B.12

Alias Bent

Aussen vor. Ausgesperrt. Von der Realität wie ausgeschlossen …
Halt! Hat er das gerade gesagt? Oder gedacht? Oder wer? Habe nur ich das gehört? Oder ihr auch? Aussen vor. Ausgesperrt. Von der Realität wie ausgeschlossen … Wenn er das eben gedacht hat, dürfte das wichtig sein; wo ich doch gerade ihn bedachte, ihn, der in diesem neuen Real die Hauptperson ist.
Auch hier haben wir es wieder mit einem Schell zu tun. Doch nicht mit R- oder mit U- oder mit H-Schell, sondern mit einem Vierten, einem, der bisher vollkommen unscheinbar, ja geradezu unsichtbar existiert hatte; unsichtbar, aber immer irgendwo in der Nähe …
Kurz, wir haben es mit Tschell zu tun.
Auch er sieht aus wie etwa Anfang vierzig. Auch er wie jemand, den man, weil er einfach nichts Bemerkenswertes an sich hat, gleich wieder vergisst. Auch er einer, der manchmal intelligent erscheint, nicht oft allerdings und nie so, dass man denken würde: Welch intelligenter Typ! Was ihn von den drei uns bekannten Schells erheblich unterscheidet, ist dies: Jene verfügen über ein gutes Quantum an Distanz zur Welt des Scheins, sodass immer klar ist, zumindest von aussen betrachtet, dass hier mit einem Schell jeweils der Autor in seinem Roman auftritt; dass überhaupt so etwas wie ein Roman noch da ist, das heisst noch ein Unterschied besteht zwischen Roman und Real. Hingegen für Tschell besteht dieser Unterschied nicht mehr und also erscheint die Situation wie umgekehrt: statt dass der Autor in seinem Roman bewusst selbst als fiktive Gestalt auftritt, verkörpert sich dieser sozusagen fiktiv gewordene Autor durch Tschell unbewusst in einem Real; wodurch dieses sich zur Gänze schliesst und also, weil somit als Real nicht mehr erkennbar, zur Realität für ihn wird. So ist Tschell mit seinem Real nicht nur sehr stark identifiziert, sondern eigentlich überidentifiziert. Und was hat das zur Folge? Dass er inzwischen keine Sekunde lang mehr nachzudenken braucht. Alles läuft für ihn von selbst.
Mit diesem Alles ist hier eine Maschinerie gemeint, nach Art eines Lebewesens in Dauerbetrieb; eine Maschinerie, deren Aktivität man sich restlos anvertrauen muss, und eben das heisst hier: sich identifizieren. In diesem Sinne funktioniert bei Tschell das Identifizieren zu einhundert Prozent. Er steht der Scheinwelt nicht wie R-, U- und H-Schell gegenüber, sondern ist darin ganz aufgegangen; ist mit dem Anschein wie verschmolzen.
Dabei hört er die ganze Zeit eine Stimme in seinem Kopf, oder eigentlich nicht eine Stimme, eher einen Gedankenstrom; den er nur deshalb wahrnimmt, weil er inzwischen selber keine Gedanken mehr hat; einen Gedankenstrom, von dem er nur weiss, dass er nicht sein eigener ist; der ihn aber auch nicht direkt stört. Was ihn höchstens daran irritiert, ist das Persönliche: als dächte da in ihm eine Person vor sich hin.
Aussen vor. Ausgesperrt. Von der Realität wie ausgeschlossen …
Wen Tschell da vernimmt, nennt er für sich den Anderen. Oder die Andere. Oder auch, wenn ihm dabei manchmal unheimlich ist, das Andere. Das Fremdartige. Das Alien.
Es erklärt, es erzählt, es berät, ja gibt sogar Anweisungen.
Manchmal aber ist auch alles nur Metapher – Krypt, wie man heute sagt –, und dann fühlt Tschell, dass er schon wieder die ihm da metaphorisch mitgeteilten Geheimnisse nicht begreifen kann, und kommt sich in seinem Körper vor wie eine Marionette an den Fäden eines großen Puppenspielers, und alles erscheint ihm dann so komisch pseudo, so unwirklich, so wie – ja wie?
Wie nur durch sich hindurch. Durch  d i c h  hindurch – du bist in einem Transit, Tschell, verstehst du das?
