B.4

Beppo’s Gebärde

Des Imperators Weisung folgend, hatte er Schells Bureau also geöffnet, dabei sich seines Herzschlages bewusst, und gelesen, was da geschrieben stand unter dem Titel Dem Machtwort auf der Spur.
Leere danach; nur Leere.
Kann man sagen, dass einen Leere erfüllt? So nämlich fühlte es sich an.
Es war am frühen Abend gewesen. Er hatte den Rechner ausgeschaltet, das Licht gelöscht, und war durch den verschneiten Hof zum Hauptgebäude hinüber gegangen. In der großen Küche saßen einige der Mitbewohner beim Essen und führten, wie üblich in beträchtlicher Lautstärke, irgendeine Debatte. Er sah sich da hereinkommen; sah sich denen, die ihn bemerkten, zunicken; sah sich am Herd etwas auf einen Teller füllen und sich dazusetzen.
Und alles spielte sich in besagter Leere ab.
Er sah sich da sitzen und essen; sah sich dann auf einem der Sofas in der Fernseh-Ecke ein Bier trinken; und hörte aus seinem Mund, als man ihn ansprach, ein paar freundliche Redewendungen.
Er hatte keine Gedanken, dafür eine noch nie so klare Wahrnehmung der einzelnen Details, aus denen sich die Welt um ihn herum zusammensetzte. Und die ganze Zeit war er sich der Leere bewusst.
An dem Morgen darauf, als er sich mit einem Becher Kaffee an den Tisch setzte und den Rechner startete, hatte er das Gefühl, etwas habe sich grundlegend verändert.
Er klickte Schells Bureau an und es hiess: Vorübergehend nicht verfügbar.
So so, hatte er nur gedacht und sich kaffeeschlürfend der Leere überlassen.
Das Maßlose dieser Leere erfüllte ihn mit Bewunderung, und er verstand: Das war, was der Imperator mit Stille gemeint hatte.
Und sie war geblieben, diese Stille; während der Stunden, die er mit dem Taxi herumgekurvt war, danach beim Jogging, und den ganzen Abend über.
Auch am nächsten Tag blieb Schells Bureau „vorübergehend nicht verfügbar“.
Beim Abendessen sagte Manne zu ihm: „Schells Bureau lässt sich zur Zeit nicht öffnen.“
Schell nickte. „Ich weiss. Vor zwei Tagen bin ich da rein und hab was gelesen. Dem Machtwort auf der Spur. Seitdem ist das Ding gesperrt.“
Manne sah Schell eine Weile versonnen an. „Dieses Machtwort-Kapitel habe ich auch gelesen. Und ich ahne es schon: auch das war nicht von dir.“
„Du sagst es.“
Worauf ihn Manne wieder eine Weile schweigend anschaute. „Es ist also immernoch so? Da erscheinen Texte in diesem Blog, die nur du geschrieben haben kannst – die du aber nicht geschrieben hast?“
„Exakt.“
„Was dir völlig real erscheint, doch nicht real sein kann, und dich deshalb an den Rand des Wahnsinns treibt.“
„Ja, habe ich dem Machtwort-Kapitel auch so entnommen: dass ich wohl kurz vorm Durchknallen war.“
„Höre ich da etwa Ironie heraus?“
„Tja, Manne, was höre ich heraus, wenn du mich Herr des Flyshwerks oder Allwissender Kreator nennst?“
Sie schauten sich über ihre Teller mit Spaghetti hinweg forschend in die Augen.
