemanden in den Wahnsinn zu treiben, dann …
Womöglich hatte ich damals allen Grund, paranoid zu sein.
Einmal hatten wir uns eine Streiterei um den Begriff des Ich geleistet – einen Schlagabtausch der Serie Psychologie-versus-Philosophie –, und um meinen Ich-Begriff auf den Punkt zu bringen, las ich ihr aus meinem Marc Aurel den schönen Satz über den „führenden Seelenteil“ vor; worauf sie mir verächtlich hinwarf, ich hätte ja alles nur aus Büchern, wohl wissend, dass das kein Argument, sondern ein Angriff war; wohl wissend vor allem, dass ich genau verstand, worauf dieses ihr bewusstes Missverstehen berechnet war: mich in Ohnmacht zu versetzen, in Wut und Rachestimmung.
Ein Jammer, dass ich das noch alles so genau erinnere, dafür aber das mit dem „führenden Seelenteil“ gar nicht mehr zusammenbringe … Würde das jetzt gerne nachlesen, zur Beruhigung, doch sämtliche Bücher, und leider auch den Marc Aurel, musste ich damals bei meinem fluchtartigen Abgang in Ingrun’s Wohnung zurücklassen; wie im übrigen, vom Laptop abgesehen, alles, was ich an jenem Abend nicht gerade am Leibe trug.
Ich habe zwar mit ihr noch telefoniert, doch eine Übergabe meiner Sachen kam dadurch nicht zustande. Kein Wunder, denn ungeachtet der Frage, was davon ich wirklich brauchte, lag mir daran, ihr zu demonstrieren: ich brauche das alles nicht!
Zuletzt hatte sie behauptet, sie habe meinen ganzen Kram in Kartons gepackt und von Mahmoud, einem gemeinsamen Freund, abholen lassen. Unter der Telefonnummer, die sie mir nannte, konnte ich Mahmoud allerdings nie erreichen. Da meldete sich immer nur eine anonyme Mailbox, und es kam bis heute noch kein Rückruf. Ich kann mir vorstellen, dass Mahmoud – falls Ingrun ihm wirklich meine Sachen übergeben hat – mich hin und wieder über dieselbe falsche Nummer zu erreichen versucht.
Leider hatte ich diesen Mahmoud nicht so oft getroffen, als dass er mir schon Freund genug geworden wäre, um auch ausserhalb von Ingrun’s Umkreis mit ihm zu verkehren; leider, denn er war der einzige in diesem Kreis, der mir auf Anhieb höchst sympathisch gewesen war. Da wir uns immer nur auf Partys gesehen und uns da stets nur über weltgeschichtliche Themen ausgetauscht hatten, weiss ich an Faktischem über Mahmoud nur wenig. Er ist Perser; in Wien aufgewachsen; Facharzt für Nierenheilkunde; spielt Trompete und hat ein Faible für Bauchtanz-Darbietungen.
Dass ich Mahmoud wiedersehe und also meiner Sachen wieder habhaft werde, wird immer unwahrscheinlicher. Doch vermisse ich überhaupt etwas? Habe ich etwas verloren? Tatsächlich ja all das, was ich bisher geschrieben hatte, mein Werk. Alles übrige war nicht schwer zu verschmerzen, meine Büchersammlung zum Beispiel, die Erinnerungsfotos oder allerlei wichtige Dokumente – im Grunde bin ich sogar froh, den ganzen Krempel los zu sein. Mich hingegen mit dem Verlust meines Schreibwerks abzufinden, scheint mir für die Loslösung von Ingrun ein Preis zu sein, der mir immernoch als der denkbar höchste vorkommt. Wenn ich mir auch sage: Es sind nur Worte auf Papier, aus denen dein Verlust besteht, so kann ich doch nicht absehen vom Teil des Lebens, der darin steckt, von all der Zeit.
Es musste aber letztlich so sein, damit ich nach der Ära Ingrun wirklich neu beginnen konnte. Dafür ist mir jener Moment an unserem letzten Abend zum Sinnbild geworden: Wir hatten heftig gestritten und ich war, von ihrem Gesichtsausdruck entsetzt, zurückgewichen; ins Arbeitszimmer, um mir meine Jacke zu schnappen, die Brieftasche und meinen Rechner – denn ich ahnte es: Endstation –; und langsam, rückwärts, wie benommen, aus der Wohnung, und dann hastig die Treppen hinunter. Ich schaute von der Straße aus nach oben – es regnete – und wie erwartet warf sie mir aus dem Fenster etwas hinterher. Es segelte herab und ich wusste sogleich: meine geliebte alte Kapuzenjacke, in der mir beim Schreiben immer so schön gemütlich war. Kurz war ich versucht, sie aufzuheben, doch befahl ich mir: Lass sie liegen, besiegele damit das Ende!, und machte mich ohne sie davon.
Bisweilen überlege ich, wie es anzustellen wäre, Mahmoud aufzustöbern. Zwar ist mir sein Familienname unbekannt, doch allzu viele Nephrologen mit Vornamen Mahmoud gibt’s in Frankfurt sicher nicht. Ich unternehme in dieser Richtung deshalb nichts, weil der Wunsch, wieder an meine Sachen zu kommen, sich mit dem Wunsch, ihrer ledig zu bleiben, genau die Waage hält.