Was Tschell davon versteht, ist bisher nur, dass dieser fremde Gedankenstrom ihn von irgend etwas zu überzeugen versucht.
Und überhaupt: Tschell? Was soll Tschell? Zu wem spricht er, oder sie, oder es? Bin tatsächlich mit Tschell ich gemeint? So fragt sich Tschell; allerdings nur nebenbei, denn wie üblich hält ihn eine Unmenge von Kleinigkeiten vollautomatisch vom Nachdenken ab. Immerhin aber klingt diese Tschell-Benennung nach – hat sie vielleicht mit dem zu tun, wovon der Andere – oder der Gedankenstrom – oder das Alien – ihn zu überzeugen versucht?
Doch bleiben wir objektiv. Tschell überidentifiziert heisst auch: nicht nur irgendwie getarnt, sondern im Modus tiefster Tarnung auf der höchsten Stufe. Sodass er gar nicht wissen kann, wer er letztenendes wirklich ist. Oder wo er wirklich ist – wie zum Beispiel die Stadt um ihn herum überhaupt heisst.
Ach ja – Krakl. Eine Kleinstadt. In Deutschland. Recht malerisch gelegen zwischen waldigen Hügeln an einem Flussgeschlängel. Standort ehrwürdiger Gelehrsamkeit schon seit dem Mittelalter; davon übriggeblieben: Die Uni. An der es bis vor kurzem sogar noch einen Rest von Ägyptologie gegeben hatte … Es gibt ein Stück Roman über diese spezielle Ägyptologie, ein Romanstück, das zwar in Amerika spielt, in Las Vegas, aber mit dem Ende des ägyptologischen Instituts in Krakl seinen Anfang nahm; als nämlich das Institutspersonal aus nur noch drei Personen bestand: aus Frau Kramer, genannt Das Sekretariat, Gurner Pentshak, dem ehemals berühmten, inzwischen nur noch berüchtigten alten Professor, und dessen Assistent, einem gewissen Manes Bent. Hier nun erinnern wir uns an das vorherige Kapitel: Da war doch in Havanna dieser junge amerikanische Anthropologe namens Linval Livermore in Erscheinung getreten … Setzen wir an dieser Stelle diese Vorgeschichte fort:

Während der Verfasser (der Schreiber dieser Zeilen) auf Jamaika weilte, drei Jahre insgesamt, entdeckte besagter Livermore jenes neue Inselreich des König Azuma und schrieb im Stil eines anthropologischen Forschungsberichts ein Buch darüber: Andria. Und dieses wurde ein Erfolg, auch kommerziell. Denn ein gewisser Monro, der Livermore’s Forschungsarbeit unterstützte, hatte dafür gesorgt, dass die Moonrow, eine Firma, die Bücher, Filme und Spiele produzierte, die Verkaufsrechte erwarb und sogleich in großem Stil das Marketing in Gang setzte.
Zu jener Zeit war Tschell noch Schell, der Eine, nämlich einfach das alter ego des Verfassers. Da hatte er schon ein erstes literarisches Experiment hinter sich, Nada oder Die Ursache, und war über diese Erfahrung zu der Überzeugung gelangt, dass seine Ambitionen gar nicht mit den Bedingungen der Schriftstellerei zusammenpassten; dass er vielmehr, wenn er als Schreiber weitermachen wollte, sich eine andere, eine eigene, neue Ebene würde erschliessen müssen. Und ohne schon zu begreifen, was er tat – mit nur dem vagen Umriss einer Idee vor Augen, noch ohne den Begriff der Real-Technik –, hatte er damit begonnen, sich in eine Alias-Identität einzuleben, und zwar in die des Manes Bent, eines Adepten der Ägyptologie.
Zunächst war er schrittweise hinter diese Bent-Identität zurückgetreten, indem er seine eigene Vergangenheit nach und nach in die des Manes Bent umgemünzt hatte. So lange war dieser noch sein fiktiver Doppelgänger gewesen. Dann hatte sich an einem gewissen Punkt die Sache umgedreht, war er selbst zum Doppelgänger geworden, das heisst so sehr hinter Bent zurückgetreten, dass zu diesem im Vergleich nun er selbst der Fiktive war.
Das klingt rätselhaft, ja unwahrscheinlich; es ist kaum vorstellbar – noch nicht; doch mit fortschreitender Erkenntnis der Real-Technik wird sich das ändern.