„Okay, Schell. Ironie beiseite. Für mich bist du jedenfalls der Autor. Nachdem ich das Machtwort-Kapitel gelesen habe, ist mir das nur umso klarer. Es passt hundertprozentig zu deiner desolaten Verfassung in letzter Zeit. Es stellt doch ziemlich übersichtlich den ganzen mentalen Tumult dar, mit dem du dich herumschlägst. Was du Uschi und mir davon erzählt hast – vor allem das mit dem dauernden Herzrasen –, hat uns einigermaßen bedenklich gestimmt.“
„Denke ich mir. Tut mir leid. Wahrscheinlich musstet ihr euch fragen, ob ich für den Taxi-Job überhaupt noch tauge.“
„Wir kamen zu dem Schluss, dass die tägliche Routine dich stabilisiert.“
„Das tut sie. Das Alltägliche hilft am allerbesten. Diese Abende in der Küche unter Menschen. Aber auch, dass ich mit euch darüber reden konnte, über das Unerklärliche, diesen ganzen Tumult, hat mir geholfen, nicht durchzuknallen.“ Er hielt inne. „Glaube ich jedenfalls, dass ich nicht durchgeknallt bin.“
„Glaube ich auch. Und ich staune. Du wirkst inzwischen cool.“
Worauf Schell für eine Weile schwieg. Unmöglich zu reden von der maßlosen Leere, die ihn ergriffen hatte.
„Wie ich es sehe,“ fuhr Manne fort, „bist du mit deinem Tumult deshalb klargekommen, weil du ihn in Worte gefasst hast. Das Machtwort-Kapitel war deine Selbsttherapie.“
„Ach, weisst du, ist man nur lange genug kurz vorm Durchknallen, gewöhnt man sich daran. Jedenfalls hat die Sache inzwischen keinen Einfluss mehr auf meine Pulsfrequenz.“
„Man könnte auch sagen, du hast es als das durchschaut, was es ist – ein Spiel.“
„Ein Spiel?“
„Das du mit dir selber spielst.“
Stimmte das? Hatte er das vergessen? Und war das nicht eigentlich – egal? Schell guckte fragend.
„Du hast etwas in Gang gesetzt“, sagte Manne, „und das ist, was läuft.“
Lange Pause daraufhin.
Schell starrte Beppo an, der gerade den Tisch abzuräumen begann.
„Sehe ich richtig? Beppo? Mitten in diesem Getümmel?“
Sein Autismus hatte es Beppo bisher nicht erlaubt, sich derartig normal zu verhalten.
„Ausser mir scheint sich niemand darüber zu wundern …“
„Weil es schon nichts neues mehr ist“, sagte Manne. „Du hast wohl in letzter Zeit auch manch anderes nicht mitgekriegt …“
„Erklär mir erstmal das mit Beppo.“
„Eurythmie. Seit ‘nem Jahr etwa bringt Uschi ihn jede Woche zu einer Heileurythmistin. Keine Ahnung, was die mit ihm macht, jedenfalls scheint es irgendwie seinem Autismus entgegenzuwirken. Zwar sagt er noch immer nicht viel, beziehungsweise nichts, aber inzwischen isst er hier abends mit uns.“
„Das ist – fantastisch!“
„Sensationell, allerdings. Doch Uschi findet das völlig normal.“
„Ist es gar nicht, meinst du? Ein Wunder sozusagen, dass das dem Beppo hilft?“
„Na ja, weit ab von dem zumindest, was die offizielle Medizin für Autisten parat hat. Ich meine, wer hat schon von Eurythmie gehört? Uschi hat mir erklärt, was das ist, und auch, wie es als Therapie funktioniert. Nur habe ich’s nicht ganz kapiert, muss ich zugeben, und zwar wie Uschi meint: weil ich schon mein Leben lang so ein Kung-Fu-Freak bin.“
Da lachte Schell. „Hey, apropos – wir haben uns schon lange nicht mehr geprügelt.“
Manne, zurückgelehnt, legte sich beide Hände auf den Bauch: „Jederzeit, junger Freund. Nur bitte jetzt nicht.“
Manne war Anfang zwanzig gewesen, als Schell, noch Schüler zu jener Zeit, ihn kennenlernte. Wie schon vor über zwanzig Jahren so ein gewisses Grinsen in seinen Augen typisch für ihn gewesen war, eine unergründliche Mischung aus listiger Durchtriebenheit und treuherziger Unschuld, so reizte wie damals schon seine merkwürdige, an die Popkultur der 1960er erinnernde Haarpracht, die ihm topfartig auf dem Kopf saß, auch heute noch zum Lachen.
Seine gedrungene Statur hatte mit den Jahren eine gewisse Behäbigkeit angenommen, die erstaunlicherweise aber seine geschmeidige Art sich zu bewegen durchaus nicht minderte; was wohl daher kam, dass er jeden Tag Kung Fu trainierte.