Auch wenn ich von Mahmoud vielleicht etwas über Ingrun erfahren würde, das ich wissen müsste – denn wenn das Ereignis inszeniert wurde – und das steht ausser Zweifel – und damit also jemand einen Plan verfolgt – und zu diesem Plan gehört, dass ich durchdrehe – dann, ja dann komme ich immer wieder nur auf sie, auf Ingrun – auch wenn klar ist, dass eine solche Inszenierung ihre Möglichkeiten überschreitet – auch wenn, denn das heisst trotzdem – wer weiss mit wem sie sich verbündet hat – wer noch wollen könnte, dass ich mich um den Verstand – oder sollte ich direkt mit ihr Kontakt – oh, mein Puls jetzt aber signifikant
Stop!
Punkt
Wie diese Verfolgungsjagden im Traum, man rennt, rennt und kommt nicht vom Fleck. Qualvoll, meinem Denken dabei zusehen zu müssen, wie es sich in einem Sirup bewegt, einer gewissen Helligkeit entgegen, die mit jedem Schritt vor mir zurückzuweichen scheint, und das ständig drängende Gefühl dabei: Jetzt kommt’s! Bin kurz davor! Gleich wach ich auf! Vergeblich fokussierend auf Bedeutung, auf klaren Sinn, Konkretes, ganz ähnlich wie in jenem Istanbul-Real, in der Szene mit den zwei Mongolen, als ich auf den Zettel fokussierte, der sich kurz bevor zu lesen war, was darauf geschrieben stand, in meinem Kopf zusammenknüllte –
Genug! Erinnere dich, worum es eigentlich geht!
Um das Drumherumdenken. Ums Ablenken vom Unerklärlichen. Um das Ereignis zu ertragen.
Falsch gedacht!
Dann darum, aus dem falschen Denken ins richtige zu kommen. Um das Ereignis zu begreifen.
Ha! Noch lange nicht!
Um Selbstüberwindung? Nein – zu groß, darum geht’s ja prinzipiell und immer. Dann vielleicht darum: Meinen Blutkreislauf zu regulieren. Eine kardiologische Angelegenheit.
Schon besser!
Ah, ich verstehe: das innere Machtwort. Es geht um –
Punkt!

Es dunkelt vor dem Fenster und ich erkenne gerade noch, dass ein wenig Schnee die Trauerweide ziert.
Endlich Stille, denke ich, und bemerke, wie tief erschöpft ich bin.
Das Bemühen die ganze Zeit, meinen Gedanken gegenüber so aufmerksam zu sein, dass ich sie anzuhalten vermag, bevor sie sich in Spekulationen über das Ereignis verlieren, strengt mich enorm an. Mein Denken kommt mir wie ein Labyrinth vor, und diese Spekulationen bilden darin nochmal ein separates Labyrinth, ein kleineres sozusagen, welches das größere, das Denklabyrinth, auf einer höheren Schwierigkeitsstufe wiederholt. Das ist das Gefühl: da etwas wie ein neues geistiges Gravitationszentrum in mir zu haben, dem ich noch nicht gewachsen bin.
Und da, wie um die Vergeblichkeit all meiner Ablenkungsmanöver zu bestätigen, habe ich es plötzlich wieder vor mir, riesiger, chaotischer denn je – das Unerklärliche.
Ich starre dieses Wort an: das Unerklärliche. Repräsentiert durch Schells Bureau. So nah ist es – nur ein paar Klicks, schon wäre ich darin, schon wär’ das Unerklärliche – real.
Und wieder rast mein Herz.
Beruhige dich, so höre ich in mir den Imperator. Vieles ist doch unerklärlich; das meiste sogar; genau genommen eigentlich alles. Und du regst dich auf über ein spezielles Unerklärliches?
Es regte mich nicht auf, würde das eine Unerklärliche ins unerklärliche Gesamtbild passen. Doch kommt das Ereignis einem Riss im Gesamtbild gleich. Wie ist das dem großen Imperator klarzumachen? Schmerzlich wird mir bewusst, dass der Beistand, den ich durch ihn erfahre, seine Grenzen hat. Das Ereignis, für dessen Bedeutsamkeit mir nicht einmal der Begriff der Singularität als übertrieben erscheint, ist für den weisen Alten bloß ein Sturm im Wasserglas.
So ist es – und das sollte dir Beistand genug sein.
Ja, aber –
Ja, aber – der dauernde Einwand – nur dieses einzige kleine Hindernis ist noch zu überwinden. Dann öffne Schells Bureau.
Wie bitte das denn plötzlich? Ich bin doch noch keinen Schritt weiter gekommen, alles in mir ist Tumult!
Du brauchst dir das nicht länger einzureden. Es ist vorbei.
Aber mein Herz rast und ich schreie gleich!
Nichts dergleichen. Einbildung. Selten warst du ferner einem Wahn als jetzt.
Aber mein Herz –
Pocht ganz normal.
– Tatsächlich. Aber das Machtwort, das den Tumult beendet – ich habe es noch nicht gefunden!
Machst du davon nicht längst Gebrauch? Ich bin doch da, der Imperator – ich, der dir gebietet.
Wohl wahr. Verzeih! Aber ich fürchte, der Tumult geht weiter.
Nur zu deinem Besten. Denn damit schützt du das Geheimnis. Erst wenn du aus eigener Kraft imstande bist, deinen Gedanken Stille zu gebieten, brauchst du, um nicht länger auszusprechen, was nicht ausgesprochen werden kann, den Tumult nicht mehr.
Brauche dann aber auch dich nicht mehr, o Imperator.
Wir haben uns verstanden. Das heisst, nun ist es soweit: Öffne Schells Bureau!

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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Wer mich kontaktieren möchte, sende mir eine E-Mail mit dem Vermerk 'Schells Bureau' an: matthias.scheel[at]posteo.de