Der Autor

B.8

Frau Doktor

Da jener strenge Imperator ja nun seit längerem schon nichts mehr sagte, das heisst seine Autorität im Innern Schells offenbar aufgegeben hatte, und ihn jetzt also niemand mehr an die Tugenden des weisen Lebens gemahnte, ging Schell gelegentlich wieder, wie neulich schon erwähnt, Frau Doktor besuchen.
Als er sich dazu entschloss, nach einigen Bedenken, hatte er zunächst so oft vergeblich bei ihr angerufen, dass er schon dachte, sie sei gar nicht mehr tätig als Frau Doktor. Wobei ihm gar nicht in den Sinn gekommen war, die gleiche Dienstleistung eventuell bei einer anderen zu suchen. Es musste, wenn schon, dann diese Frau Doktor sein.
Endlich kam ein Telefonat zustande; er sagte: „Samsa hier. Erinnern Sie sich?“ Sie erinnerte sich nicht. „Gregor Samsa“, wiederholte er. „Ist noch nicht so lange her.“ „Tja, hm, Samsa … Beim besten Willen, nein.“
Das traf. Er rang um Fassung. War das möglich? Dass seine Selbstoffenbarung für sie eine solche Lappalie gewesen – – oder hatte er sie unterschätzt? Vielleicht berechnete sie, wie sehr das sein Ego ankratzte; wie nichtig, wie billig, wie verachtet er sich dadurch fühlen musste, von ihr einfach vergessen worden zu sein.
Genau das erfüllte seine Sehnsucht nach Bestrafung. Er war begeistert. Dass Heilung einen solchen Weg nehmen würde, hätte er sich nicht vorstellen können.
Als er bei ihr eintrat, erkannte sie ihn dann doch wieder: „Ach ja, der angebliche Taxifahrer. Immernoch auf dem Kafka-Trip?“

Es war Ingrun, der er diese Geschichte mit Frau Doktor zu verdanken hatte. Als damals für sie feststand, er sei psychisch angeschlagen und bräuchte unbedingt professionelle Hilfe, liess sie solange nicht nach, ihn diesbezüglich zu bearbeiten, bis er seinen Widerstand endlich aufgab. Der Psychologe, den er aufsuchte, brauchte kaum zwanzig Minuten, um festzustellen, er sei bei einer Kollegin besser aufgehoben. Auf Schells Frage, warum, war die Antwort nur ein leeres Lächeln; der Mann war sichtlich völlig überlastet. Dann die Psychotherapeutin: auch sie hatte offenbar mehr Arbeit als genug. Nach der zweiten Sitzung befand sie, dass sie durch das, was therapeutisch nötig wäre, um ihm effektiv zu helfen, ihre Lizenz aufs Spiel setzen würde. Worauf er große Augen machte; denn ein Missverständnis war hier ganz ausgeschlossen: sie spielte mit diesem Hinweis klar auf seine Sexualität an. „Soll nicht heissen, dass ich Sie abwimmeln möchte. Sicher könnten wir sehr interessante Gespräche führen, nur brächte Sie das nicht weiter.“ Worauf er sich für ihre Aufrichtigkeit bedankte, doch auch wissen wollte: „Und nun?“ Da sagte sie, er könne es ja mal mit „Frau Doktor“ versuchen und schrieb ihm eine Telefonnummer auf.
Zu diesem Zeitpunkt hätte er den therapeutischen Weg einfach abbrechen können, denn mit Ingrun, deretwillen er ihn eingeschlagen hatte, war es da gerade zum endgültigen Bruch gekommen. Doch inzwischen hatte er das Gefühl, dass er tatsächlich professioneller Hilfe bedurfte.

An ihrer Haustürklingel stand Maya Maier. „Frau Doktor“ war quasi ihr Künstlername. Die Wohnung im obersten Stock eines Altbaus war nichtssagend, und obwohl das Zimmer, in dem sie ihn vor einem Schreibtisch Platz zu nehmen hiess, offensichtlich wie eine typische Arztpraxis wirken sollte, war doch auf Anhieb klar, dass hier nicht Schulmedizin praktiziert wurde. Sehr gut erinnerte er sich noch an diesen ersten Termin. „Was haben Sie mir zu bieten?“, hatte sie ihn gefragt. Worauf ihm nichts besseres als „Mein Geld“ eingefallen war.
Die Haltung, in der sie ihm schon damals begegnete: streng, abweisend und genervt, hatte sich nie geändert, höchstens dass sie sich mit der Zeit intensivierte.
„Ich bin an Sie, äh, überwiesen worden sozusagen. Aus der Psycho-Ecke.“
„Bringen Sie eine Diagnose mit? Irgendeinen pathologischen Befund?“
Er schaute sie nur groß an.
„Sehen Sie, ich komme da ins Spiel, wo einer soweit von der Bahn abgekommen ist, dass Psychotherapie nichts mehr bringt. Sind Sie zum Beispiel so etwas wie der Weltherrscher?“
„Der Weltherrscher? Aber ganz im Gegenteil! Ich bin eher der Käfer, oder genauer: die Schabe, die Kakerlake. Ich heisse quasi Gregor Samsa. Sicher kennen Sie diese berühmte Geschichte von Kafka.“
Die Verwandlung. Alles klar, Herr Samsa. Derselbe Komplex, Omnipotenz, nur die andere Seite: Impotenz. Nehmen wir das erstmal als Diagnose.“
„Das geht ja richtig schnell bei Ihnen!“
„Klar, kostet ja was. Oder spielen die Kosten für Sie keine Rolle? Dann könnten wir uns Zeit lassen. Was machen Sie beruflich?“
„Bin Taxifahrer.“
Eine ihrer Augenbrauen zuckte in die Höhe. „Glaube ich nicht. Aber egal. Auch Lügen sind für die Anamnese sehr informativ.“
„Ist aber keine Lüge.“
„Dann eben eine Halbwahrheit, noch schlimmer. Haben Sie ein Hobby?“
„Wenn ich jetzt sage: Schreiben –“
„Dann ist das die zweite Halbwahrheit. Denn garantiert ist Ihnen das Schreiben wichtiger als der Taxi-Job. Verplempern wir nicht Ihre Zeit, Herr Samsa. Konzentrieren wir uns auf die Wahrheit. Und damit wir uns nicht missverstehen: Ich bestrafe. Das heisst, es geht nicht lustig zu bei mir.“
Sie führte ihn ins Zimmer nebenan, und hier sah es so aus, wie man es sich bei einer Domina vorstellt. Ersparen wir uns Einzelheiten; der Gesamteindruck löste bei Schell jedenfalls den Impuls aus, sich umgehend zurückzuziehen.
„Der Strafraum?“, versuchte er zu scherzen.
„Wie gesagt, es geht nicht lustig zu bei mir; nicht geil, könnte ich auch sagen. Ziehen Sie sich aus, Samsa, und zwar ganz. Was jetzt kommt, nenne ich peinliche Befragung.“
So fand er sich auf den Knien wieder, splitternackt, die Augen verbunden, mit nach den Seiten ausgebreiteten Armen an ein Gerüst gekettet, und dachte nur: Unglaublich! Und jede Menge Schweiss rann ihm kalt an den Flanken herunter.
„Fühlen Sie sich wohl?“
„Nein! Nehmen Sie mir wenigstens diese Augenbinde wieder ab!“
„Erst wenn Sie in Panik geraten. Zuvor aber machen Sie sich bitte klar, dass Sie sich freiwillig in diese Situation begeben haben. Also nochmal: Fühlen Sie sich wohl?“
„Kein bisschen!“
„Warum ist dann Ihr Penis bis zum Geht-nicht-mehr erigiert?“
„Weiss ich nicht!“
„Das aber will ich von Ihnen wissen. Oder anders gefragt: Warum sind Sie hier?“
„Meine Ex, die hat mir das letztlich eingebrockt, die wollte unbedingt, dass ich in Therapie –“
„Ex? Seit wann Ex?“
„Seit sie mich neulich rausgeschmissen hat. Wir sind jetzt endgültig – fertig miteinander. Falls Sie mich fragen, ob ich froh darüber bin – nein.“ Plötzlich war ihm klar: ja, er wollte Bestrafung, und er war gerade dabei, sie sich zu verdienen; und hatte gar keine Skrupel, sich dazu diese Trennungsgeschichte zunutze zu machen. Das fände Ingrun sicherlich verzeihlich, dachte er. „Es hätte nämlich“, fuhr er fort, „gut laufen können mit uns, wenn ich nur etwas mehr – oder weniger – ach, egal, habe da jedenfalls noch Gewissensbisse irgendwie –“
„Und so weiter und so fort. Dass Ihnen diese Trennung tatsächlich zu schaffen macht, mag sein, nur bin ich nicht für das Kurieren von Gewissensbissen zuständig; ich kann Ihnen höchstens Gründe für neue Gewissensbisse verschaffen.“
Jetzt rechnete er mit Aktion; damit, dass sie zuschlug oder so etwas, und lauschte angestrengt. Doch sie sprach ruhig und kühl einfach weiter: „Wenn ich richtig verstanden habe, sind Sie an mich gekommen, weil die Frau, die Sie diskriminierenderweise meine Ex nennen, Therapie für Sie wollte. Womit sie hier genau diese Bedeutung hat, und basta. Ende dieser Alibi-Geschichte – und übrigens auch dieser heutigen Sitzung.“
Als er wenig später, wieder angezogen, aus dem „Strafraum“ ins „Sprechzimmer“ trat – Frau Doktor saß am Schreibtisch und machte sich Notizen – wusste sie offenbar, dass er auf jeden Fall einen nächsten Termin wollen würde, und sagte nur: „Nächste Woche, selber Tag, selbe Uhrzeit. Bezahlung auch künftig immer cash und vorab.“

Die darauffolgende Nacht war unruhig, ja nahezu schlaflos gewesen. Die Diagnose Impotenz hatte ihm zu schaffen gemacht. Warum hatte er davon selber noch nichts bemerkt? Da musste ihn erst diese völlig Fremde unter die Lupe nehmen, eine Domina. Und wie verblüffend, dass sie ihn gar nicht mit der Peitsche oder mit sonst etwas traktiert hatte; das taten doch wohl Dominas normalerweise. Und noch viel verblüffender, wie gut er sich danach gefühlt hatte, nämlich regelrecht wie ausgeputzt.
Impotenz ist Chiffre, klar. Doch was chiffriert sie?, fragte er sich. Was zwingt sie mich zu dechiffrieren? Ein Unvermögen, klar, doch welches Unvermögen? Und warum will ich Bestrafung?
Denn er wollte bestraft werden, soviel war klar; wenn es auch nicht gerade die Peitsche war, die er wollte.
Beim nächsten Mal hatte er gleich gefragt: „Wenn ich nach Bestrafung verlange, ist es denn dann wirklich Bestrafung? Wenn ich doch sogar Geld dafür bezahle?“
„Das ist zwar rational, aber auf falsche Weise rational gedacht. Wenn irgendwas der Vernunft folgt, dann das Emotionale; nur dass das unser pseudo-rationaler Tagesverstand, weil er’s nicht versteht, irrational findet. Und jetzt: ausziehen und auf die Knie!“
Nur ausnahmsweise ging das so schnell. Für gewöhnlich musste er sich den Akt hinten im Strafraum erst vorne im Sprechzimmer mühsam verdienen.
Wenn es gut lief, erreichte er schnell mit dem, was er vorne beichtete, dass er anschliessend im Strafraum nackt, gefesselt und blind vor dieser mysteriösen Frau Doktor kniete und alles aussagen musste, durfte, was ihn beschämte; auch sehr Beschämendes, und zwar soviel davon, bis keinerlei sexuelle Erregtheit mehr an ihm festzustellen war.
Doch oft dauerte es lang, bis die Beichte genügend Anlass zur Bestrafung bot, und manchmal schaffte er es gar nicht, dann musste er leider unbestraft abziehen oder besser: wirklich bestraft; unbefriedigt, und natürlich sauer, wenn nicht sogar wütend.
Die ersten Male hatte er sich auf die Darstellung seiner seelischen Not vorzubereiten versucht. Doch da vor lauter Aufregung ihm nie, wenn es dann losging, noch irgend etwas davon einfiel, hatte er das bald aufgegeben.
Um einiges länger brauchte er dazu, die Augenbinde zu akzeptieren. Immer wieder bat er Frau Doktor, sie ihm endlich abzunehmen, mit dem schwachen Argument zum Beispiel: „Ich will sehen, was Sie machen.“
„Sie stellen sich doch irgend etwas vor. Und darum geht’s hier, um Ihre Illusionen.“
„Aber womöglich zeichnen Sie auf, filmen mich …“
„Sie meinen, weil das so wahnsinnig interessant ist, was sie in nacktem Zustand erzählen? Da kann ich Sie beruhigen: was Sie ach so beschämend finden, ist der reinste Witz. Aber natürlich haben Sie Angst, mir durch das, was ich vielleicht aufzeichne, ausgeliefert zu sein – nur wollen Sie sich mir doch ausliefern!“
Ja. Ja! Ja!! – „Ehrlich gesagt –“
„Befürchten Sie, ich könnte Sie damit erpressen.“
Er musste erst abwarten, bis sich sein Herzrasen soweit beruhigt hatte, dass er wieder sprechen konnte. „Das stimmt, das befürchte ich.“ Und als seine Gedanken aufhörten, sich zu überschlagen: „Andererseits, Sie müssen wissen – irgendwie ist mein gesamtes Bewusstsein sowieso eine Art Experiment unter automatischer Dauerbeobachtung. Ich studiere meine Anpassung an die Überwachungskultur. Die sozusagen neurotechnische Perspektive.“
„Aha, da kommen wir der Sache endlich näher.“
„Sie meinen: der Entschlüsselung?“
„Von mir aus. Ist es das, was Sie hier erwarten? Entschlüsselt zu werden?“
„Auch. Aber eigentlich erwarte ich Heilung, wenn ich ehrlich bin.“
„Wenn, ja, wenn Sie ehrlich sind. Heilung davon? Von der Lüge? Oder wovon? Das wär’s ja schon, was Heilung hiesse: das herauszufinden.“
„Nun ja, davon zum Beispiel, mein Heil zu suchen mittels einer Dienstleistung wie der Ihren. Denn ist das nicht echt verkorkst? Nicht sogar richtig pervers? Denn heisst das nicht, Heilung zu spielen? So als sei deren Notwendigkeit nur fiktiv, die Not eigentlich nur eingebildet.“
„Ach, ist sie das gar nicht? Das ist nun wirklich ein hoher Grad an Leichtfertigkeit; sodass ich mich fragen muss: Ist das dummdreiste Abgebrühtheit oder wahre Naivität?“ Sie hielt inne. „Unschuld gar? Das ist die Frage, Samsa. Vielleicht sind Sie ja unschuldig. Das würde erklären, warum hier nichts läuft.“
Nichts läuft? Die hat Nerven. Damit will sie mich anstacheln. Dass ich preisgebe, was noch gar nicht – was ich mir erst ausdenken müsste! Weil sie nämlich ihre Dienstleistung tatsächlich zur Erpressung benutzt! Worauf habe ich mich eingelassen? Wenn sie mich als psychisch instabil einstuft, als paranoid, und dabei auch noch als sittlich enthemmt, und Beweise dafür hat – dann bin ich richtig in Gefahr.
Etwas berührte seine linke Brustwarze. Eine Fingerspitze? Dann ihre Stimme aus nächster Nähe: „Wünschen Sie, dass ich mich ausziehe?“ „Ja.“ Es waren zweifellos ihre Fingerspitzen, die jetzt leicht an seiner Brustwarze zogen. „Und Sie liebkose? Wünschen Sie das?“ Sie zog fester. „Äh. Ja!“ Und noch fester, sodass es zu schmerzen begann. „Was sehe ich denn da, Samsa? Das wird ja jetzt fürchterlich hart da unten!“ „Nun ja, Frau Doktor …“ Sie zwirbelte nun seine Brustwarze so fest, dass er die Luft anhielt; die Zähne zusammenbeissen musste, um nicht zu ächzen. „Ich darf mich ausziehen und Sie liebkosen?“ Er machte „Ufff“ und brachte ein „Ja“ hervor. „Dass ich das nicht tue, muss Ihnen Strafe genug sein für heute.“ Sie liess los; nahm ihm die Augenbinde ab, entkettete seine Handgelenke und sagte mit einem kalten Blick auf ihn herab: „Sie haben noch fünf Minuten hier, und mehr brauchen Sie bestimmt nicht.“ Als er sie darauf ratlos anblickte, gab sie mit dem Fuß der Schachtel Papiertücher, die da am Boden lag, einen kleinen Schubs in seine Richtung, dann ging sie hinaus.
Hatte er sich jemals so gedemütigt gefühlt? Sein Herz kam ihm vor wie auf etwa Walnussgröße zusammengezogen.