Jener Bent also: er pendelte zwischen Wien, Berlin und Paris hin und her; verschaffte sich die akademischen Grundlagen der Ägyptologie, arbeitete als Comic-Zeichner und belieferte nebenher ein Untergrund-Magazin namens SubNews mit fiktiven Reportagen über verbotene Bücher. Dies letztere unternahm er anonym; ein zwangloses Drauflos-Schreiben ohne jegliche Verantwortung, welches ihm zunächst nur einfach ein Vergnügen war. Dazu gehörte vor allem das Geheimnisvolle, die Atmosphäre nämlich, als sei mit allem, was er da erzählte, etwas anderes gemeint, irgendein verborgenes Dahinter. Diese Art Unterton mochte wohl als bloßes Stilmittel aufgefasst werden, doch ging es hervor aus einem Gefühl, das sich nie zur Gänze verdrängen liess, weil es – zumindest wenn er für Momente ernst und ehrlich mit sich war – aus der Gewissheit kam, dass seine Berufung in Wahrheit die des Dichters war. Wovon er allerdings ganz entschieden nichts wissen wollte – Berufung!, Wahrheit!, und dann noch: Dichter!, nein, entschieden nein! Denn seit der Erfahrung, die er mit jenem literarischen Experiment namens Nada oder Die Ursache gemacht hatte und die eine überaus peinliche gewesen war, wollte er mit einem Pathos wie dem der wahren Berufung nichts mehr zu tun haben. Und wie aus Scham für dieses Gefühl der Berufung, der Gewissheit, ja wie um sich geradezu dafür zu bestrafen, schrieb er umso ungezügelter drauflos. Sein trotziges Credo damals hätte etwa lauten können: Ich denke, was ich will, und finde dafür Worte wie ich will – das ist meine Freiheit.
Es war diese damalige Phase seines Lebens sehr ereignisreich, eine Zeit der Entdeckungen, der Abenteuer, der Begegnungen mit aussergewöhnlichen Menschen. Er lernte besagten Linval Livermore kennen, in Paris, und auf Anhieb hatten sie sich viel zu sagen; sodass sie, als Livermore nach Amerika zurückkehrte, miteinander in Kontakt blieben. Und da Bent die englische Sprache inzwischen gut beherrschte und ihm das Buch, das sein neuer Freund über Andria geschrieben hatte, sehr gefiel, nahm er ohne zu zögern das Angebot an, es ins Deutsche zu übersetzen. Da er ohnehin mit dem Autor in regem Austausch war, machte ihm diese Arbeit Spaß und ging ihm entsprechend leicht von der Hand; ausserdem wurde er gar nicht mal schlecht dafür entlohnt; und nicht zuletzt: sie fand des Autors Anerkennung. Denn nicht nur wusste Livermore um die Schwierigkeiten des Übersetzens im Allgemeinen, er konnte auch, da er selbst über gute Deutschkenntnisse verfügte, Bent’s Übersetzung einigermaßen beurteilen. Sodass es schliesslich dazu kam, dass Bent von der Verlagsfirma, der schon erwähnten Moonrow, exklusiv unter Vertrag genommen wurde für alles, was von Livermore auf deutsch erscheinen sollte.

Bent und Livermore: sie inspirierten sich gegenseitig, doch nicht, weil ihrer beider Forschung in annähernd dieselbe Richtung ging, sondern weil ihre Anschauungsweisen dabei zum Teil erheblich differierten. Das machte ihren Austausch so ergiebig. Dass Livermore sehr vieles von Bent aufgriff und in seinen Büchern verarbeitete, störte Bent keineswegs, im Gegenteil. Nahm ihm Livermore nicht quasi die ganze schriftstellerische Arbeit ab? Und noch dazu bescherte ihm ja die Übersetzerei ein kleines, aber ausreichendes und leicht verdientes Einkommen. Denn Bent hatte zu jener Zeit noch eine andere Arbeit, nämlich die Assistenz bei Professor Pentshak, und die kostete ihn viel Zeit, während was er dafür an Bezahlung erhielt, nur eher symbolisch war.