„Sag mal, Manne, wie hast du damals Schells Bureau überhaupt gefunden?“
„Um mich auf dem Laufenden zu halten, lasse ich mir von den Kindern hin und wieder zeigen, was sie gerade spielen. So habe ich von Matoxa gehört, vom Service of Intelligence, von Flysh und so weiter. Das sind spezielle Reality-Spiele, die miteinander zusammenhängen, und zwar indem sie alle eine Verbindung zu Schells Bureau haben. Was mir allerdings nicht aufgefallen wäre, da dieser Zusammenhang den Kindern anscheinend gar nicht bewusst ist. Sciffi hat mich darauf aufmerksam gemacht.“
„Der Reggae-Typ?“
Manne nickte. „Was für die Kids nur Spiele sind, ist für gewisse Leute was ganz anderes. Meint Sciffi.“
„Und das erzählst du mir erst jetzt?“
„Weil du gefragt hast. Weil ich mehr darüber auch noch nicht weiss. Weil Sciffi immer so auf ‘ner Meta-Ebene unterwegs ist. Versuch den mal auszuquetschen …“
Diesen Sciffi, auch wenn der hier des öfteren zu Gast war, kannte Schell nur flüchtig. Ein hagerer junger Rastafarianer mit langen Dreadlocks und dem Gesicht eines indischen Asketen. Ausser dass er einer Reggae-Band angehörte, wusste Schell lediglich, dass Manne gern mit ihm über Science Fiction fachsimpelte und dass seine Besuche meistens auch etwas mit Cannabis-Lieferungen zu tun hatten.
Reality-Spiele, die über Schells Bureau irgendwie miteinander verbunden waren?
Schell staunte vor sich hin. „Ich bin sowas von ahnungslos … Ob du’s mir glaubst oder nicht, Manne, ich weiss nicht einmal, was überhaupt Reality-Spiele sind.“
„Glaub ich dir. Glaube aber auch, dass du es nur deshalb nicht weisst, weil du es nicht wissen willst. Und womöglich gehört das dazu – zu dem level, meine ich, auf dem du spielst.“
Ich spiele nicht, dachte Schell, und sagte „Wie auch immer“.
Während er Beppo beim Hantieren an der Spülmaschine zusah, hatte er das Gefühl, wie nach langer Zeit zurückgekehrt zu sein. Das Ereignis erschien ihm in weite Ferne gerückt.
Wie angenehm es hier ist, dachte er. Wie zuhause.

Diese große Wohnküche im Hauptgebäude ist das Zentrum der Tankstelle. Die Räume dahinter bewohnen Barumiru, der Mechaniker, und Drita, seine Frau, sowie drei von den Jugendlichen, den sogenannten Schwererziehbaren. Im Obergeschoss wohnen Manne und Uschi mit den Kindern: dem gemeinsamen Töchterlein und den Söhnen von Uschi, sechzehn- und achtzehnjährig; deren Vater, ein Künstler, auch auf dem Gelände haust, in einer Garage, die er zum Atelier umfunktioniert hat. Des weiteren wohnen, auf die Nebengebäude verteilt, noch vier weitere junge Schwererziehbare auf der Tankstelle, sowie ausser Schell und dem erwähnten Beppo noch ein gewisser Raschid, Marokkaner, und eine Hippie-Dame, Lady Rainbow genannt. Zuletzt ist noch an jenen Gottfried Nolte zu erinnern, der einen der Wohnwägen auf der Wiese hinterm Schrottplatz bewohnt, sehr oft aber auf Reisen ist.
Abends in der Küche, auch wenn nur selten alle zum gemeinsamen Essen da sind, ist Chaos der Normalzustand, und sich darin zu entspannen, bedarf es überdurchschnittlicher Nervenstärke. Entsprechend hatte Schell, als er vor bald zwei Jahren hier eingetaucht war, eine Weile gebraucht, diese chaotische Geselligkeit schätzen zu lernen; nämlich bis er begriffen hatte, worum es hier eigentlich geht.