An ihrem Äusseren war nicht viel, was dem Klischee der Domina entsprach. Eine kleine, schlanke, eher unscheinbare Person, an der alles nur Nüchternheit signalisierte: kein Make-up; das dunkelblonde Haar in simplem Pagenschnitt; die stets weisse Bluse hochgeschlossen; die eng tailliert geschnittenen Hosenanzüge in entweder Grau- oder Blautönen. Was ihr dabei jedoch die dominante Ausstrahlung verlieh, sowie den Eindruck aussergewöhnlicher Beherrschtheit erweckte, war ihr gleichbleibend kühler unberührter Blick und ihre raue Stimme, die sie recht leise, aber sehr akzentuiert, sehr bewusst gebrauchte.
Eine Maske, zweifellos; die allerdings perfekt saß. So oft er auch darin forschte, ob es nicht mal ein Anzeichen dafür gab, dass es sie vielleicht anstrengte, diese Maske aufrechtzuerhalten, nie wurde er fündig.
So wie sie am Anfang ihm die Trennung von Ingrun als bloßes Alibi entlarvt hatte, so zeigte sie ihm nach und nach, dass überhaupt alle Gründe, die ihm bisher eingefallen waren, um sich ihre „Bestrafung“ zu verdienen, nur Alibis waren. Sodass er zunächst dachte, dass es wohl im Grunde nur um etwas sexuelles ging. Bis ihm dann irgendwann aufging, dass das Sexuelle insgesamt ein vorgeschobenes Thema war. Dahinter verbarg sich – Reue. Eine Reue, die er in den letzten Jahren immer stärker empfand, und zwar bezüglich jener alten Mayer-Tong-Sache. Das war etwas, das er schon lange wusste, aber nicht hatte wissen wollen: nämlich dass er systematisch seine Vorstellungskraft missbraucht hatte.

Dazumal, in den 1990ern, als das Internet noch nicht annähernd die heutige Ausdehnung gehabt hatte, war er eines Nachts wie zufällig auf dieses Angebot im Netz gestoßen:
Du schreibst literarische Texte und möchtest davon leben? Und es kommt dir nicht darauf an, Bücher zu veröffentlichen? Dann werde Teil eines Autoren-Kollektivs, das unter dem Namen Mayer-Tong das Internet in einen Roman verwandelt.
Wie bitte? Das Internet in einen Roman verwandelt? Welch grandiose Idee! Und nicht nur, dass er dieses Angebot verlockend fand, vielmehr schien es wie geradezu gemacht für ihn; sodass er keine Sekunde gezögert hatte.
Die eine Bedingung war diese: Du bleibst anonym und überlässt deinen Output komplett dem Mayer-Tong-Kollektiv zur freien Verfügung.
Die zweite Bedingung: Für die Kommunikation mit anderen Autorinnen und Autoren des MTK benutzt du ausschliesslich das interne MTK-Forum.
Die dritte und letzte Bedingung betraf das Mindestvolumen des monatlichen Output; eine akzeptable, ja locker zu bewältigende Menge, wie er fand.
Um die Summe zu errechnen, die dir das MTK für deinen finanziellen Bedarf pro Monat zukommen lassen wird, beantworte hier wahrheitsgemäß die folgenden Fragen zu deiner wirtschaftlichen Situation
Und er hatte sofort die Antworten geschrieben, wahrheitsgemäß.
Wähle ein Alias und klicke Anmeldung. Der Code, den du erhältst, gewährt dir Zugang zum MTK. Das Alias bleibt dein Passwort für das Forum.
Er hatte „Dubman“ gewählt und sich angemeldet; dann erschrocken in die Luft geglotzt – und jetzt? Was jetzt eigentlich schreiben? Was nun liefern? Ständig, jeden Monat, ab jetzt? Und was, wenn ich nicht liefere?
Doch zu spät, da kam schon der Code, mit der Zeile:
MTK Mission Control heisst den neuen Mayer-Tong herzlich willkommen!

War das Arbeit gewesen? Eher war es ihm wie ein Spiel vorgekommen: Du hast die Freiheit, was fängst du damit an? Vermassel ihn dir nicht, diesen Idealzustand!
Den Druck, der da entstand, hätte er sich nie vorstellen können. Ist das womöglich ein Psycho-Experiment?, hatte er sich gefragt. Bin ich hier das Versuchskaninchen? Egal, du weisst es nicht. Spiel einfach. Schreib irgendwas. Und was war näherliegend, als den Schriftsteller zu spielen? Immerhin hatte er schon einiges geschrieben, ja werkelte bereits an so etwas wie einem Roman herum. Nun aber lief da nichts mehr. So oft er sich Schreib irgendwas! befahl, so oft überkam ihn vor dem leeren Bildschirm einfach Lähmung.
Wie seine Schriftsteller-Karriere mit einer Schreibblockade beginnen? Und es ergab sich ihm die Antwort: Genau das ist der Anfang einer wunderbaren Komödie. Jetzt brauchst du nur noch dafür zu sorgen, dass sie turbulent wird. Und warum dazu nicht auf bewährte Klischees zurückgreifen? Er kaufte sich eine mechanische Reiseschreibmaschine, wechselte ständig den Ort, liess sich von entspannenden Substanzen helfen, in komödiantische Stimmung zu kommen, und lebte sich in eine Doppelrolle ein: war einerseits der Konstrukteur einer sinistren Weltverschwörung und andererseits sein Agent, als der er fortwährend das Bösgewollte heimlich ins Gute umzubiegen suchte. Und mit der Zeit, natürlich, wurde das Experiment zur Normalität, das Fischen im Trüben zur Gewohnheit, die Schreibblockade zum Pro-forma-Problem und das Ganze insgesamt für ihn zu einem großen Spaß.
Immer aber war etwas daran ihm fragwürdig geblieben, unheimlich, etwas, das in gewissen dunklen Stunden das Ganze verkehrt erscheinen liess, insbesonders wenn ihm nichts einfiel, wenn vor lauter Du musst jetzt aber! nicht das kleinste Fünkchen von Inspiration zu ihm durchdrang. Da kam es ihm sogar manchmal so vor, als liefe dieses Arrangement mit dem Kollektiv im Grunde auf eine Art Verpflichtung zu geistiger Onanie hinaus. Nicht um eines Inhalts willen zu produzieren, sondern bloß um dich an der Produktion selbst zu berauschen, das, so sagte er sich nicht nur einmal, führt den Sinn des Schreibens ad absurdum, und dir dessen bewusst es trotzdem tun, das korrumpiert dich.
Ja, so fühlte er sich in jenen dunklen Stunden, in denen er sich selbst befragte: korrupt; und kam so immer wieder zu dem Schluss: Beende diese Korruption, steig aus und fang neu an – denn das Mayer-Tong-Kollektiv war kein Zwangssystem, auszusteigen war jederzeit eine Option –; oder mach weiter so, aber dann genieße es auch! Und lange, allzu lange, war er bei letzterem geblieben.
Weder hatte Mission Control an dem, was er lieferte, noch er seinerseits an der finanziellen Vergütung je etwas auszusetzen; und wiewohl er gelegentlich mit Verzögerung geliefert hatte, war ihm stets pünktlich überwiesen worden, und zwar abwechselnd von zahlreichen Firmen, hinter denen wohl ein Netzwerk zu vermuten war. Das allerdings hatte nichts mit seinem Unbehagen zu tun; woran er vielmehr mit einem so unguten Gefühl zurückdachte, war das, was er geliefert hatte. Das nämlich, mit einem Wort, war Schund gewesen.

Das war das eine, all dieser Schund, den er dazumal geschrieben hatte; und was nun hinzu kam, sein Gewissen zusätzlich beschwerend, war die innere Stimme, die ihn zu dieser Zeit noch im Geiste des alten Marc Aurel ständig fragte: Was soll das mit Frau Doktor? Diese bewusste Verderbtheit. Dich zu stimulieren, indem du dein Schamgefühl missbrauchst. Die Lust des Alleinherrschers, sich zu einem Insekt herunterzuschrumpfen, sich zur Kakerlake zu machen, und dafür auch noch teuer zu bezahlen – was soll das?
Ich weiss, die schiere Perversion, so hatte er sich trotzig darauf geantwortet. Alles auszusprechen, das dämlichste, peinlichste, geschmackloseste, erniedrigendste: dieser ungeahnte Exzess ist ein Vergnügen, das aufs strengste bestraft gehört, jawohl, und natürlich muss ich dafür bezahlen, und gern bezahle ich! Doch allerdings ist zu bezweifeln, dass Frau Doktor das gewaltige Maß an Verachtung, das ich dafür verdiene, überhaupt je aufbringen wird.
Worauf dem alten Imperator tatsächlich eine Weile nichts mehr einfiel.

„Uns ist inzwischen klar, was Sie zu mir führt: Ihr schlechtes Gewissen.“
„Ich bin nicht auf Absolution aus. Sondern wohl tatsächlich auf Erniedrigung. Warum?“
„Das fragen Sie? Sind Sie denn wirklich so ein Idiot, Samsa? Was sollte der Drang nach Selbsterhöhung anderes nach sich ziehen, als den Wunsch nach Selbsterniedrigung? Je unbewusster die Hochmütigkeit ist, umso krasser die Wege des Ausgleichs, ist doch wohl klar.“
Herr des Flyshwerks, hatte er da gedacht, Allwissender Kreator – Manne hat damit gar nicht gescherzt, oder es irgendwie ironisch gemeint – so komme ich mir wohl tatsächlich vor – und weiss es gar nicht!
So hatte ihm erst einmal das als besonders bestrafungswürdig gegolten: sein Hochmut und sein Größenwahn.
Dann eines Tages hatte sie verlangt: „Ziehen Sie Bilanz, Samsa.“
„Ähm. Hatte mir Sadomasochismus anders vorgestellt.“
„Hat ja damit auch wenig zu tun. Aber das wäre eine etwas dürftige Bilanz.“
„Bin immernoch schockiert, oder immer wieder; obwohl ich längst ja den entdeckt habe in mir, der das alles berechnet. Denn das Schockierende ist ja berechnet. Doch den entdeckt zu haben, diesen Berechner in mir, ist auch irgendwie heilsam.“
„Von Heilung sind Sie noch weit entfernt.“
„So schlimm ist es? Sehen Sie mich, äh, bedroht? Von Wahnsinn zum Beispiel?“
„Von Wahnsinn nein, nicht direkt. Von Manie ja, von Besessenheit.“
„Ich weiss, bin auf dem Ego-Trip.“
„Wenn Sie das wissen … Das müsste eigentlich reichen.“
„Um davon runterzukommen? Wenn ich das nur nicht ständig vergessen würde.“
„Was genau nicht ständig vergessen würden? Was genau?“
Er hatte eine Weile überlegt. Dann: „Dass wahrscheinlich alles ganz anders ist als ich denke.“
Worauf sie mit hochgezogenen Augenbrauen gesagt hatte: „Dass Sie das bloß nicht gleich wieder vergessen, Samsa.“
Die Erkenntnis, dass wahrscheinlich alles ganz anders war als er dachte, brauchte allerdings ihre Zeit, um in die Tiefe zu dringen. Die Lust daran, sich selbst zu erniedrigen, die Lust an der Bestrafung, die Lust an Frau Doktors Verachtung: erstmal war dieses perverse Gemenge nur noch schlimmer geworden, und wenn ihn auch schon nicht mehr erstaunte, dass er danach überhaupt begehrte, so erstaunte ihn immernoch, wie sehr. So sehr nämlich, dass er danach süchtig wurde und immer mehr davon brauchte. Bis er gar kein Geld mehr für etwas anderes übrig hatte und ihm der Imperator schliesslich mit äusserster Strenge Einhalt gebieten musste. Als er Frau Doktor telefonisch mitteilte, er müsse mal eine Pause einlegen, sagte sie nur: „Sehr gut, Samsa. Ich habe Sie sowas von satt.“

Die Versuchung, trotz des Verbots doch Frau Doktor wieder aufzusuchen, war umso mächtiger nun gerade durch das Verbot, sodass er sich während der ersten Wochen im Widerstehen regelrecht heroisch vorkam; und für eine ganze Weile dann noch immerhin wie ein Asket, stolz darauf, diese sich selbst auferlegte Disziplin tatsächlich durchzuhalten.
Dann war es zu dem Ereignis gekommen und die Sache mit Frau Doktor rückte in den Hintergrund. Denn da hatte ihn bald eine ganz andere Enthaltsamkeit in Anspruch genommen: die gegenüber jenem Weblog namens Schells Bureau. Und dem zu widerstehen, dieser Versuchung, es immer wieder zu öffnen und sich dem Unbegreiflichen auszusetzen, kostete ihn noch weitaus mehr Disziplin.
Wir wissen, was das Ereignis anstellte mit Schell, und was er mit dem Ereignis anstellte, und so wundert uns nicht, dass, als der Gedanke an Frau Doktor wieder aufkam, er sich zunächst gefragt hatte, ob die Vorstellung, sie aufzusuchen, überhaupt noch verlockend war, jetzt, da er gar keine Hemmung mehr verspürte. Du dürftest, sagte er sich, es ist nicht mehr verboten. Damit aber fehlt das Wesentliche. Kann das sein? Was ist das für ein Verlangen, das erlischt, wenn das Verbot, ihm nachzugeben, wegfällt? Das wollte er feststellen: ob es im Grunde das gewesen war, ein Verlangen nach dem Verbotenen, das ihn getrieben hatte. Und natürlich interessierte ihn, ob es wieder aufflammen würde, dieses Verlangen. Ein Spiel mit dem Feuer, klar, und also reizvoll; und als er da sein Herz schneller schlagen spürte, wusste er: ja, ich bin durchaus noch nicht runter von dem Trip.