Die Arbeit mit Pentshak brachte es mit sich, dass er viel unterwegs war, mal den Professor begleitend, mal auch allein; auf Forschungsreisen, wie es hiess. Über das Wesentliche dieser Reisen hatte er – denn es war esoterischer Natur – Stillschweigen zu wahren; während er über das Unwesentliche Protokoll zu führen hatte, für die Akten. Dabei musste er sich immer wieder fragen – und fragte es sich bis zum Schluss –, ob es nicht eine Dummheit gewesen war, sich ausgerechnet bei Gurner Pentshak als Schüler zu bewerben. Genau das nämlich bedeutete die Assistenz bei diesem sonderbaren Professor: Schülerschaft. Und der latente Zweifel am Sinn dieser Ausbildung gehörte dazu, wie er im Laufe der Zeit entdeckte. Denn zum einen führte, was Pentshak lehrte, so weit ab von dem, was die übliche, die offizielle Ägyptologie beinhaltet, dass es zu dieser gar kein Zurück mehr gab; und zum anderen schien es direkt in der Art der Pentshak’schen Ägyptologie zu liegen, dass der Schüler das Anfängertum nicht verlernte, das heisst immer in Betracht zog, dass die Möglichkeit, in Dummheit zu verfallen, durchaus mit der fortschreitenden Erkenntnis Schritt hielt. Kurz, was das Zweifeln in diesem Sinne angeht, war Bent ein gelehriger Schüler – gewesen, wie man dazusagen muss; denn wusste er zwar um die ständige Gefährdung durch Dummheit, so konnte ihm doch das Verfallen in selbige schlussendlich nicht erspart bleiben. Und auch das könnte man im Rückblick als notwendigen Bestandteil der Pentshak’schen Ausbildung ansehen, als deren Abschluss, die Große Prüfung sozusagen.
Man hätte Gurner Pentshak auch in ägyptologischen Kreisen leicht übersehen können, und wen der Ruf, den er genoss, abschreckte – seine Lehren galten als unwissenschaftlich, abstrus, ja sogar sektiererisch –, der übersah ihn auch einfach. Nur wenige machte der abschreckende Ruf neugierig, und vielleicht war Bent überhaupt der einzige, den dieser Ruf geradezu veranlasste, eigens nach Krakl zu reisen, um sich von dem exotischen Professor selbst einen Eindruck zu verschaffen. Dieser Besuch führte ihn ins Sekretariat des Instituts, vor eine Frau Kramer, die sehr nett war, ihm aber versicherte, der Professor sei auch morgen und übermorgen nicht persönlich anzutreffen, und heute schon gar nicht; die ihm zum Abschied jedoch vorschlug, sich für die Assistenzstelle zu bewerben, denn die sei zur Zeit vakant.
Nun hatte er sich ja nur mit diesem Pentshak einmal unterhalten wollen, mehr nicht; warum dachte er über die Bewerbung auch nur nach? Wahrscheinlich gab zuletzt die Abenteuerlust dafür den Ausschlag, dass er wenige Tage später schon tatsächlich ein Bewerbungsschreiben nach Krakl schickte.
Die Antwort allerdings, ein von Frau Kramer unterschriebener Brief – die kurze förmliche Einladung zu einem Gespräch –, liess so lange auf sich warten, dass sie ihn dann durchaus überraschte.
„Der Professor ist sehr spontan“ – so vor Ort dann Frau Kramers Erklärung dafür, dass Bent auch diesmal den alten Pentshak noch gar nicht zu Gesicht bekam. Und als sie hinzufügte: „Er legt größten Wert darauf, jederzeit bereit zu sein“, klang das bedeutsam, wie quasi die allererste Grundregel, und also prägte er sich das in Großbuchstaben ein: JEDERZEIT BEREIT.
So wohlwollend, so hilfsbereit, so auf etwas altbackene Art charmant Frau Kramer insgesamt auch wirkte, so klar auch strahlte sie aus, dass sich mit ihr nicht irgendwie umspringen liess; sie war die Chefin hier, und dies in betont konservativem Stil; auch fraulich übrigens in diesem Stil: in adretter Schale, maßvoll in Schminke, Beschmückung und Duft, auf flair bedacht und nicht auf Anreiz; von rötlich-blondem Typ, grünäugig, bebrillt, durchaus nicht übertrieben schlank; in ihren späten Vierzigern, schätzte Bent.