Nicht nur ist diese Tankstelle ein Unterschlupf für gesellschaftliche Randgestalten, sondern vor allem ein Ort, an dem es jenen „schwererziehbaren“ Jugendlichen möglich wird, sich selber soweit ernst zu nehmen, dass sie es schaffen, aus ihren Karrieren als Problemfälle auszusteigen und sich von der staatlichen Fürsorge abzunabeln. Niemand versucht sie hier zu erziehen, niemand stellt ihnen Bedingungen. Dafür, dass Manne und Uschi ihnen diesen Ort bieten, mietfrei, haben sie sich lediglich an das Toleranzgebot zu halten, und das ist, weil natürlich Streitigkeiten an der Tagesordnung sind, allen geläufig, diese einzige Regel nämlich: Jeder ist okay. Wer diese Regel missachtet, ist nicht okay und fliegt raus.
Schell vermutet, dass hier das Zusammenleben deshalb so gut läuft, weil die Wesensart, die Manne und Uschi gleichermaßen auszeichnet – sie sind zwanglos, großzügig, hilfsbereit –, irgendwie auf die ganze Tankstellengemeinde abfärbt. Weshalb vermutlich auch die Firma Mannes Taxi gut floriert. Denn besagte Wesensart scheint sich irgendwie auch den Geschäftspartnern, den Fahrern und den Kunden mitzuteilen. Irgendwie? Nein. Das Gesetz, nach dem das funktioniert, ist das Gesetz der Resonanz.
Ausser den vier Autos, die den regulären Taxibetrieb bestreiten, sind zwei Luxuslimousinen für Stammkunden im Einsatz, sowie das sogenannte Retro-Taxi, das Schell meistens fährt: ein gut erhaltener schwarzer Heckflossen-Mercedes aus den 1970ern, den Manne, als er noch im Haschisch-Handel tätig war, beim Pokern gewonnen hat. Und dass diese Flotte stets bestens in Schuss ist, verdankt sich dem Werkstatt-Team, bestehend aus Barumiru, einem unkomplizierten Alleskönner aus Rumänien, und Beppo, dem stummen Elektronik-Genie.
Zwar liesse der Betrieb sich ohne weiteres vergrößern, doch haben Manne und Uschi beide nicht die Neigung, sich zu überarbeiten, und sind der Meinung, was der Laden einbringt, reicht. Daher auch die Regelung, dass wenn sie die Arbeit im Büro satt haben, Funk und Telefon einfach umgestellt werden auf die Zentrale eines anderen, größeren Taxi-Unternehmens, über welche generell auch der Nacht-Service von Mannes Taxi läuft.

In der mit Gerätschaften für Krafttraining und Kampfsport ausgestatteten ehemaligen Lkw-Werkstatt, schlicht der „Schuppen“ genannt, war es kalt. Schell wärmte sich mit Seilspringen auf, bevor er sich die Hände bandagierte und am Sandsack weitermachte.
In jungen Jahren war er im Boxverein gewesen und die Grundlagen des klassischen Boxens hatte er noch intus. Doch bevor er damit vor kurzem wieder angefangen hatte, trainingshalber, hatte er rund fünfzehn Jahre gar nicht mehr geboxt, und insofern nahm er sich selbst als Kampfsportler nicht eigentlich ernst im Vergleich zu Manne und Nolte.
Nolte war Kickboxer und als solcher auf hohem Niveau, soweit Schell das beurteilen konnte, und für Manne war ja Kung Fu so etwas wie ein way of life. Beide – Nolte, wenn er nicht gerade verreist war – trainierten hier jeden Tag, und von den Jugendlichen konnten alle, die Lust dazu hatten, mittrainieren und sich gezielt auch etwas beibringen lassen.
Während Schell gegen Manne immer wieder gern ein Kämpfchen wagte, auch wenn klar war, dass er keine Chance hatte, je eins zu gewinnen, hätte er es nicht gewagt, Nolte herauszufordern. Wenn Manne sich das gelegentlich getraute, so nur deshalb, weil er sicher sein durfte, dass Nolte sich ihm gegenüber genauso zurückhielt, wie er seinerseits sich Schell gegenüber zurückhielt.