I.8

Allein im tiefen Staat

 

Das Vestibül vor meiner Tür ist Teil einer weitläufigen Galerie, die eine riesige Halle umrundet, aus der, hier und gegenüber, zwei breite Steintreppen heraufführen, in mattem, von hoch oben durch eine Glaskuppel einfallendem Tageslicht.
Nirgendwo jemand zu sehen. All die hohen alten Holztüren, die von der Galerie abgehen, sind geschlossen. Und nichts ist zu hören ausser, sehr gedämpft, von da und dort ein monotones Klappern. Mechanische Schreibmaschinen. Die werden hier noch viel benutzt, trotz all der Computer, die in jedem Büro zwar da sind, doch wegen der unzuverlässigen Stromversorgung allzu oft nicht funktionieren.
Die mangelhafte Elektrik, dieses Hauptproblem der Andrianen – das übrigens auf den entlegeneren Inseln des Archipels niemanden groß kümmert –, ist auch hier auf Andria, der Hauptinsel, bis heute ungelöst geblieben. Erschwerend kommt jene Anomalie hinzu, die das hiesige Schwingungsspektrum betrifft. Sie bewirkt, dass auch wenn es Strom gibt, dann noch keineswegs Gewähr ist für das Funktionieren der Drahtlos-Übertragung. Was Leuten von auswärts immer wieder Anlass ist, sich empört über die Rückständigkeit der Andrianer zu beklagen. Das gibt’s doch nicht!, so hört man dauernd. Die hiesigen Frequenzen nicht stabil genug für digitalisierte Funkverbindungen? Das kann doch nur ein Märchen sein!

Um mich zu sammeln, gehe ich kurz auf Abstand; zoome mich aus der unmittelbaren Umgebung heraus, bis ich den Schauplatz als Panorama vor mir habe: diesen sogenannten Regierungspalast, der, so wie das Nationalmuseum, ein ähnlicher Kasten vis-a-vis, riesig und düster, jener Ära entstammt, in der den Andrianen wechselweise von Spaniern, Franzosen und Briten europäische Kultur aufgeprägt wurde. Bis zur sogenannten Unabhängigkeit in den 1960ern, als im Verlauf des Kalten Krieges die Hauptinsel zu einem Stützpunkt der amerikanischen Kriegsflotte wurde. Während nun inzwischen „wir“ – nicht offiziell natürlich, de facto aber – die „Regierung“ übernommen haben.

Ich zoome zurück in das schummrige Vestibül, wo auch weiterhin nichts als das leise Geklapper der Schreibmaschinen zu hören ist.
Was fange ich mit den Praktikanten an? Wenn solche jungen Leute aus den Wohlstandsländern kommen, dann sind sie so an das permanente Auf-Linie- beziehungsweise Online-Sein gewöhnt, dass sie hier, wo sie höchstens stundenweise Netz haben, natürlich erstmal die Wände hochgehen.
Lemm steht das durch, nehme ich an. Doch diese Monalisa? Eher nicht. Denn ihr overdrive ist ganz klar eine Entzugserscheinung. Falls sie’s aber doch durchsteht, muss ich dafür sorgen, dass sie in eine andere Abteilung kommt; zum Beispiel denen drüben in der Counter-Intelligence das Leben schwer macht, genauer gesagt: dem Rivera in die Arbeit pfuscht. – O je, genau so würde Paley denken. So denkt man in diesem Hause. So denke nun auch ich schon –.
Ich muss hier raus!
Brains. Der Interpol-Detektiv. Dass man den nicht einfach wie eine x-beliebige Person suchen und finden kann, weiss Paley ganz genau. Entweder ist Brains – falls er wirklich in Babaal ist – wegen mir hier: dann wird er mich finden; oder er ist wegen etwas hier, das nichts mit mir zu tun hat: dann kann ich lange suchen, und das hiesse: nicht leisten können, was Paley von mir erwartet. Womit dieser einen Grund hätte, meine „Entwicklung zu fördern“, wie es im Jargon des Hauses heisst, oder auch: mir „Gelegenheit zu bieten, mich auf einem anderen Tätigkeitsfeld angemessener einzubringen“, kurz gesagt: mich kaltzustellen. Was mir ja egal sein könnte, da ich sowieso hier raus will, mir aber trotzdem zuwider wäre, weil ich doch stark das professionelle Ethos in mit vorhanden fühle.
Jedenfalls habe ich diese Sache als einen Test zu betrachten, besser gesagt: auch diese Sache, denn allmählich kommt mir hier alles wie ein Test vor. Dass ich demnächst Brains begegne, muss also sein; und falls er bis jetzt noch wegen etwas hier ist, das nichts mit mir zu tun hat, ist dafür zu sorgen, dass ich baldigst was damit zu tun bekomme. Sonst wird er mich nicht aufsuchen und also ich ihn auch nicht finden.
Wann immer ich an Brains denke, fällt mir unweigerlich Bangor ein, wo ich ihn einst kennengelernt habe; als er da anfing, in jenem Fall von Liebestod zu ermitteln. Weshalb ich ungern an Brains oder an Bangor denke; stets nämlich berührt mich das Thema Liebestod sehr unangenehm. Dass ich mit diesem alten, juristisch längst verjährten Fall etwas zu tun habe, ahne ich – sonst würde Brains nicht jedesmal, wenn sich unsere Wege kreuzen, die Rede darauf bringen –, doch was ich damit zu tun habe, will ich durchaus gar nicht erfahren. Insofern bin ich auf Begegnungen mit Brains nicht gerade scharf, auch wenn die mir in der Regel interessante, manchmal wegweisende Informationen bescheren. Gewöhnlich endet unser Austausch mit dem Deal, dass ich ihm irgend ein entscheidendes Detail verrate und er mich dafür mit gewissen Details verschont, solchen nämlich, die mir meine Rolle im Falle Liebestod erhellen würden.
Bangor … Bangor! Das Stichwort! Zu dem, an was ich mich unbedingt erinnern wollte … Von dort kam ich, als ich vorhin diese Treppe heraufkam …
Ich starre in die dämmrige Halle hinunter. Wenn ich dahin zurück müsste? Keine Chance; ein viel zu komplizierter Weg. Erinnere mich nur noch an diesen schönen stillen Innenhof, der mir so bekannt vorkam. Weil ich genau von dort aus einmal ins sogenannte Telesterion geraten bin.
Jedoch die Kellertreppe, die ich da heraufkam, war mir neu. So wie ich auch diese Gewölbe da unten nicht kannte, diese Untergrund-Verbindung zum alten Flyshwerk. Durch jene Eisentür, die früher so hochmysteriös, vorhin aber nur etwas schwergängig war; und dort wieder Treppen. Die hinauf, und schon wäre ich wieder wie auf der anderen Seite, in Bangor –
Moment! Nein! Sah nur so aus wie Bangor, war es aber nicht – dieses Bangor war Bangot!
Jetzt habe ich alles wieder vor mir: das ursprüngliche Flyshwerk als Museum, die seltsame Führung, das mir unsichtbare Virtuelle, die Leute, die mich so befremdeten, das Steampunk-Ambiente … Und Flyrie! Der nicht, wie verabredet, erschienen war.
Und da fällt mir auch die Japanerin wieder ein. Die mir dort im Carlton aus dem Labyrinth herausgeholfen hat. Genau das, so wird mir klar, habe ich für Flyrie zu leisten. Dass er mir zur Hilfe in Bangot sei, war mal wieder falsch gedacht. Und da klopft mir plötzlich arg das Herz. Ich muss ja befürchten, er hängt da noch fest und schlägt sich mit autonomen Systemen herum. Die ihn womöglich zu töten versuchen. Schnellstens, heisst das, muss ich wieder nach Bangot, um ihn da rauszuholen. Aber wie? Wie jenen unterirdischen Gang, wie jene spezielle Kellertreppe wiederfinden? Ich muss in jenen Patio, ins Telesterion zurück. Doch wenn ich diesen Patio auch kenne, so habe ich doch keine Ahnung, wo er ist, wie man hineinkommt. So etwas wie das Telesterion findet man ja nicht einfach auf dem Stadtplan. Man müsste jemanden kennen, der weiss, dass es hier in Babaal so etwas gibt, und was ein Telesterion überhaupt ist. Ob Rivera es weiss? Oder jemanden kennt, den man fragen könnte?

Ein wenig hoffe ich, als ich aus dem Vestibül erneut durch diese Tür eintrete, hier nicht das chaotische Büro wieder vorzufinden, sondern das Studierzimmer, das Gegenbild zum Chaos: gediegen, klar und aufgeräumt.
Leider hat sich nichts verändert.
Könnte es nicht aber, von diesem Chaos nur verdeckt, doch das Studierzimmer sein? Gerade weil das Gediegene und das Klare hier völlig fehlen …
Ich versuche das Chaos wie etwas mir ganz neues zu betrachten.
Zwar steht da eine alte Schreibmaschine, doch meine gute alte Tippa ist das nicht. Auch das Sofa ist nicht dasselbe wie im Studierzimmer; aber immerhin, es ist da. Sehe auch nirgends den Spiegel; auch nichts, was symbolisch für einen Spiegel stehen könnte. Und auch die steinerne Schale mit dem Zigarrenstummel fehlt. Ganz zu schweigen von den fünf Objekten: das Wappen der Royalisten, der historische Säbel, das Sitting Bull-Portrait, die Maske, das Renaissance-Gemälde – sie fehlen allesamt. Statt des Gemäldes hängt eine Karte des Andrianischen Archipels überm Sofa. Auch dieses Sofa übrigens wirkt einladend.
Die Regalwand, die im Studierzimmer aus Büchern besteht, ist hier bis auf die letzte Lücke mit Aktenordnern gefüllt. Was sich überall stapelt, sind Zeitschriften und Broschüren, Landkarten, Tabellen, Memoranden, Skripten, Notizblätter; und sämtliche Bücher erweisen sich bei näherem Hinsehen ausnahmslos als Nachschlagewerke, Lexika, Almanache und dergleichen. Ich staune. Keine sonstigen, keine literarischen Bücher? Keine. Da ist nicht einmal Livermore’s Standardwerk über Andria. Ich bräuchte ein Exemplar davon für Lemm …
Nicht mal ein Buch? Das gibt’s doch nicht! Ist eigentlich unmöglich.
Leider habe ich zum Weitersuchen nicht die Muße, die Zeit drängt.
2014 haben wir laut Paley, und das kann ich ihm ausnahmsweise glauben.
Dass ich hier nicht im Jahr 2020 bin, ist ja an sich nichts besonderes; doch dass wir 2014 schreiben, ausgerechnet das Jahr, das ist interessant. Das Jahr, in dem Schells Bureau im Internet erschien. Zu Weihnachten. Als ich auf Kuba war. In Havanna. Wo das Netz damals noch in den Anfängen steckte, so schwach entwickelt wie es zur Zeit auch hier in Babaal noch ist.
Wie ich ja sehe, herrschte also damals, 2014, dieses Chaos in meinem Büro; und das laut Paley schon seit Jahren. Da hat er einfach recht: hier muss endlich aufgeräumt werden. Doch erstens: wo anfangen? Zweitens: ist es sowieso nicht zu schaffen. Und drittens: zu nichts habe ich weniger Lust. Und da gähne ich schon und weiss, ohnehin wird sich in mir gleich der „Mann auf der Flucht“ durchsetzen und mich in Richtung Sofa dirigieren. Und nachher werde ich einfach Paley’s Ratschlag befolgen und mir einen Schredder besorgen. Das ist die einzig realistische Lösung. Das mache ich morgen mit Lemm, schreddern – und dann auch gleich den Inhalt all dieser Aktenordner. Damit er dieses ganze Zeug gar nicht erst zu digitalisieren braucht.
Den armen Lemm zum Bücherlesen zu verdonnern, welch ein Blödsinn! Lieber mache ich ihn erstmal mit Babaal bekannt. Da er ja nun schon mal hier ist, wäre es am sinnvollsten, ihn als meinen Nachfolger zu betrachten. Und dann kann’s doch nur noch ums Wesentliche gehen, denn uns bleibt nicht viel Zeit; und das Wesentliche ist, dass er die Real-Technik begreift. Im Prinzip wenigstens. Und sobald der Junge verlässlich auf seinen eigenen Beinen steht, lasse ich diesen Schauplatz hinter mir. Um weiter zu versuchen, auf die nächste Ebene zu kommen; es konsequenter zu versuchen als bisher: Das Reich zu begreifen.
Da höre ich vom Fenster her Geflatter. Eine Brieftaube ist hereingeflogen und auf dem Schreibtisch gelandet. Kann nur Rivera sein, von dem sie Botschaft bringt. Die Counter-Intelligence gibt sich traditionell altmodisch, und speziell Rivera nutzt gern die älteren Wege der Kommunikation.
Lower your profile!
Eine Warnung.