Während eines kurzen Rundgangs durch die Räumlichkeiten des Instituts kam sie aufs Finanzielle zu sprechen, das heisst wies auf die nur sehr bescheidenen Mittel hin, mit denen die hiesige Ägyptologie zu haushalten habe. „Insofern ist ja das mit dem Verdienst bei uns so eine Sache; kaum dass man da von einem ordentlichen Gehalt reden möchte … Aber Sie erwähnten, Sie hätten einen Job. Können Sie den hoffentlich auch hier ausüben?“
Bent darauf: „Durchaus. Ich übersetze.“
„Na wunderbar! Ist dann also nur noch zu klären, ob Ihnen Ihre neue Unterkunft zusagt.“ Sie hatte bereits eine Wohnung für ihn angemietet. „In der Altstadt, hoch unterm Dach, mit Ausblick; vollständig möbliert; und recht gemütlich, würde ich sagen.“ Sie übergab ihm den Schlüssel und beschrieb ihm den Weg dorthin.
So endete also, was Bent sich unter „Einladung zu einem Gespräch“ doch recht anders vorgestellt hatte, damit, dass hier abrupt sein neues Leben begann. Was zufällig mit dem Anfang des Wintersemesters zusammenfiel; sodass also das Lehrprogramm schon feststand. „Der Professor“, so Frau Kramer, „liest wie immer über die Neue Ägyptologie, und solange er dazu keine Zeit hat, übernehmen Sie das vertretungshalber.“ Worauf er erschrocken genug gewirkt haben musste, dass sie beruhigend hinzugefügt hatte: „Sie haben völlig freie Hand, exkursieren Sie wohin Sie wollen. Ausführungen zum Beispiel über Osiris und das Ewige Leben wären immer im Sinne des Professors.“
Zu diesem Zeitpunkt war die Krakler Ägyptologie noch ein regulärer Institutsbetrieb, das heisst es gab eine Studentenschaft und dieser entsprechend auch einige Dozenten, sowie ausser Pentshak noch einen zweiten Professor. Insofern machte insgesamt besehen diese Umgebung auf Bent den Eindruck des Üblichen. Dass er aus dem Stegreif Vorlesungen halten sollte, verursachte ihm zwar ein gewisses Lampenfieber, jedoch kein Kopfzerbrechen. Er würde einfach die Studenten an seinem Nachdenken darüber, was denn unter Neuer Ägyptologie zu verstehen sei, teilhaben lassen; und falls ihm dazu nichts einfiele, könnte er immernoch über die gegenwärtige Form des Mumienwesens reden, oder über die ägyptischen Ursprünge des römisch-katholischen Kultus, oder die Symbolik des Taro … Und nicht zuletzt, was Frau Kramer erwähnt hatte: Er könnte der Frage nachgehen, worin hier und heute der Osiris und das Ewige Leben zu finden sei.

So nichtssagend und abgenutzt als Redensart das Hier-und-Jetzt auch sein mochte, die stete Besinnung darauf, aktualisiert durch jene Grundregel in Großbuchstaben: JEDERZEIT BEREIT, erwies sich wieder einmal als das einzig Wahre im Umgang mit dem Neuen, als das einzig Wahre also auch für den Einstieg in die sogenannte Neue Ägyptologie. So, in diesem Zustand konzentrierter Geistesgegenwart, fühlte Bent sich gar nicht angestrengt, sondern angenehm lebendig, und gingen ihm diese Vorlesungen in Vertretung des Professors recht gut und locker von der Hand.
Auf die positive Resonanz seitens der Hörer reagierte Frau Kramer, als habe sie nichts anderes erwartet, und so wurde, wenn er mit ihr im Sekretariat das schon bald zur Gewohnheit gewordene Plauderstündchen abhielt, alles mögliche erörtert, nur keine dienstlichen Belange.
Weiterhin allerdings liess der alte Pentshak auf sich warten; ein Rätsel, das Frau Kramer keineswegs beunruhigte, wiewohl sie natürlich für Bent’s Ungeduld Verständnis hatte. „Wirklich, Herr Bent, ich weiss nicht, wo er steckt, was er treibt; ich habe Ihnen keinerlei Erklärung zu bieten. Er ist sehr spontan, kann ich nur immer wieder sagen. Und leider bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sich einfach in Geduld zu üben.“
Noch rätselhafter wurde dieser Pentshak, als Bent, der wenigstens wissen wollte, wie der Alte aussah, nach einem Foto fragte und sich herausstellte, dass auch Frau Kramer kein einziges auftreiben konnte, auf dem der Professor zu sehen war.