Als Manne in den Schuppen kam, pfiff Schell die Erkennungsmelodie jener alten Fernseh-Serie, durch die das Kung Fu in den 1970er Jahren der Jugend in den westlichen Ländern bekannt wurde; sein inzwischen übliches Zeichen, dass er auf einen Kampf aus war. Manne half ihm, die Boxhandschuhe zu verschnüren – er selber benutzte nie welche –, und los ging’s.
Eine Runde dauerte bei ihnen solange, bis Schell auf irgendeine Weise zu Boden ging oder vor lauter effektlosen Schlagkombinationen so ausgepumpt war, dass er aufgeben musste. Selten schaffte er mehr als drei Runden, und während ihm das alles abverlangte, was er an Kondition hatte, war Manne kaum mehr als eine etwas vertiefte Atmung anzumerken. Und wenn es ihm sogar gelang, den einen oder anderen Treffer zu landen, so war klar, dass Manne das nur zuliess, um ihn dadurch bei Laune zu halten. Hätte Schell also ernstlich einen Ehrgeiz gehabt, hätten diese Kämpfe ihn reichlich frustriert.
Als sie nach der ersten Runde pausierten, sagte Manne: „Ich werd aus dir nicht schlau, Alter. Du wirkst inzwischen so beherrscht. Als sei für dich der ganze Spuk mit Schells Bureau schon irgendwie vorüber. Mich, ehrlich gesagt, beschäftigt das tagtäglich.“
Schell nickte erstmal nur vor sich hin. Dann gab er zur Antwort: „Ich weiss nur, dass der Schell, den du hier ‘rumboxen siehst, der Taxifahrer, zu eingeschränkt ist, zu begrenzt, zu klein, um zu begreifen, was durch das Ereignis in Gang gekommen ist. Doch haben seine vergeblichen Versuche, es zu begreifen, zu einem Resultat geführt: Er hat sich an die Beschränktheit seines Verstandes gewöhnt. Das Nichtbegreifen ist für ihn nicht mehr der Ausnahmezustand, sondern Normalität. Eine etwas andere als seine bisherige Normalität. Es ist da eine Distanz entstanden, und das jedenfalls kann er dir verraten: diese Distanz macht echt einen Unterschied.“
„Verstehe. Er spricht von sich selber in der Dritten Person Singular, das heisst: sieht sich als jemand anderen.“
Identifiziert sich also nicht mehr mit dem Protagonisten seiner Story, dachten sie beide, ohne es auszusprechen – oder genau anders herum: ist mit diesem Protagonisten jetzt etwa erst recht identisch?
Schell schlug seine Handschuhe gegeneinander. „Komm, machen wir weiter!“
Diesmal vermochte er seine Konzentration ziemlich lange aufrechtzuerhalten, bis Manne ihn mit einem Fußfeger zu Fall brachte.
Während er sich von dieser zweiten Runde erholte, nutzte Manne die Pause für ein paar Muskeldehnungen und fragte schliesslich: „Reicht’s dir eigentlich gar nicht hier? Ich meine, wird dieses Frankfurt dir nicht langweilig? Man könnte sich vorstellen, dass du mal ‘ne Abwechslung vertragen könntest.“
„Verstehe ich, worauf du anspielst?“
„Du bist doch früher viel gereist. Jetzt bist du ewig nicht mehr weg gewesen. Ob es dir nicht gut täte, frage ich mich, dein Einsiedlerleben hier mal zu unterbrechen?“
Schell nickte. „Habe ich mich auch schon gefragt. Man bräuchte allerdings das Bedürfnis, ein gewisses Fernweh oder so. Wenn ich aber in den Himmel schaue, die vielen Flugzeuge sehe, mir die ganzen Leute vorstelle, wie sie überall Urlaub machen …“
„So gesehen, klar. Doch man kann ja auch noch anders verreisen.“
„Ach, Manne.“
„Denk einfach mal drüber nach. Und dass es jedenfalls nicht am Geld scheitern sollte. Uschi hatte nämlich die Idee: Lass uns dem Schell ‘ne Reise spendieren, und die Idee ist einfach gut, finde ich.“
„Blödsinn. Ich hätte genug Geld, um zu verreisen.“ Schell schlug eine Gerade in Richtung Mannes Kopf, so ansatzlos wie ihm nur irgend möglich, und Manne, mit einem Minimum an Bewegung, wich ihr aus und grinste. „Denk trotzdem drüber nach.“ Und damit widmeten sie sich der dritten Runde.