Wir sollen, auch wenn das nirgendwo geschrieben steht, zu den Kollegen der Counter-Intelligence möglichst Abstand halten; was begreiflich ist, arbeitet doch diese besondere Abteilung irgendwie gegen alle anderen Abteilungen; irgendwie, denn so recht weiss niemand, wie. Insofern stellt sie für uns Nichteingeweihten eine latente Bedrohung dar. Was im einzelnen die Counter-Leute treiben, wer bei ihnen das Sagen hat, ob die Mittel, die sie zur Verfügung haben, wirklich unbegrenzt sind, wie man munkelt, über all das lässt sich nur spekulieren. Worum sie jedenfalls beneidet werden, ist das Privileg, dass sie nichts erklären, nichts begründen müssen, da sie Rechenschaft anscheinend, wenn überhaupt, nur ganz oben abzulegen haben. Man kann so sagen: Was im Staat der „tiefe Staat“ ist, ist wiederum im tiefen Staat die Counter-Intelligence.
Weil ich aber nun einmal mit dem Counter-Mann Rivera schon seit vielen Jahren gut bekannt, ja befreundet bin und mein Spielraum, was die im Regierungspalast herrschenden Gepflogenheiten angeht, zwar eng, doch durchaus vorhanden ist, setze ich mich, wann immer es mir, oder ihm, angezeigt erscheint, über das Abstandsgebot hinweg, um mit ihm, wie wir es nennen, „eine Runde zu drehen“.
Stets hält Rivera, wenn wir unterwegs sind, Ausschau; nach Gesichtern, Konstellationen, Hinweisen auf die atmosphärischen Verhältnisse; Ausschau nach allem möglichen, nicht zuletzt auch in den Läden voller „Trödel“, die’s in Babaal so reichlich gibt: nach alten Büchern, seltenen Instrumenten, nach Kryptotabellen und Wegskizzen; nach Kram aus angeblicher Piratenbeute, Siegelringen und Münzen, Kultobjekten und Artefakten aus dem Outer-Space-Untergrund; sowie nach Trickvorrichtungen, Illusionsbrillen, Funkgeräten und anderem Low-Tech-Plunder. Ständig kauft und verkauft er solches Zeug, und klar geht’s ihm nicht eigentlich um diese Gegenstände, vielmehr ums Tauschgeschäft und die damit einhergehenden Schwätzchen mit all den dubiosen Händlern. Kurz, mit Rivera eine Runde zu drehen, macht Spaß.

Lower your profile! … Vor was will er mich warnen? Gibt’s vielleicht etwas, das ich ohne es zu bemerken ausgeplaudert habe? Oder das ich versehentlich noch ausplaudern könnte? Das System ist gelenkig und reagiert schnell. Jederzeit – in diesem Moment – kann sich die Gesetzeslage ändern, zum Beispiel dergestalt, dass der unverdächtigste Status plötzlich der verdächtigste ist. Und sich dann mit dem Argument zu rechtfertigen, dass man ja nun mal naiv sei, wäre einzig sinnvoll, wenn man nur noch in einem Schuldbekenntnis die Chance sieht, sich aus der Affäre zu ziehen. Wenn man allerdings glaubt, das Eingeständnis der Naivität müsse doch, wie die Naivität selbst, die Schuldfähigkeit mindern, ist man wirklich naiv. Und so wiederum könnte sich doch das naive Eingeständnis der Naivität als das blaue Auge erweisen, mit dem man eventuell davonkommt. Alles in allem hängt es letztlich davon ab, wie nachlässig oder human der entsprechende Algorithmus programmiert ist; genauer gesagt: wieviel an Spuren von Nachlässigkeit oder Humanität in der Selbstprogrammierung noch enthalten sind. Womit nur angedeutet sein soll, dass es nicht ganz leicht ist, im tiefen Staat auf Dauer zu bestehen.

Lower your profile … Hat sich etwa mein Profil in letzter Zeit erhöht? Könnte sein; denn dass ich davon nichts bemerkt habe, bedeutet gar nichts. Unwahrscheinlich jedenfalls, dass Rivera mich grundlos einfach nervös zu machen versucht. Er weiss, dass ich das low profile immer für eine gute Strategie gehalten habe.
Ich gähne – und finde, in speziell diesem Zusammenhang kann ein Schläfchen nicht schaden; und mache mich also low, indem ich mich auf dem Sofa ausstrecke.

Ich bin am Suchen, träume ich; suchend nach den Gegenständen, die zum Studierzimmer gehören, aber in verschiedenen Versionen auch in jedem der fünf alten Refugien vorhanden sind: Schreibmaschine, Spiegel, Aschenbecher. Denn dieses Chaos-Büro ist in Wahrheit, so scheine ich zu glauben, Refugium Nr. 6, das Studierzimmer, nur in unaufgeräumtem oder: getarntem Zustand.
Den Spiegel finde ich nicht, dafür, als ich am Schreibtisch eine Schublade aufziehe, von der ich bis dato gar nichts wusste, ein Buch, und zwar des Dante Alighieri Divina Commedia. – Oh. Ja das, das wollte ich immer schon mal lesen. Aber im Original? Italienisch kann ich leider nicht. Und sowieso habe ich mal wieder, wie immer, keine Zeit.
Sie drängt, die Zeit, immerzu. Das ist sie ja gerade: dass sie drängt. Aber auch im Traum? Denn ich träume doch … Ach so ein Traum ist das mal wieder, wo du weisst. Auch was Zeit ist. Und nachher weisst du nicht mehr, dass du weisst; wie blöd … Aber dass du’s jetzt wenigstens weisst, sei doch froh!
Ich suche weiter, und schaue endlich auch unterm Sofa nach, und da, mit stark eingestaubtem Deckel, ist sie ja: meine alte Tippa. Und dann, zur weiteren Bestätigung, dass das hier wirklich das Studierzimmer ist, entdecke ich, ganz simpel auf der Fensterbank, auch die kleine Steinschale mit dem Rest jener Zigarre, die nur von einem stammen kann, von Forty Operas. Dies unscheinbare Denkmal, denke ich, und schnuppere daran. Es stinkt genauso wie erwartet: nach Schamanen-Kraut. Konnte ihn nie wegschmeissen, diesen denkwürdigen Rest, weil ich fürchtete, dann etwas zu vergessen.
Wichtig war es, aber was nochmal? Jetzt hab ich’s doch vergessen. Dann kann’s ja nun auch endlich weg, dieses obskure Denkmal. Und damit beuge ich mich aus dem Fenster und puste den alten Stummel in den Wind.

B.7

Da war doch was

Von dem, was er letzte Nacht geträumt hatte, ist nicht viel übrig geblieben, doch das Wenige beschäftigt ihn noch: Eine Szene am Theater, nicht auf der Bühne, sondern irgendwo hinter den Kulissen. Sein verstorbener Vater – er war Schauspieler gewesen – hatte ihn dem „Meister“ vorgestellt und sich dann gleich zurückgezogen. Von der Gestalt erinnert er lediglich, dass sie schwarz gekleidet gewesen war, ansonsten ist ihm von diesem Meister kein konkreter Eindruck, nur dieser Rätselspruch zurückgeblieben:
Zwei sagen, sie kommen dir zur Rettung – in Wahrheit, um dich auszulöschen.
Einer sagt, er löscht dich aus – der wird dich retten.
Uns ist klar, dass das nicht ein Produkt des üblichen Traumlebens ist, sondern von einer Ebene stammt, die wir den Traumkanal nennen; und unserem Schell ist das ebenso klar. Er fasst den Spruch als eine Botschaft auf. Der Versuch sie zu entschlüsseln, war verlockend gewesen, doch allzu wahrscheinlich, so hatte er sich gesagt, würdest du sie nur missverstehen, und hatte sich also damit begnügt, sie bloß kommentarlos zu notieren.
Da war aber noch was anderes, denkt er, etwas, dass ich dringend durchdenken sollte. Nur was? Ich müsste systematisch rückwärts …
Der erste Fahrgast an diesem Tag, ein junger Mann, der zum Hauptbahnhof will, fragt, kaum ist er eingestiegen: „Was ist los? Ist der Cassettenrecorder kaputt?“
„Oh, ach ja …“ Dass er keine Musik laufen hat, ist ihm noch gar nicht aufgefallen.
you can pawn your watch and chain, but not that feel … „Tom Waits okay?“
„O ja, absolut. Danke.“

Nachdem er so lange schlecht geschlafen und so gut wie gar nicht mehr geträumt hatte, kann er sich, seit er wieder gut schläft, fast jeden Morgen an einen Traum erinnern. Und wie früher, gehören die meisten seiner Träume entweder dem „Labyrinth“ an oder der „Reise“. Beide Traumarten wirken wie gemacht, nämlich insofern sie ihm wie Fortsetzungen erscheinen; das heisst sie bilden, wenn er sie im Wachzustand in ihrer Gesamtheit überblickt, einen relativ sinnvollen Zusammenhang.
Schauplatz der Labyrinthträume ist ein riesiges Gebäude, mal ein Häuserblock oder ein Hochhaus voller Menschen, mal ein Palast, ein Schloss, ein alter Theaterbau, menschenleer; mal auch eine Art Bunkeranlage oder etwas, das wie das Innere eines Riesenschiffs wirkt; während in den Reiseträumen zwar alle Verkehrsmittel schon irgendwann vorkamen, meistens aber Eisenbahnzüge der Schauplatz sind. So wie er im Labyrinth jedesmal auf ihm neuen unbekannten Wegen herumirrt, dabei aber weiss, dass es immer dasselbe Gebäude ist, so weiss er auch über die Reise jedesmal, dass es in den wechselnden Gegenden immer dieselbe ist: die Reise, von der er nicht weiss, wohin sie geht.
Seit er begonnen hat, sich das jeweils Bemerkenswerte eines Traums in ein Notizbüchlein zu schreiben, ist ihm als eine allmähliche Veränderung seines Traumleben aufgefallen, dass es immer konkreter mit seinem Wachbewusstsein zusammenhängend erscheint. Weil er den Träumen gegenüber jetzt aufmerksamer ist? Und er fragt sich: Kann etwa meine Aufmerksamkeit bewirkt haben, dass ich neuerdings anders träume?

Da war doch was. Das fällt ihm ein, immer wieder: dass da etwas ist, über das er unbedingt nachdenken muss. Schon gestern war es so gewesen, und vorgestern: Entweder fiel ihm ein, dass da was war – dann wurde er unterbrochen und dachte nicht mehr daran; oder er hatte Gelegenheit, sich zu konzentrieren – dann aber kam er nicht darauf, dass da was war.
Jetzt, da ihm gerade wieder eingefallen ist: Da war doch was, fragt schon wieder ein Fahrgast: „Keine Musik heute?“
Mann, Schell, reiss dich zusammen! Deine Kunden wollen das Retro-Taxi wegen der alten Musik … „Reggae gefällig?“ „Na klar!“ Als er dann aber hört, was er da eingeschoben hat, murmelt er: „Maxie Priest, also das geht ja heute gar nicht“, und er greift erneut in die Reggae-Abteilung … Sly & Robby, The Adventures of a Bullet. „Das geht.“

Seit er in Schells Bureau das Kapitel Dem Machtwort auf der Spur gelesen hatte, liess sich dieser Ort nicht mehr betreten. Zunächst hiess es jedesmal, wenn er oder Freund Manne es versuchten: Vorübergehend nicht verfügbar. Sie probierten es täglich, vergebens. Dann hiess es nur noch: Zugang verweigert. Sie probierten es weiter, und weiterhin vergebens. Und schliesslich kam der Tag, von dem an jedesmal, wenn sie Schells Bureau eingaben, der Bildschirm schwarz wurde und darauf die kleine Zeile erschien: Hier ist das Internet zuende.
„Soll wohl ein Witz sein“, hatte er zu Manne gesagt.
„Ein Witz ohne Pointe? Ist doch kein Witz.“
„Weil wir ihn noch nicht kapieren. Oder weil er sich erst noch zum Witz entwickeln muss.“
„Wir haben es also mit einem Witz-Potential zu tun.“
„Aber ob man darüber auch schon lachen darf? Das wäre ziemlich unvorsichtig.“
„Doch unwiderstehlich. Wir lachen einfach unter Vorbehalt.“
„Genau, mit einer Klausel, die besagt, dass das, worüber wir heute lachen, sich eventuell einmal als völlig unwitzig erweisen könnte.“
„Was unter vorausschauendes Bereuen vielleicht mal in die Geschichte der Psychologie eingeht.“
„Aber erst, wenn aus der Psychologiegeschichte die Geschichte des Karma-Bewusstseins geworden ist.“
„Och, Schell, damit machst du uns jetzt das ganze schöne Witz-Potential kaputt.“
„Nur so wird Platz fürs nächste.“
Als er jetzt an dieses Gespräch zurückdenkt, fällt ihm ein, von wem er das hatte, was ihm damals bezüglich Karma-Bewusstsein an Stelle von Psychologie herausgerutscht war, von Mahmoud nämlich. Denn er sitzt gerade an einem Taxistand vorm Hauptbahnhof in seinem Wagen und hat plötzlich diesen sehr sympathischen iranischen Facharzt für Nierenheilkunde vor sich: in der einen Hand die Reisetasche, die andere am Hut, damit der starke Wind ihn nicht davonbläst, im Laufschritt die Straße überquerend und so offensichtlich in höchster Eile, dass leider eine auch nur flüchtigste Begrüßung hier unangebracht wäre.
So ein begeisterter Mensch, denkt Schell, wie gern ich mich mit dem mal wieder unterhalten würde … Woher er wohl was über Karma weiss?
Dass dieser einzige aus Ingruns Freundeskreis, den Schell tatsächlich vermisst, ein Wiedersehen mit ihm vielleicht absichtlich vermeidet, weil er inzwischen Schells Stelle als Ingruns Liebhaber eingenommen hat, auf diese Idee wäre er von sich aus nie gekommen. Und als er es erfährt – kaum zehn Minuten später nämlich –, wird er finden, dass es ja nur für Mahmoud spricht, wenn der bisher die Begegnung mit ihm deshalb vermieden hatte, um ihnen beiden eine Peinlichkeit zu ersparen. So etwas kann Schell gut nachvollziehen; auch wenn er selbst gar nichts daran peinlich findet. In solcher Hinsicht ist er pragmatisch eingestellt: Sollte Mahmoud besser zu Ingrun passen als er, umso besser doch für alle Beteiligten. Wobei ihm eigentlich solche Ökonomie verdächtig ist und ihm auch nicht entgeht, dass er insgeheim sich selbst für diese Art emotionaler Logistik sogar ein wenig verachtet.