„Wie ist das möglich?“, staunte Bent. „Der müsste doch auch bei Ausgrabungen mal dabeigewesen sein – wo doch massenhaft photographiert wird!“
„Ich denke, er will nicht auf Fotos erscheinen“, so Frau Kramer, „und wenn einer dergleichen zu verhindern weiss, dann unser Professor. Sie werden nie aufhören, sich über ihn zu wundern, soviel ist sicher.“

Tatsächlich wäre unserem Bent der Einstieg in die Krakler Ägyptologie – in diese spezielle Schülerschaft – nicht so leicht gefallen, oder wäre ihm womöglich gar nicht gelungen, wenn Gurner Pentshak da schon anwesend gewesen wäre. Denn wie sich erwies, war dieser Alte, der nach Wochen dann endlich auf der Bildfläche erschien, für Bent kein völlig Unbekannter, oder genauer: für Bent schon ein Unbekannter, nicht aber für den, der er gewesen war, bevor er Bent wurde. Das war nämlich, was ihn, als er des Professors ansichtig wurde, sehr stark irritierte, ja seine ganze schöne Selbstsicherheit gehörig erschütterte: dass diese Begegnung ihn an eine Vergangenheit erinnerte, die er für rein fiktiv hielt – während doch hier und jetzt sein Bent-Dasein so real für ihn war!
Anders gesagt: Pentshak’s Erscheinen brachte ihm schlagartig seinen Doppelgänger zur Erinnerung, das heisst jenen, der sich dereinst den Bent ausgedacht und mit Erinnerungen ausgestattet hatte und dessen Realität dann hinter dieser Bent-Fiktion so gut wie vollständig in Vergessenheit geraten war. Und daran war gar kein Zweifel. Es war nicht die Erinnerung eines anderen, die er da hatte – wie hätte das auch sein können? – nein; vielmehr erkannte er: Ich bin gar nicht Bent, sondern in Wirklichkeit ein anderer.
Und nicht Bent war es eigentlich, sondern dieser Andere, der hier jetzt den Alten anstarrte wie eine Geisterscheinung, dieser selbe Andere, der einst einmal – es war in Bangor gewesen, in einem Antiquariat, Morituri geheissen – diesem selben Alten gegenüber gestanden hatte; wobei ihm das tief gefurchte Gesicht mit dem zerzausten Backenbart und die in einen schwarzen umhangartigen Mantel gewandete hohe Statur heute nicht minder imposant erschien als damals.
Schauplatz war das Sekretariat, und Frau Kramer zugegen; die schliesslich diesen langgezogenen Moment beendete: „Setzen Sie sich, Bent, trinken Sie ein Kaffeechen mit mir. Der Professor hält heute die Vorlesung natürlich selber – oder etwa nicht, Professor?“ Dieser, seinen Blick weiterhin auf Bent gerichtet, murmelte nur: „So Sie das wünschen …“
Er schien sehr wohl zu wissen, was in Bent vor sich ging: dass dieser durch das Wiedererkennen sich mit der plötzlichen Erinnerung an ein anderes, ein wirklicheres Leben konfrontiert sah und dass ihn das nicht nur verwirrte, sondern ihm einen regelrechten Schock versetzte. Er sagte nun: „Bisher hat man sich hier offenbar recht gut mit Ihnen amüsiert, Herr Bent. Also bleiben Sie ruhig der, der Sie jetzt nun einmal sind, will sagen der, der Sie auch sind.“ Und ohne dazu noch weiteres zu sagen, verliess er, mit einem Nicken zu Frau Kramer hin, das Sekretariat.
„Nun aber hingesetzt, mein Lieber! So kreidebleich wie Sie plötzlich aussehen, brauchen gar nichts zu erklären. Denn so wie Ihnen jetzt, ist es mir selber auch einmal ergangen. Interessiert Sie das?“ „O ja!“
Und hier nun leistete Frau Kramer zu Bent’s Beruhigung ein Beträchtliches, eine Notversorgung sozusagen; denn das dürfte wohl klar sein: wie leicht es um einen gesunden Verstand geschehen ist, wenn seiner Voraussetzung, nämlich der gewohnten Ich-Identität, ohne bewusste Vorbereitung plötzlich der Boden sich entzieht.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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