Schell, als er später mit dem Taxi unterwegs war, stellte sich die Erdkugel vor; rief sich die Kontinente vor Augen, die größten Gebirgsketten und Flüsse, die Umrisse von verschiedenen Ländern und Inseln, und liess seinen Blick aus der Vogelperspektive über Landschaften, Küsten und Städte schweifen, die ihn besonders interessierten. Von vielen Gegenden hatte er nur sehr vage oder auch gar keine Vorstellungen, und von sehr vielem, was er bildlich vor sich sah, wusste er sofort, dass es klischeehaft war, veraltet, beschönigt, aus Fotos und Filmen hervorgegangen, und garantiert nicht der gegenwärtigen Realität entsprach. So aber wie in meiner Vorstellung, dachte er, gefällt mir unser Globus ganz gut …

Als Uschi sich abends in der Küche zum Essen neben ihn setzte, deutete er ihren fragenden Blick so, dass er sagte: „Ich ziehe es in Erwägung. Denn mal wieder zu verreisen, warum nicht? Aber da ich ja Geld verdiene, wie ihr wisst, und meine Ausgaben minimal sind, habe ich genug, um eine Reise selber zu bezahlen.“
„Verstanden“, sagte Uschi. „Sehe dich sowieso nicht im Orient Express oder einem Palace Hotel; eher im Kaukasus bei irgendwelchen Ziegenhirten am Feuer.“
„Ja, das könnte mich schon reizen …“ Er schaute zu Beppo hinüber. Der saß da zwischen Barumiru und Drita wieder ganz normal beim Essen, und Schell staunte aufs neue.
„Unglaublich“, sagte er zu Uschi, „ich war die letzten Monate sowas von weggetreten, dass ich tatsächlich bis gestern Abend nicht bemerkt habe, dass Beppo inzwischen hier wie selbstverständlich mit am Tisch sitzt.“
„Na ja, noch nicht so ganz wie selbstverständlich. Du wirst schon mitbekommen, wie er manchmal, wenn’s ihm zuviel wird, so eine bestimmte Gebärde macht, um sich zu beruhigen, oder auch abrupt einfach verschwindet.“
„Meinst du das da?“
Beppo hatte sein Essbesteck niedergelegt und hob langsam beide Hände bis in Brusthöhe, und hielt sie ausgebreitet, die Innenflächen nach unten, so als würde er etwas großes rundes halten, einen Ball etwa, und ihr Zittern dabei wirkte wie durch eine Überanstrengung hervorgerufen.
Uschi sagte leise: „Er hat irgendwie gespürt, dass wir über ihn reden. Glaube ich zumindest. Und jetzt siehst du’s … Ich finde, er drückt damit aus: Alles too much.“
„Ja“, entgegnete Schell, ebenfalls leise, „als hätte er unserem Planeten die Hände aufgelegt, und die zittern deshalb so, weil die ganze Erdkugel dermaßen am Vibrieren ist.“
„Und er muss das alles halten …“
Dem geht’s wie mir, dachte Schell. Wenn ich an das Ereignis denke und mit einer einzigen Gebärde ausdrücken sollte, wie sich das anfühlt, käme nur diese, Beppo’s Gebärde, infrage.
Uschi: „Wenn er das macht, ist ihm gerade bewusst geworden, dass er es hier und jetzt mit uns allen zusammen nicht mehr lange aushält. Du wirst sehen, gleich verzieht er sich.“
Und so war’s.
Wie wenn Barrieren, dachte Schell, die man nie bemerkt hat, plötzlich wegfallen und sich so etwas wie eine Totalerfassung unaufhaltsam anbahnt. Nichts läuft mehr schön der Reihe nach, man muss alles gleichzeitig erfassen. Als hätte man alles auf einmal vor sich. Nichts gegen so eine große Zusammenschau, sofern man sie kontrollieren kann. Doch wenn sie unkontrolliert über einen hereinbricht?