Der Wind ist heftiger geworden, rüttelt jetzt regelrecht an seinem Taxi und treibt etlichen Abfall durchs Bild, Pappbecher, Tüten, ganze Müllsäcke …
Jedenfalls hatte er noch über längere Zeit besagtes Weblog zu öffnen versucht und doch immer wieder nur gelesen, dass hier das Internet zuende sei; dann immer seltener; dann nur noch alle paar Wochen. Schliesslich hatte er gedacht: Das war’s wohl, der Spuk ist vorbei; und er war froh darum gewesen.
Doch wie oft er sich das auch gesagt hatte: Schliessen wir dieses verstörende Kapitel, das Ereignis sei Vergangenheit!, so oft war ihm seitdem auch in den kleinsten, alltäglichsten Bezügen immer wieder klar geworden, dass es ihn in Wahrheit vollkommen beherrscht; dass das Ereignis, dieses große unlösbare Rätsel, zum Epizentrum seines Daseins geworden ist.
Er hat die Unlösbarkeit zu akzeptieren gelernt, und für dieses Ergebnis – wie vorläufig es auch sein mag – ist er dankbar, ja hat dabei gar ein Gefühl von Glück gehabt.
Das Unerklärliche irgendwann unerklärlich sein zu lassen, ohne darüber in Gleichgültigkeit zu verfallen; der Unlösbarkeit sich zu ergeben, ohne seinen Verstand aufzugeben, vielmehr sich selbst als denkendem Wesen gegenüber Nachsicht zu üben, ja diesen Blickwinkel, diesen eigentlich unmöglichen, weil unablässig sich bewegenden Standpunkt zu finden, das heisst als solchen überhaupt zu erkennen, und ihn, da man ihn ständig verliert, immer wiederzufinden – wer das vielleicht für ein Geringes hält, könnte es auch für überspannt halten, dass Schell sich manches Mal sogar zusammenreissen muss, damit er sich vor Euphorie nicht selber gratuliert, das heisst der Eitelkeit nicht nachgibt und irrtümlich meint, es sei allein sein Verdienst gewesen, dass er nicht den Verstand verloren hat; dass er so gut wie heil geblieben ist und sich nach alledem, ein wenig überspitzt gesagt, selber überhaupt noch wiedererkennt.
Denn das gründet sich ihm fortan unwiderleglich auf Erfahrung: Dass er, anders als er bisher gedacht hatte, gar nicht allein da draussen ist – mit da draussen meint er alles, was nicht er selbst ist, das ganze Universum –; vielmehr dass da Geist ist, guter Geist, aber auch nicht so guter, und auch unguter Geist – Geist jedenfalls, in dem und durch den er überhaupt existiert. Wenn er sich diese Einsicht auch immer wieder aufs neue vergegenwärtigen muss – da war doch was –, weil er sie immer wieder vergisst – zu groß ist sie für sein Alltagsbewusstsein –: dieses Hin und Her zwischen Erinnern und Vergessen gehört wohl, notwendig vielleicht, wie er sich sagt, zu den Bedingungen des Daseins.
Und dass sich nun auch die „Realität“ als ganz anders erweist, als er immer dachte – aber wie denn hatte er sie sich vorher eigentlich gedacht? Und wie denn, fragt er sich, denke ich sie mir jetzt? Und er horcht ganz genau hin und stellt verwundert fest – und zwar verwundert eigentlich nur aus alter Gewohnheit –: Der Gedanke Realität, in Ruhe gelassen so wie er ist, löst das in mir aus, was mir doch inzwischen längst vertraut ist als – da war doch – nein, da ist doch was. Raum der Vorstellung? Oder Raum in der Vorstellung? Vorgestellter Raum?
Hiermit ist Schell in seinem sogenannten Tautoloid, dem Ort im Raum, der zum Raum wird, in dem Orte sind. Wo der Raum, denkt er, den ich mir vorstelle, zum Raum der Vorstellung wird. Nenn es doch einfach: Stille.
Und jetzt ist er müde, sehr müde.
Er denkt: Säße ich in einem Zug und hätte einen Hut auf, würde ich mich nun zurücklehnen, mir diesen Hut über die Augen schieben und ein wenig ausruhen … Und als ihm einfällt, woher ihm gerade dieses Bild kommt, überfliegt ein Lächeln sein erschlafftes Gesicht.
Da pocht es auf der Beifahrerseite an die Scheibe und der schlanke, elegant gekleidete Herr mit dem schwarzen Schnurrbart, der da, seinen Hut in der Hand, mit zerzaustem Haar, fragend zu ihm hereinschaut, ist – Mahmoud.
Schell klopft auf den Beifahrersitz.
„Ich sah dich eben lächeln“, sagt der sympathische Nierenheilkundler, als sie sich erfreut die Hände schütteln, und mit Blick auf den Cassettenrecorder: „Vielleicht weil das grandiose Pathos von Mr. Ferry so hervorragend zu diesem Wetter passt?“
Schell drückt die Aus-Taste. „Eigentlich geht mir Roxy Music schon fast wieder auf die Nerven. Da aber alternativ gerade nur John Coltrane infrage käme … Nein. Worüber ich lächeln musste, war diese Stelle bei Proust: Wie Swann da das Vergehen seiner Liebe zu Odette erlebt; es bedauert, dass mal wieder die Wirklichkeit anders ist als er sie gern hätte; dass er auf das nicht mehr vorhandene Gefühl nicht genussvoll wehmütig zurückblicken kann wie ein Reisender vom Zug aus auf eine entschwindende Landschaft – wie aber der Autor, Proust selbst, genau das eben vermag, und sich sogar, in der Gestalt von Swann, und ach so müde als solcher, einen Hut über die Augen schieben kann, um sich bei einem Nickerchen in der imaginären Eisenbahn von den Anstrengungen des Beschreibens zu erholen.“
Mahmoud seufzt. „Unser Proust, o ja … Hat uns je einer die Komödie des Leidens so fein, so schön serviert? Jedenfalls habe ich mich völlig umsonst abgehetzt, mein Zug kommt, wenn überhaupt heute noch, mit Riesenverspätung, wegen Sturmschäden, und damit brauche ich gar nicht erst loszufahren; was für die Kollegen auf dem Kongress den großen Vorteil hat, dass mein Vortrag einfach ausfallen wird, und für mich, dass ich unverhofft zu etwas Freizeit komme.“
„Ist erst zehn Minuten her, da dachte ich, wie gern ich mich doch mit dem Mahmoud mal wieder unterhalten würde.“
„Das freut mich! Übrigens, die Nummer, die ich von dir habe …“
„Ist genauso falsch wie die, die ich von dir habe. Dacht ich mir schon, dass sie uns verarscht hat. Du glaubst mir nicht – verstehe. Warte – hier: das ist die Nummer, die sie mir gegeben hat, angeblich deine. Und die vergleiche mal mit der von mir, die du von ihr bekommen hast.“
Mahmoud, als er tat wie ihm geheissen, staunte: „Dieselbe. Das heisst … Sie hat sich vertan!“
„Jaja. Und dass die Kartons mit meinen Sachen bei dir deponiert sind, stimmt das etwa?“
„Äh, bei mir? Da ist nur immer noch das Büchlein, das du mir mal geliehen hast.“
„Ach ja, das von Cusanus, Von der wissenden Unwissenheit. Wieso gerade das?“
„Wir hatten’s damals vom Turing-Test. Wie man aus Texten herauslesen kann, ob sich da jeweils wirklich Geist oder nur simulierter Geist ausdrückt. Du kamst mit dem Beispiel, wie besonders angenehm der Geist sich zeigt, wenn er bei einem Denker wie Cusanus in Erscheinung tritt. Und du hattest recht, kann ich nur sagen. Selten dass ich etwas zweimal lese, dieses aber über die wissende Unwissenheit hatte ich schon dreimal mit im Urlaub.“
„Dann ist wenigstens dies eine meiner Bücher nicht verloren. Behalte es.“
Mahmoud streicht sich nachdenklich den Schurrbart. „Ingrun hat tatsächlich behauptet, deine Sachen seien bei mir deponiert?“
„Tja. Was erwarten wir von einer Person, die einerseits ein Schweinegeld mit Image-Beratung macht, sich andererseits mit gender studies profiliert und drittens extra nach Vancouver fliegt, um Eckart Tolle zu sehen? Ich meine, es dürfte doch für so jemanden völlig normal sein, zwei Deppen wie uns just for fun einen Scheiss zu erzählen.“
Da lacht Mahmoud. „Ein bisschen Groll ist da nicht ganz zu überhören.“ Dann wieder ernst, und sichtlich verlegen: „An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass, äh, Ingrun und ich …“
Schell glotzt ihn an. „Du? Mit Ingrun?“
„Ich sehe, jetzt rattert’s bei dir – hey, lohnt nicht; als es funkte zwischen ihr und mir, ward ihr schon längst nicht mehr zusammen.“
„Na schön, aber bei euch? – ist es noch nicht – vorbei?“
„Wie? O nein! Wir überlegen im Gegenteil sogar –“
„Zu heiraten! Das kenne ich! – Mann, Mahmoud, lieber Freund, du bist doch klug!“
„Danke. Du doch aber auch – nur kannst auch du nicht immer völlig objektiv sein.“
„Hm, hast recht, ich muss die Klappe halten. Nur überlege es dir bitte gut. Dass Ingrun power hat, weisst du – aber dass sie auch Nachtwandlerin ist? Du kannst nie wissen, ob sie gerade wach ist oder träumt.“
„Nun hör aber auf! Das ist Manipulation.“
„Zum Glück bist du Arzt, das wird den Notfall dann hoffentlich etwas abfedern.“
Worauf Mahmoud kichert, die Play-Taste drückt, sodass Bryan Ferry weitersingen kann, und befiehlt: „Bring uns hier raus. Kurs auf einen Laden, in dem wir anständig zu Mittag essen können.“

Schell hatte Uschi angerufen und gemeldet, es flögen inzwischen beträchtlich große Dinge durch die Gegend, auch Baumkronen zum Beispiel, daher habe er den guten alten Daimler in einem Parkhaus untergebracht und sich in ein Restaurant zurückgezogen.
Mahmoud kommt wieder auf Ingrun zu sprechen. „Das mit Vancouver, ist das wahr?“
„Na klar. Sie wollte unbedingt Herrn Eckart Tolle exklusiv. Klappte natürlich nicht; man braucht ihm ja nur zuzuhören, oder ihn zu lesen. Aber tatsächlich machte sie ihn quasi für den Fehlschlag verantwortlich; und fortan war er für sie gestorben.“
Mahmoud’s Versuch, das amüsant zu finden, fällt wenig überzeugend aus. „Ich denke, du übertreibst. Weil du noch immer sauer auf sie bist. Verständlich, da du glaubst, dass sie deine Sachen einfach hat verschwinden lassen.“
„Glaub ich nicht nur – hat sie. Aber deswegen grolle ich ihr gar nicht, bin ja sogar dankbar, den ganzen Krempel los zu sein. Höchstens vermisse ich mal das eine oder andere Buch, auch das ist aber halb so wild; was ich in meinem Gedächtnis nicht wiederfinde, war für mich wahrscheinlich sowieso nicht wichtig.“
„Aber sicher liest du noch. Wo bist du da gerade?“
„Bei Schelling. Lese zur Zeit nur noch in der Bibliothek. Ach ja, und suche gerade eine Reiselektüre. Freunde von mir finden, ich sei gestresst; von was, ist eine lange Geschichte, erspar ich uns lieber; ich müsse jedenfalls unbedingt mal ausspannen, verreisen; Problem ist: Wohin?“
„Das ist natürlich schwierig. Aber macht Spaß, hoffe ich doch.“
„Das Ziel richtet sich ganz nach der gesuchten Lektüre, diese jedoch hängt vom Ziel der Reise ab – komisch ist das irgendwie.“
„Wenn ich das auf Diagnose und Therapie übertragen würde, o je …“
Sie denken kurz darüber nach; schütteln dann beide den Kopf, und Mahmoud sagt: „Die Welt wäre eine völlig andere.“
„Man würde unsere Organe unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachten, die Nieren zum Beispiel … Gibt’s da übrigens irgendwas neues?“
„Darüber würde ich heute Nachmittag in Berlin sprechen, wenn ich jetzt im Intercity säße. Wie brennend interessiert dich, was an Rückschlüssen die klinische Forschung zur Zeit über das Treiben gewisser Moleküle zulässt?“
„Was an der Nierenforschung fürs Big Picture relevant ist, interessiert mich allemal, schliesslich trage ich selber ein Paar dieser Wunderwerke im Leib. Das heisst, was den Aspekt Mikrokosmos/Makrokosmos angeht – und der scheint mir doch gerade in puncto Medizin der wesentlichste zu sein –, Nierchen hier drinnen, Planeten da draussen –“
„Ach, Schell, du weisst genau, besonders dafür haben wir in der Uniklinik gar keine Zeit. Aber natürlich darfst du mich gern provozieren.“
„Du hast nur keine Lust, einen Laien ausserhalb der Sprechzeiten nephrologisch aufzuklären.“
„Oder bin jetzt dazu nicht in der Lage. Weil ich gerade nicht ganz bei der Sache bin. Weil ich mich frage, was ich da an dir wahrnehme – ich meine, Stress ist nicht das richtige Wort; eine lange Geschichte, sagtest du.“
Schell schaut aus dem Fenster. Das Restaurant ist voll besetzt und alle schauen hinaus. Der Sturm erzeugt ungeahnten Lärm, heult, braust, pfeift und lässt es krachen, und die Sirenen von Feuerwehr- und Rettungswägen schwellen unablässig an und ab.
„Und in wiefern Ingrun was damit zu tun hat, frag ich mich“, fährt Mahmoud fort.
Schell nickt gen Fenster. „Damit? Sie mag wohl mächtig sein, aber dass sie auch das Wetter so krass beeinflussen kann, glaube ich nicht.“
„Dass du wie eh und je zum Scherzen aufgelegt bist, beruhigt mich. Doch dass du kein anderes Problem hast als Wohin-in-Urlaub, das nehme ich dir nicht ab. Vielmehr möchte jetzt der Nephrologe gerne wissen, was dir tatsächlich so an die Nieren geht.“
Unmöglich. Wie das mal kurz erzählen? „Kennst du das Gefühl, gleich kommt’s? Ich meine, immerzu, ohne aber dass es dann kommt?“
„Du sprichst von der Erkenntnis.“
„Von der, genau. Nicht von irgendeiner, sondern von der für mich einzig wahrhaft wichtigen. Der Erkenntnis, was tatsächlich real ist.“
„Aber sie kommt nicht …“
„Doch. Sie kommt und kommt und kommt.“
„Hört nicht auf zu kommen … Au weia.“
Schell bemerkt da ein Vibrieren; holt das Handy aus der Hosentasche – kurze Nachricht von Frau Doktor: 17 Uhr, heute.

S.10

Die Schwarmmaschine

Wie oft ich diesen Hafengeruch schon eingesogen habe und ihn jedesmal, wo auch immer, so wie jetzt empfand: wie ohne Heimat überall zuhause. Wenn ich der Menschheit einen Geruch zuordnen müsste, ich glaube, es wäre dieser.
Die gesuchte Adresse ist ein ziemlich hohes und langes Geschäftsgebäude, völlig schmucklos, abgesehen von diversen großen Werbeschriften an der Fassade; und wie der nette Taxifahrer gesagt hatte, ist auf keinem der vielen Schilder an den verschiedenen Eingängen The Framing Company zu finden.
Man nehme nur nicht wörtlich, was auf der Visitenkarte eines professionellen Fälschers steht; schon gar nicht, wenn klar ist, dass dieser Fälscher, der sich Mek al-Möffi Merikanski nennt, nur der alte Murphy sein kann. Und also – typisch Service of Intelligence – dürfte diese falsche Adresse die richtige sein.
Im übrigen ist mir, als sei ich schon mal hier gewesen. War ich zwar nicht, ergibt aber Sinn, wenn ich bedenke, wie japanisch ich inzwischen aussehe; wie ich dem Anschein nach Kimura bin. Zumindest auch Kimura bin. Und hier also als Agent im Service of Intelligence auftrete. Und als solcher durchaus schon mal hier gewesen sein könnte.
Hey, ich weiss nicht: ob die Notfallnummer zu wählen eine so gute Idee war? – Zu spät; du hast mich aktiviert, und jetzt weisst du, wie das ist. Und ist es etwa schlimm, Kick Kimura zu sein? – Erst einmal nur ungewohnt. Ich stelle mir vor, äh – müsste ich nicht plötzlich eine ganze Menge wissen? – Müsstest du allerdings. Hast doch wohl nicht jahrelang umsonst in der Technik-Folgenabschätzung gearbeitet. Du weisst über den Service of Intelligence Bescheid, über Forty Operas, über Murphy und Co, über mich; und auch über die MoTech, nehme ich an. Und kanntest die Nummer des Hongkong-Telefons. – Tatsächlich, ja; hatte bis vor kurzem sogar einen Exoot zur Verfügung. Nur wie ich an den rangekommen bin, weiss ich nicht mehr. Gibt da so eine Art Gedächtnislücke. – Aha. Typisch. Und hast du schon eine Ahnung, was wir unter einem Body Job verstehen? – Hm. Vielleicht das, was hier gerade läuft? Mich wundert ja nur, wie offen du sprichst; dass du sogar die MoTech erwähnst … Wir sind doch online, oder? – Spielt für mich keine Rolle mehr. Ich kenne nicht den aktuellen Stand der Dinge; bin schon zulange draussen, persona non grata seit Jahren. Was online sein darf und was offline gehört: keine Ahnung. Und was auch immer das für ein Notfall sein soll, dem ich meine Aktivierung verdanke, er ist für mich ein Glücksfall. Ich bin endlich zurück im Service. Und habe nicht das geringste zu verlieren. – So also spricht der legendäre Spezialist für ausweglose Fälle. Was ich da leider am allerwenigsten heraushöre, ist Zuversicht. – Was hast du denn erwartet, Schell? – Bisher gar nichts. Ich war skeptisch, ob ein Notfallprogramm tatsächlich existiert. Kennst du Ladenheuser? Sachbearbeiter in der Technik-Folgenabschätzung; mein Operator. Jedesmal, wenn ich dachte, dass er mir irgendeinen Mist erzählt, stellte sich heraus, dass es mir entweder an Vorstellungskraft gefehlt oder ich ihn falsch verstanden hatte. Und letztens hörte ich von ihm die Formulierung: Solange Sie glauben, Schell zu sein. – Was dir nun ja nicht mehr allzu rätselhaft vorkommen dürfte. Und jetzt, mein Freund, vertraue. Alles ist normal hier, es droht von nirgendwo Gefahr, nicht jedenfalls akut. Und was dein Äusseres angeht, so kannst du ganz beruhigt sein: gewisse Veränderungen an dir, das Japanische zum Beispiel – den Kick Kimura –, bemerkst nur du. Und du selbst übrigens, falls du dir Sorgen um dein Ego machst, bist kein bisschen weniger vorhanden als zuvor. – Bezweifle ich das etwa? Wirke ich labil? Ich mag vielleicht ein Schwachkopf sein – aber hysterisch? – Schon gut. Bleib cool. Jetzt brauchen wir den Reisepass.
Entlang der Geschäfte vor dem Gebäude herrscht mäßiger Verkehr. Ich schaue mir die Leute an, die Läden, die Umgebung. Dass Murphy noch vor Ort ist, glaube ich nicht. Doch behalte ich einen der Eingänge besonders im Auge. Dort ist mir unter den Tafeln mit Firmennamen das Schild des International Maritime Bureau aufgefallen.
Was ist mit dieser alten Frau da? Ihr schlurfender Gang wirkt irgendwie gespielt. Jetzt dreht sie sich mir zu, schaut mich kurz an. Bedeutsam? Nein. Sie hat nur meinen Blick bemerkt. Sieht mongolisch aus; wahrscheinlich aber aus Taiwan. Und was steht da auf ihrer Baseball-Kappe? SMARTLESS.
Was mir zunächst skurril erscheint, erinnert mich gleich darauf an das brandneue Smartphone, das ich im Rucksack habe. – Das lässt du dir jetzt freischalten, und zwar gleich hier in diesem Handyladen.
Der dicke Junge, der müßig da im Eingang lehnt, nickt mir freundlich zu.
Nur er und ich im Laden; sehr günstig. Zusammen mit dem Gerät fische ich auch ein Bündel Lira-Scheine aus dem Rucksack und reiche ihm beides mit den Worten: „Um das Ding in Betrieb zu nehmen, braucht man sicherlich Papiere, oder?“
„Identität, klar. Unbedingt.“ Und schon hat er das Bakschisch überprüft, für ausreichend befunden und mir ein Formular vorgelegt. Beim Ausfüllen lasse ich Spezialagent Kimura freie Hand, und anschliessend, als mir der Junge mit der Aufforderung, ein Passwort einzugeben, das Gerät zurückreicht, fällt mir auf Anhieb SMARTLESS ein.
Da ich dann gleich denjenigen der Netzanbieter wähle, den mir der Junge empfiehlt, und aus dessen Angebot einfach die billigste Prepaid-Variante, ist die Prozedur in kaum zehn Minuten erledigt. Zuletzt bekomme ich noch die offizielle Rechnung ausgehändigt, mit der Bemerkung: „Nur dass Sie mich bitte nicht weiterempfehlen.“

Und nun? Wie komme ich an meinen neuen Pass? – Wir sind im Service of Intelligence, deshalb ist eher die Frage die, wie der Pass zu dir kommt. Bedenke, was du aus dem Bazar als Kompensation für den verlorenen Exoot mitgenommen hast. – Die Adresse eines Fälschers. Die falsch ist. Sowie ein Smartphone. Das ich nur deshalb brauche, weil ich ohne zu sehr auffallen würde. Und drittens die Zeitschrift, SubNews aus den 1990ern. In japanischer Sprache. – Die du inzwischen fliessend beherrscht, wie du bemerkt hast. Sodass wir jetzt zum Beispiel ein bisschen lesen könnten.
Durch jenen Eingang, an dem ich das Schild des International Maritime Bureau entdeckt hatte, trete ich in eine leere Halle ein. Im Hintergrund zeigt eine Uhr 16:05 an.
Lang nicht mehr gewischte Fliesen aus Pseudo-Marmor, fleckige Riesenspiegel an den Wänden, Geruch nach altem Rauch. Nichts hat sich geändert, genauso vergammelt hatte es hier damals schon ausgesehen.
In einer der verstaubten Sitzecken hole ich das alte SubNews-Heft aus dem Rucksack und nehme, tief einsinkend, in einem klobigen Kunstledersessel Platz.
Von diesen alten SubNews, die damals regelrecht wie aus der Zukunft wirkten, interessiert mich jetzt vor allem jene Reportage mit dem Titel Die Schwarm-Maschine; weil Kick Kimura darin auftritt, wie ich mich erinnere, und mir das vielleicht erklärt, warum ich schon mal in genau diesem Gebäude gewesen sein könnte, ohne jemals hier gewesen zu sein.

Der Blick der Wissenschaftler hatte gerade mittels eines neuartigen Mikroskops die bis dato letzte sichtbare Ebene der Materie durchstoßen und war in einen subnanometrischen Bereich eingedrungen. Was da erkannt wurde, stellte auf den Kopf, was bei allen bisherigen Theorien über die Natur Voraussetzung gewesen war: dass da entweder ein auf erkennbare Weise intelligentes Schöpferwesen sich eine Physis schuf oder dass sich lediglich nach dem Zufallsprinzip etwas hier verdichtete, das von den daraus hervorgehenden Menschengehirnen gemessen und unter dem Begriff Energiefeld auf sich selbst angewendet wurde. Das neue optische Gerät zeigte diese beiden konträren Sichtweisen in absoluter Übereinstimmung; aber nun nicht als eine alleinige Sichtweise, nicht also als eine Weise unter anderen, sondern als die Sicht an sich: das Sehen. Sodass alle durch das Gerät dasselbe sahen: sich selbst; nicht so jedoch, wie sie sich „Selbst“ bisher gedacht hatten – das war plötzlich gar nicht mehr vorhanden. Und das war eine einschneidende Erfahrung, denn auf einmal, schlagartig, war alles möglich. Jeder erkannte, was Erkenntnis ist, und damit, was im wahrsten Sinne Freiheit heisst. Was nicht etwa Begeisterung auslöste, sondern große Angst. Das Gerät verschwand, und damit auch die Möglichkeit für die, die hindurch geschaut hatten, das Geschaute glaubhaft mitzuteilen; und es brauchte, da es als bloße Erzählung nicht anders als eine beliebige Science Fiction aufzufassen war, keine Geheimhaltung darum betrieben zu werden.
Zur üblichen späten Stunde im Hafenviertel von Babaal in einem provisorischen Büro des Service of Intelligence: Hinterm leeren Schreibtisch Forty Operas, der Chef, und auf dem Besucherstuhl Agent Kimura, in einer Zeitung blätternd, der neuesten Ausgabe des Reichsboten, in der, alltagssprachlich aufbereitet, obige Geschichte stand. „Wieder mal ohne Quellenangabe“, murmelte er. „Was halten Sie davon?“
„Man irrt sich“, sagte Operas. „Das Gerät hat nicht die Natur des subnanometrischen Bereichs enthüllt, sondern nur den Blick auf eine spezielle Situation freigegeben, nämlich auf die Aktivität eines Schwarms biokybernetischer Organismen.“
„Oh – Sie meinen – ?“
„Künstlich und natürlich zu gleichen Teilen.“
„Kennen wir sowas schon?“
„Natural Computing. Bis dato noch informatisches Neuland; im Grunde jedoch eine ur-uralte Sache. Für die es aber heute eines besonderen Projektors bedarf.“
Kimura mit der Zeitung wedelnd: „Von dem hier die Rede ist. Nur dass das Ding als Mikroskop bezeichnet wird. Eine Irreführung?“
„Nicht nur das. Es ist ausserdem viel zu früh aufgetaucht.“
„Und deshalb auch gleich wieder verschwunden.“
„Nur scheinbar verschwunden. Es passt sich an.“
„Heisst das, es – lebt?“
„Darüber sollte man nachdenken, wenn man diesen Auftrag übernimmt.“ Mit diesen Worten zündete Forty Operas sich seine erloschene Zigarre wieder an und hüllte sich in Qualm.

Bei diesem Auftrag bin ich mir nie sicher gewesen, ob ich ihn wirklich verstanden hatte, und kann mich daher auch nicht erinnern, ihn je erledigt zu haben … Das heisst der Auftrag ist noch aktuell. Denn im Service of Intelligence gibt’s keine Aufträge, die sich von selbst erledigen, keine Missionen, die einfach irgendwie im Sande verlaufen … Ach, vielleicht ist das der Grund, warum man mich, obwohl ich disqualifiziert wurde, nicht gänzlich vom Service abgeschnitten hat … Dann verdanke ich es diesem noch unerledigten Auftrag, dass ich jetzt durch diesen Notfall a la Schell sogar in einem Body Job zum Einsatz komme!
Erstmal jedenfalls ist festzustellen, dass der SubNews-Schreiber diese Reportage ins Fiktive verschoben hat; eine altbewährte, wenn nicht überhaupt die älteste Vorgehensweise, um Information zu codieren. Für Istanbul aber ausgerechnet Babaal einzusetzen? War das klug? Zwar ist Babaal fiktiver als Istanbul, aber so fiktiv nun auch wieder nicht.
Was sagt uns die Phänomenologie? Vom griechisch-antiken Byzanz übers frühchristliche Konstantinopel zum moslemischen Istanbul; immer ging’s um Geistiges, um Religion. Während es in Babaal eher unreligiös immer nur um Eroberung, Freibeuterei und Welthandel ging. Babaal, soviel ich weiss, liegt auf einer schmalen Landzunge; Istanbul hingegen an einer Meerenge auf zwei Ufern. Hier ist also Land, wo dort Wasser ist, das heisst – ist die eine Stadt nicht geradezu das Gegenbild der anderen?
Das beweist natürlich nicht, dass der SubNews-Schreiber Babaal als Schauplatz der Projektor-Story wählte, um auf Istanbul hinzuweisen. Doch in diesem Spielraum des Vermutlichen, in der Unschärfe, liegt ja gerade die Stärke einer literarischen Verschlüsselung. Mir jedenfalls erklärt es, warum ich schon mal hier war, und dass ich mich nicht täusche, wenn mir diese Geschichte, die ich gerade gelesen habe, wie eine eigene Erinnerung vorkommt.
Die Story vom Projektor, der sogenannten Schwarmmaschine, betrifft also, wenn ich Kimura richtig verstehe, seinen alten, noch unerledigten Auftrag. Und mein Notfall-Alarm? Der ihn hierher geführt hat? Wie hängt der, wie hänge ich damit zusammen?
Ich denke an den Bazar zurück, an das Foto, das die Agenten dem Patron gezeigt hatten; und dann an das Kellergewölbe, in dem ich zuvor all die Kisten, Säcke und Kanister gesehen hatte, alle mit diesem komischen Siegel versehen … Hätte mir das genauer anschauen sollen.
Was lagert da? Sprengstoff? Chemikalien? Oder eine besondere Maschine in Einzelteilen? Wahrscheinlich nur Konsumramsch aus Fernost. Vielleicht Honig oder so. Gasmasken. Heroin. Oder auch nur Haschisch. Womöglich ist der Stempel das Entscheidende, das Siegel. Um das Gerücht über eine besonders brisante Lieferung in Umlauf zu bringen. Um die Agenten vor Ort so auf Trab zu halten, dass sie von dem eigentlich interessanten Geschäft, das hier gerade abgewickelt wird, nichts mitbekommen.
Geht’s vielleicht um MoTech? Ist da womöglich Geo Rey im Spiel?