Das war es ja, was Schell sich während der letzten Monate beigebracht hatte: sich von solchen Zuständen der Zusammenschau nicht überwältigen zu lassen, sondern jedesmal, wenn sie zu einem übergroßen Alles-auf-einmal anzuwachsen drohten, einen Schlusspunkt zu setzen, indem er sich auf das Machtwort konzentrierte. Könnte doch sein, dachte er, dass wenn Beppo dergleichen ähnlich so erlebt, seine Gebärde auch diese Funktion hat: ihn vor der Überwältigung zu schützen, vorm Durchknallen …

Rund um den langen Tisch voller Teller und Töpfe gingen wie immer Gespräche und Gewitzel durcheinander; niemand sonst schien von Beppo Notiz genommen zu haben, auch Drita nicht, neben der er gesessen hatte; die lebhaft die ganze Zeit zur anderen Seite hin auf Manne einredete, der ihr zuhörte und nur hin und wieder nickte. Wie Uschi erläuterte, versuchte Drita mal wieder, Manne für ihre Pläne zu begeistern, wie sie den kleinen Gemüsegarten, den sie auf dem Gelände hinterm Schrottplatz angelegt hatte, zu vergrößern gedachte. „Letztlich will sie ein Gewächshaus, glaube ich.“ Und Schell fand: „Gute Idee.“
Sie hatten fertig gegessen und Uschi, während sie sich eine Zigarette drehte, sagte: „Du guckst irgendwie so, weiss nicht … fragend. Als ob du dich die ganze Zeit wunderst.“
„Hm, ja … Manne zum Beispiel.“ Der alte Kiffer …
„Was ist mit dem?“
„Habe ihn den ganzen Abend noch gar keinen Joint rauchen sehen.“
„Weil er mit dem Kiffen aufgehört hat.“
Schell schaute sie groß an; dann zu Manne hinüber, sprachlos.
„Ach. Das hast du auch nicht mitgekriegt?“
Schell kopfschüttelnd: „Unglaublich.“
„Tja, Schell, die Sache mit dir, dieses Internet-Ding, was du das Ereignis genannt hast, das hat auch den Manne ganz schön durchgeschüttelt; und er ist davon immernoch ziemlich irritiert; fast schon paranoid manchmal.“
„O je. Dann ist jedenfalls gut, dass er nicht mehr kifft.“
„Kann man wohl sagen. Und du selber?“
„Ein Bier. Eins. Ist, was ich höchstens noch vertrage. Und mal ‘ne Zigarette vielleicht.“
Worauf sie ihm ihren Tabak rüberschob.
„Danke“, sagte er. „Und danke überhaupt.“
Sie winkte ab; zündete ihre Selbstgedrehte an, dann schaute sie suchend umher. „Hast du Rex gesehen?“
Rex! – Schell zutiefst bestürzt: Wann hatte er den guten alten Rex zum letztenmal bewusst wahrgenommen? Das musste Monate her sein! Er bückte sich, um unterm Tisch nachzusehen. „Rex … Ja, verdammt, wo ist der?“
Rex war eigentlich immer in der Küche, wenn hier was los war.
„Zu uns nach oben, die Treppe rauf, schafft er es inzwischen nicht mehr“, sagte Uschi, „und an manchen Abenden bleibt er neuerdings auch lieber drüben im Büro liegen.“
Also ging Schell da noch rüber, wenig später, bevor er sich in seine Bude zurückzog, und hörte auch gleich das wohlbekannte Geräusch, wie der greise Rex, auf der Seite liegend, mit dem Schwanz, statt zu wedeln, gemächlich auf den Boden klopfte. „Hey, Alter“, Schell ging in die Hocke, „bin von weit, weit weg wieder zurück“, und kraulte ihn bedächtig.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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Wer mich kontaktieren möchte, sende mir eine E-Mail mit dem Vermerk 'Schells Bureau' an: matthias.scheel[at]posteo.de