I.7

Chaos

Das Studierzimmer – ja, muss es sein, ist nur vor lauter Chaos kaum wiederzuerkennen. Und am wenigsten habe ich damit gerechnet, jemanden hier vorzufinden, schon gar nicht – Praktikanten! Erinnert mich daran, dass ich hier nicht der Boss bin.
Dass man hin und wieder Praktikanten zugeteilt bekommt, klar, ist prinzipiell in Ordnung. Dahinter steckt doch aber –. – Ja, dass sie dich wahrscheinlich überwachen sollen. Ist das etwa ein Problem für dich? Hast du, ausser dass du paranoid bist, etwas zu verbergen? – Allerdings! Das hier alles war verborgen. Bisher war das Studierzimmer nur mir zugänglich, war Chiffre für Refugium, für Schells Bureau, für alle sowas wie ein running gag, kaum wirklich existent. Und jetzt? Ist es entdeckt, konkret geworden, ist auf einmal ein so normales Büro, dass sogar Praktikanten hereinspaziert kommen. Das letzte Refugium für mich also – futsch!
Es ist nur irgendwie umcodiert worden, reg dich ab. Dass es chaotisch aussieht, zugegeben; ist dir doch aber immernoch als das Studierzimmer erkennbar. Geh davon aus, dass du an dem Chaos selber Schuld hast. Oder sieh es so: Eine Charade vielleicht, die notwendig war. Das Studierzimmer musste entborgen werden – verstehst du? Um es neu zu codieren. Also bitte keine Panik.
Ich blicke zwischen dem jungen Mann am Schreibtisch und der jungen Frau auf dem Sofa hin und her. Sie scheinen mich noch nicht bemerkt zu haben, starren immernoch in irgendein Unsichtbares.
Die junge Frau – sie trägt Dreadlocks und Piercings und ist stark tätowiert – kenne ich nicht, den jungen Lemm dafür umso besser, da man ihn mir schon zweimal als Praktikant angehängt hat. Eine Trantüte sondersgleichen. Das erste Mal wurde ich ihn los, indem ich verreiste und einfach nicht wiederkam, das zweite Mal, indem ich meine Stelle kündigte. Dass es ihm nicht zu blöd ist, es ein drittes Mal bei mir zu versuchen, passt zu ihm. Denn nichts ist Lemm zu blöd; und das regt mich so auf an ihm. Weil es mir gnadenlos in Erinnerung bringt, dass ich selber in seinem Alter so war.
Soll ich die beiden höflich grüßen? Das wäre reine Ironie. Ich betrachte sie als Eindringlinge. „Wie habt ihr hier hereingefunden? Ist doch kein x-beliebiges Büro.“
Jetzt schauen sie mich an, und von Lemm genuschelt: „Einer hat uns hergebracht.“
„Klar, Mann. Wer?“
„Keine Ahnung. Netter, schick gedresster Typ.“
„Wird doch irgendwas gesagt haben, der Typ.“
„No problem einfach nur, er sei ein Freund von Ihnen.“
Aha. Es gibt nur den einen in dieser Gegend – das heisst im Regierungspalast von Babaal –, der gerne mal no problem sagt und mich als seinen Freund bezeichnen würde: Rivera. Mein Gegenspieler hier.
Ich nicke also. „Und? Gibt’s hier für mich nur noch den Stehplatz?“ Denn auf allen übrigen Sitzgelegenheiten türmen sich Papiere, Bücher, Aktendeckel. Der Junge erhebt sich mühsam von meinem Schreibtisch und quetscht sich, lang und schlaksig wie er ist, umständlich neben die junge Frau aufs Sofa. Sie: „Dann bist du also Schell.“
Ich sage: „Ja. Und Sie?“
Der Name, den sie murmelt, gefällt mir. „Unarisa? Ein Lächeln – wie schön!“
Komisch, wie erzürnt sie mich da korrigiert, sehr laut und leider ohne jeden Charme: „MONALISA.“ „Auch schön“, sage ich beschwichtigend. „Sicher sind Sie keine Zicke, Fräulein Monalisa, sondern ganz bezaubernd, wenn man Sie nur näher kennt.“ „Was?“, knurrt sie, „du bist ja wohl –“ „Sie, bitte. Sie sind – und zwar?“ „Sowas von Arschloch!“
„Ach so“, ich blicke Lemm an, „dann seid ihr gar nicht wegen eines Praktikums hier?“
„Doch, ja … Aber eigentlich auch nicht, nee … Also das werden Sie nicht so gut finden, glaube ich.“ „Was denn, mein Junge?“ „Uns gefällt das auch nicht besonders. Dass wir insofern Praktikanten sind, als dass wir nicht bezahlt werden; andrerseits aber einen Auftrag haben, der einen Haufen Arbeit bedeutet.“ Und mit einem Handschlenkern in die Runde: „Das alles, äh … Wir sollen Ihnen helfen, das zu digitalisieren.“
Sei Maske!, befehle ich meinem Gesicht; kann aber nicht verbergen, dass ich sprachlos bin.
Dann: „Der war gut – digitalisieren. Freut mich, Lemm, dass du auch mal einen Witz zustande bringst.“ Und ich wende mich, um das Thema zu wechseln, wieder der Monalisa zu: „Bezaubernd ist bis jetzt natürlich nur eine Vermutung; dafür vielleicht tatsächlich eine Zicke. Denn Sie nannten mich – oder habe ich mich verhört?“ Sie reckt sich vor und faucht: „Hast richtig gehört – Arschloch.“ Dann springt sie auf, sagt zu Lemm: „Und du Lahmarsch kannst mich auch mal!“, ruft allgemein: „Ihr könnt mich alle mal!“ und ist im nächsten Augenblick, nicht ohne kräftig die Tür zuzuschlagen, abgedampft.
Lemm scheint meinen Blick als Frage zu deuten, er sagt: „Vorhin war die ganz nett. Ist sicher gerade auf irgendwas drauf. Kenne sie aber auch noch nicht lange.“
Monalisa Overdrive. Schon mal gehört, den Titel? Roman von William Gibson. Apropos, Lemm: Wenn’s dieses Mal was werden soll mit uns, wirst du lesen müssen. Einiges. Verstanden? Bücher.“ „Okaaay?“ „Und zieh dein Okay bitte nicht so blöde fragend in die Länge, das nervt mich.“ „Verstanden.“ „Und noch etwas: Immer wenn ich sage, mir reicht’s, verkrümelst du dich bitte; und zwar immer, wenn ich das sage.“
Er nickt; scheint darauf zu warten, dass ich weiterrede; bleibt jedenfalls da sitzen.
Ich schaue auf meine Armbanduhr. Punkt zwölf. Ich staune. Kaum dass ich mein Hiereintreten auch nur mitbekommen habe, schon habe ich mich völlig an diese Szenerie gewöhnt, kenne sie wie sozusagen meine Hosentasche. Und wie lange habe ich dagegen vor dieser Tür herumgestanden? Was mir wie ewig vorkam, war nur ein Moment, so kurz etwa wie zwischen Eben-noch-wach-sein und Fast-schon-eingeschlafen. So lang wie der Moment, in dem sich alles umdreht, in dem Zeit, plötzlich veraltet, neu zu Zeit wird. Wo, wie in diesem Falle, ein Real zuende war und mit dem Eintritt hier hinein ein neues anfing.
Worauf wartet der Junge? Hat er nicht gehört, was ich sagte? Wie soll ich ihn noch erwartungsvoller anschauen? „Schon gehst du mir wieder auf die Nerven, mein Lieber. Hast du nicht eben die Worte mir reicht’s gehört?“ „Ja, schon, aber, Sie meinen … Bei Ihnen ist immer alles so plötzlich.“ „Das ist die Gegenwart, Lemm, nichts weiter. Und jetzt mach’s gut. Bis morgen meinetwegen. Ich bin entweder hier oder nicht, und das meine ich so banal wie existentiell. Bitte mach dir Gedanken darüber: banal wie existentiell. Und vielleicht kann unsere Miss Overdrive auch was dazu beisteuern, falls du sie da draussen irgendwo aufgabelst – und du nicht etwa sauer auf sie bist, weil sie dich Lahmarsch genannt hat. Der du ja tatsächlich bist.“
Musst du ihn immerzu so rüde angehen? Nur weil man dich selber früher so behandelt hat? Damit er für seine Nachfolger auch mal so ein schlechtes Vorbild wird wie du? Ich nehme mir vor, das zu ändern; denke: Dieses blöde Schema muss doch irgendwann einmal durchbrochen werden. Übrigens, die Luft hier drinnen –. Ich reisse weit die Fensterflügel auf. Welch schöner Tag da draussen! Gezwitscher in den Bäumen, und da drüben in der Tamarinde, wen haben wir denn da? Ich nehme das für diesen Zweck bereitliegende Fernglas zur Hilfe: eine Turteltaube – und was für eine Schönheit! Wenn das kein gutes Zeichen ist.
Und jetzt mal an die Arbeit. Betrachte das Chaos, das hier vorliegt, genauer. Die Berge, die Türme, die Stapel, die Haufen, und was aus den Regalen, den Schränken, den Schubladen quillt – alles aus Papier, alles vollgeschrieben. Und wie wirkt so ein Durcheinander? Entmutigend. Abschreckend. Unbeherrschbar. Es spiegelt eine Arbeitsweise; sodass man nur sagen kann: Schell ist chaotisch. Das ist so offensichtlich. Und gerade deshalb könnte es auf jemanden, der genauer hinschaut, auch anders wirken, nämlich wie arrangiert: um genau diese Wirkung zu erzielen. Sodass womöglich der Verdacht aufkommt, da sei tatsächlich einer so naiv, dass er versucht, per Chaos sich der Digitalisierung zu entziehen – wo man doch gerade diese damit anzieht. Denn so wie ein jedes sein Gegenteil hervorruft, so weckt das Gefühl der Hilflosigkeit das Bedürfnis nach Kontrolle; und hat man es mit Chaos zu tun, ist man hilflos und sieht sich bedroht und strebt also, um sich zu helfen, eifrig nach Kontrolle; und obwohl man weiss, dass man das Chaos nie ganz beherrschen wird, versucht man, es wenigstens so gut wie möglich zu beherrschen; und zwar aktuell mit der Vorstellung, Chaos sei gar nicht Chaos, sondern eine Ordnung, die man als solche nicht überblickt, weil einem der Maßstab dazu fehlt. Diesem Mangel versucht man derzeit per Berechnung abzuhelfen; dadurch also das Chaos zu ordnen, wenn nicht gar: in Ordnung zu bringen, indem man es berechnet. Von daher doch der ganze komputative Aufwand, dieser ungeheure Einsatz von Ressourcen aller Art, und der tiefe Glaube, der all das motiviert, dieser Digitalismus mit seiner so extrem ordentlichen, ja totalitären Grundordnung: Nur dies, wenn nicht das – nur null oder eins – nur entweder oder.
Warum nicht einfach auch zu diesem Glauben konvertieren? Ich sehne mich doch auch nach Überblick; und es ist doch gar nicht zu leugnen: diese chaotische Masse an beschriebenem Papier ist nur durch den Versuch, Ordnung zu schaffen, überhaupt zustande gekommen.
Aber vielleicht ist das ja funktionierende Bürokratie. Vielleicht genügt Kontrolle schon, wenn sie nur scheinbar ist. Doch was weiss ich … Keine Ahnung, was nebenan vor sich geht; weiss nur, dass die meisten anderen Büros wunderbar aufgeräumt aussehen. Womöglich ist in denen wirklich alles unter Kontrolle. So wie womöglich im ganzen Regierungspalast tatsächlich Ordnung herrscht; mir nur als solche nicht erkennbar, weil ich sie nicht überschaue.
Nicht umsonst, nehme ich an, haben wir hier in Andria die Regierung übernommen, oder richtiger gesagt: uns mit der Regierung identisch gemacht. Wir, uns, nun ja; ich meine das Flyshwerk. Es hat sich schon soweit über die Länder ausgebreitet, dass man längst sein Zentrum nicht mehr kennt – hat es, braucht es überhaupt noch ein Zentrum? Und dass es sich zur Zeit hier, in Andrias Hauptstadt, so konzentriert, ausgerechnet hier, wo wegen der Anomalie die Funktechnik so schlecht funktioniert – – na klar – na klar!
Jetzt begreife ich: Dass sie gerade hier spielt, die Musik, flyshwerkmäßig, und warum sie gerade hier spielt, ist eben – wegen der Anomalie! Weil deretwegen das alte Babaal und das ganze Andrianische Archipel bisher nur so oberflächlich digitalisiert ist.
Moment – noch einmal langsam: Die instabilen Frequenzen Andrias zwingen das Flyshwerk, gerade hier die Musik spielen zu lassen, will heissen: innovativ zu sein. Weil dadurch der Chaoskontrolle vielleicht ein neuer Dreh gegeben werden kann. Klingt das plausibel?
Wohin diese Überlegungen führen, weiss ich zwar nicht, doch ich merke, mein Blick auf das Durcheinander in diesem Büro beginnt sich zu ändern.
Der überschauende Blick ist ein ordnender, ein kosmischer Blick. Seit der Mensch aufblickt zu den Sternen, das heisst sie als da draussen wahrnimmt, blickt er kosmologisch, und weiss im Grunde, dass er all das, was da auf ihn eindringt, nicht bändigen kann. Weil er als Teil des Bandes ja selbst daran gebunden ist; so wie er weiss, dass er nicht aufhören kann, sich davon ständig zu entbinden – und so weiter; irgendwas im Hintergrund versucht da schon die ganze Zeit zu mir nach vorne durchzudringen. Mehr aber als das Gefühl, da war doch was, erinner dich!, kommt da noch nicht zur Klarheit. Deshalb wohl, um dieses Gefühl zu ergründen, versuche ich das Thema Chaos endlich abzuhaken: Es hier soweit zu beseitigen, dass es nicht mehr wie Chaos aussieht, sondern wie Ordnung, würde völlig reichen. Mehr fordert die Flyshwerk-Bürokratie sowieso nicht von dir.
Und nun: Was war denn da? Woran soll ich mich erinnern?
Da klingelt das Telefon. Kann eigentlich nur Rivera sein. Der Blick aus den Fenstern seines Büros geht auf dieselben Bäume, nur von der andern Seite aus; und ich weiss, er hat da auch ein Fernglas zurhand. Ich hebe ab und sage: „Zur Zeit sind Turteltauben in der Tamarinde.“ „O wie erfreulich! Danke für den Hinweis. Was treibst du so?“ „Weiss vor lauter Arbeit nicht, wo anfangen, das kennst du ja. Überlege daher, ob ich nicht mal das Büro aufräumen sollte; hätte jetzt dafür ja sogar Helfer.“ „Die zwei jungen Leute. Sollen bei dir digitalisieren, wie ich hörte.“ „Das amüsiert dich, klar. Mich nicht. Diese Regierungsarbeit hier, was ist sie denn? Doch nur noch muffiges Büroleben! Nur noch durch Ironie erträglich. Irgendwann werden wir wie Paley, wie alle hier, gewitzt und herzlos; oder sind’s womöglich schon.“ „Mein Lieber, das klingt aber trübe!“ „Ich sehe nur, wie’s ist. Und da kommt mir die Idee: Ich lass die Praktikanten einfach machen und verreise.“ „Schon wieder? Du bist ja nur noch unterwegs. Weisst du, wie man dich intern in diesem Hause bereits nennt? Den Mann auf der Flucht.“ „Oh. War es das, was du mir mitteilen wolltest? Sei bedankt, Rivera.“

Da ich an dieses Chaos so gewöhnt bin, dass es mir normal vorkommt, ist das Überraschende also eigentlich, dass es mir überhaupt auffällt; und aufgefallen ist es mir nur deshalb, weil ich vorhin beim Hereinkommen etwas anderes erwartet hatte, nämlich das Studierzimmer hier vorzufinden; und das kenne ich nur aufgeräumt, und still, ein bisschen fast wie unberührt, sodass es immer auf mich wirkt wie eine Einladung zum Neuanfang. Davon, hier, nichts. Es könnte dem Erwarteten kaum krasser gegenteilig sein. Und dann hier auch noch auf Menschen zu stoßen, auf so eine Miss Overdrive zumal, das hat wie weggewischt, was vorher war, hat umgehend die Selbstverständlichkeit etabliert, dass das hier natürlich mein Büro ist. Und jetzt weiss ich, woran ich mich erinnern wollte: daran, wo ich bin.
Im Regierungspalast von Babaal, natürlich.
Doch war nicht die Tür dieselbe wie die ins Studierzimmer? Jawohl, genau dieselbe. Die Frage ist also –
Es klopft und Paley erscheint – und prallt entsetzt zurück: „Ist das ein Saustall!“ Dann tritt er vorsichtig näher, kopfschüttelnd: „Schell, Schell … Wie können Sie nur so arbeiten?“ „Es ist noch schlimmer als sonst, meinen Sie?“ „Ich meine: Räumen Sie auf! Entlabyrinthisieren Sie! Das ist doch ein Witz von Büro! Das Gegenteil von Büro!“ Ich halte ihm den berühmten alten Kaffeebecher entgegen, die Aufschrift: KEINE PANIK! „Ach Schell, leider ist es nicht damit getan, einfach nur Witze zu reissen.“ „Entschuldigung! Daran sehen wir, warum Sie hier der Vorgesetzte sind. Aber im Ernst: ist mir irgendwie lieb geworden, dieses Durcheinander; als Sinnbild des Ganzen, verstehen Sie? Ich, ein winziges Rädchen in uferloser Bürokratie – mein Mikrobetrieb analog sozusagen dem Makrogetriebe.“ „Der unverbesserliche Romantiker. Mir persönlich ja sympathisch. Aber wir haben nun mal auch unsere Arbeit zu tun, meinen Sie nicht?“ „Sehr richtig, Mister Paley, Sir. Ich bringe das hier alles baldigst in Ordnung.“ „Hm, wie immer, baldigst. Seit wann versprechen Sie mir das schon? Wir schreiben das Jahr 2014.“ „Tatsächlich? Kann doch schier nicht sein!“
Dass wir nun beide so tun, als würden wir ganz sachlich nachrechnen, gehört zu diesem kleinen Theaterstück, das der Büroleiter hier regelmäßig mit mir aufführt.
Als Chef dieses Gebäudetrakts ist er für die Kontinuität zuständig, und die scheint nach seinem Verständnis nur gewährleistet zu sein durch ständige Umstrukturierung von Grund auf; sodass intern inzwischen die Meinungen über den Zweck unserer Abteilung stark auseinandergehen und sogar darüber diskutiert wird, wie sie überhaupt heisst.
Paley ist einer Art Philosophie der Permanenz verfallen. Von Haus aus zutiefst konservativ gesonnen, fasziniert ihn die Idee „permanenter Fortschritt“ wie ein Skandal, und da ihm das Notwendige dieser Idee durchaus nicht einleuchten will, bleibt sie ihm merkwürdig, ja regelrecht exotisch, und so kommt er sich bei jeder Umstrukturierung wie der große Erneuerer vor, so als würde er „Grenzen überschreiten“, „neue Horizonte erschliessen“, ja gar „die Zukunft erobern“. Derlei bringt er natürlich nur in Festreden; an denen er aber, wie man weiss, wochenlang herumtüftelt; nur um dann tragischerweise nichts anderes von sich zu geben als das, was regelmäßig auch alle anderen nach den üblichen Vorlagen herunterleiern.
Hingegen gibt sich der alltägliche Paley gern zynisch, und er ist in seiner Rolle brillant, spielt den versnobten höheren Regierungsbeamten nämlich genau so, dass man meinen kann, er sei sich seines Spiels bewusst; sodass man ihm gegenüber niemals wirklich weiss, woran man ist. Ob er, wenn er vorm Spiegel steht, es selber weiss? Davon hängt ab, auf welcher Stufe er steht – ob er uns nur vorgesetzt oder uns tatsächlich überlegen ist.
Da stutze ich: „2014? Sie sagten – 14?“ Paley seufzt: „Ist ja auch egal; seit Jahren jedenfalls versprechen Sie’s mir immer wieder, wie soll ich also noch was darauf geben?“ „Bitte, Paley – nochmal: 2014? Wir haben zweitausendvierzehn?“ „Was sonst?“ „Zum Beispiel – zweitausendzwanzig?“ Er glaubt, ich scherze, und sagt grinsend: „Wir strukturieren zwar bisweilen um, aber so tiefgreifend nun auch wieder nicht.“ Dann räuspert er sich. „Oder muss ich mir irgendwelche Sorgen um Sie machen, Schell?“ „Bloß nicht!“ „Dann bringen Sie jetzt das Büro auf Vordermann. Einfach alles, was nicht in die Schränke und Regale passt, in den Schredder, und fertig. Ist doch so simpel!“ Er wendet sich zur Tür. „Ach ja – wo sind denn Ihre neuen Praktikanten? Lassen Sie die doch das erledigen!“ Und er ist schon fast hinaus, da fällt ihm ein: „Weshalb ich überhaupt vorbeikam – Brains. Dieser Superdetektiv, Sie wissen schon. Ist gerade vor Ort. Und ich dachte mir, da Sie ihn kennen, frag ich Sie mal, ob Sie so nett wären.“ „Ja.“ „Sich Zeit zu nehmen.“ „Klar.“ „In Erfahrung zu bringen, was er ausgerechnet in unserem verträumten, doch eher uninteressanten Babaal zu suchen hat.“ „Gern, Mister Paley. Ist schon so gut wie erledigt.“

Brains. Der Name hat es bei mir klingeln lassen. Hat mit dem zu tun, was mir die ganze Zeit solch Unruhe verursacht: dass da etwas ist, woran ich mich erinnern wollte. Dringend. Unbedingt. Doch solang mich das Gefühl beherrscht, es muss, wird es mir natürlich nicht einfallen, das kennt man ja. Es war etwas, bevor ich hier hereinkam, vor der Tür, und vielleicht hilft es, wenn ich nochmal rausgehe; und gar nicht daran denke, dass ich mich erinnern will …
Da fällt mir auf: Bin ich hier je hinausgegangen? Nein; bin hier bisher immer nur eingetreten. Das muss mit der Refugienstruktur zusammenhängen. Die bewirkt, dass ich dieses Refugium namens Studierzimmer immer durch ein anderes Refugium verlasse, nämlich durch eines der fünf alten Refugien …
Und jeder Übertritt von hier in ein anderes Refugium führt mich in Erinnerung; und jedesmal ist diese so real, dass ich mich darin wirklich glaube; sodass ich jedesmal den Übertritt sofort vergesse. Solch ein Überwechseln ins Erinnern ist gleichzeitig also – Vergessen. Merk dir das!, befehl ich mir. Und weil du denkst, das sei doch völlig klar, das sei unmöglich zu vergessen, sage ich dir: Da täuscht du dich! Schreib’s dir vorsichtshalber auf.
Hier spüre ich ein Deja-vu, weiss: das ist die xste Wiederholung, und stehe hilflos: muss mich damit abfinden. Denn ich hab ja immer aufgeschrieben, und zwar reichlich – so ist dieses Chaos aus Papier doch überhaupt entstanden. Und deckt jetzt alles zu; deckt so gründlich zu, dass auch die Zugänge zu den Refugien inzwischen nicht mehr aufzufinden sind. Denn ich kann sie hier nirgendwo entdecken, jene fünf Objekte, die mir im Studierzimmer sonst immer gleich ins Auge fallen:
das Wappen der Royalisten
der historische Säbel
die Daguerreotypie
die Maske
das Renaissance-Gemälde
Erinner dich: Was du im Anblick eines jeden dieser Objekte in dir als dessen Gegenbild erzeugst, ist dann Objekt woanders, in einem der Refugien, dem jeweiligen Raum nämlich, in dem du dich erinnerst.
Dann hab ich etwa dieses Chaos – dies Gegenbild zur Aufgeräumtheit des Studierzimmers – dazu angerichtet, mich am Besuchen der alten Refugien zu hindern? – Sofern du einen Sinn darin entdeckst: ja. Und weisst du, an was du dich eben noch konkret erinnern wolltest? – Was mir im Chaos hier drinnen nicht einfallen wird: von woher ich hereinkam. Ich wollte, um mich daran zu erinnern, nochmal raus, und da fiel mir auf, dass ich durch diese Tür noch nie –
Und so geh ich nun zum erstenmal durch diese Tür hinaus.

B.6

Ein Spiel?

Neulich, als ich anlässlich meines Geburtstages mit Freunden in einem Cafe beim Frühstück saß – ein paar Wochen bevor die Corona-Pandemie eine weltweite Zivilisationskrise auslöste –, wurde mir die Frage gestellt, wann es endlich in Schells Bureau etwas neues gäbe. Worauf ich mich zu meiner Überraschung sagen hörte, dass ich im Zweifel sei, ob es überhaupt so weitergehen kann; dass es mir so, wie ich bisher erzähle, viel zu langsam vorwärts geht; dass ich meine Erzählweise wohl würde ändern müssen; dass ich aber die drei Erzählungen, die da laufen, noch zu einem gewissen Punkt führen wolle, und dann
Und dann?, frage ich mich jetzt: Wieso eigentlich und dann? Auf was warte ich denn? Was hindert mich, jetzt gleich mein Vorgehen zu ändern?

Ich empfehle ja der Leserschaft, sich bei jedem Eintritt in Schells Bureau aufs neue zu fragen: Wo sind wir hier? Um sich auf die Aufmerksamkeit aufmerksam zu machen. Bemerken, dass ich bemerke: nichts anderes heisst ja bewusst zu sein.
Aber frage ich mich selbst eigentlich noch, wenn ich hier eintrete, wo ich bin? Nein, ehrlich gesagt. Und nun, da ich mir diese Frage wieder einmal stelle, muss ich zugeben, wo ich hier bin, weiss ich im Moment tatsächlich nicht. Mir ist wie in einem Gespräch, wenn man an einen Punkt kommt, wo man bemerkt, dass man den Faden verloren hat und sich fragt: Wie sind wir denn jetzt darauf gekommen?, und von da aus rückwärts den Gesprächsverlauf zu rekonstruieren beginnt.

Aufgewacht mit der Vorstellung, dass die Kopfschmerzen, die ich morgens hin und wieder habe, von dem Ding herrühren, das in mir ist; einem winzigen Apparat, einer Art Mini-Chip. – Wie bitte? Schwachsinn! – Na gut, nicht in mir direkt, sondern in H-Schell, als der ich in Frankfurt eine Art Leben als Taxifahrer führe. – Okay, fiktiv also. Du bist fiktiv irgendwie gechipt. Hast du geträumt. – Wahrscheinlich ja: geträumt; bin jedenfalls damit aufgewacht. – Hast dich in deine Romanfigur, in diesen H-Schell, so eingelebt, dass du auch seine Träume kennst, wenn nicht sie sogar selber träumst. Und offenbar ist dieser H-Schell Paranoiker. Fragt sich: Kann man paranoid träumen, ohne Paranoiker zu sein? – So kann man fragen, klar; oder auch gleich den Verdacht äussern: Du fühlst dich wohl verfolgt? Doch das führt zu nichts gutem, denn Paranoia, als Verfolgungswahn verstanden, ist ein Kampfbegriff, den als Argument jeder gegen jeden ins Feld führen kann.
Fragen wir anders: Wie teilst du etwas mit, das deshalb geheim ist und auch geheim bleiben muss, weil es im Klartext auf jeden Fall nur missverstanden werden kann? – Indem ich für das Geheime eine Form der Mitteilung wähle, mittels derer das Geheimnis gewahrt bleibt.
So hat es zum Beispiel Stanley Kubrick dazumal mit seinem letzten Film Eyes Wide Shut gemacht. Er konnte sicher sein, dass alle, die von Berufs wegen dem Publikum solche Werke erklären, etwas darüber sagen können; dass niemand aber vermag, oder es wagt, in akzeptabler Weise auszusprechen, was uns da – wide shut verschlüsselt – wirklich mitgeteilt wird. Diese Methode, Geheimes durch das Offensichtliche gleichzeitig zu verbergen und mitzuteilen, Steganografie genannt, ist die bewährteste und daher weitest verbreitete Art von Verschlüsselung, nehme ich an.

Hier, in der Abteilung „Bureau“, hat unser H-Schell es zuletzt mit einem Gangster namens Habib zu tun bekommen und lange genug habe ich nun schon darüber gerätselt, was der wohl von ihm will …
Wir sehen Schell in jener Spielothek am einen Ende des Tresens sitzen, am anderen den jungen Araber, der ihn vorhin hierher beordert hat. Niemand sonst da, wie Schell bemerkt, sobald sich seine Augen an die dunkelviolette Schummerbeleuchtung gewöhnt haben. Die Automaten ringsum blinken und zwitschern monoton vor sich hin.

Neulich war dieser Habib zu ihm ins Taxi gestiegen mit den Worten: „Du bist Schell, richtig?“ Worauf Schell nickte, nur darauf bedacht, weder Erstaunen noch Neugier zu zeigen. „Du bist auch im Spiel, hab ich gehört.“ „Keine Ahnung, was Sie meinen. Wohin soll ich Sie fahren?“ „Egal. Fahr los. Du hast vor ‘ner Zeit doch am Bahnhof mal so’n Ding aus ‘nem Schliessfach geholt.“ „So’n Ding?“ „’ne kleine Comic-Figur. Azuma. Den König.“ „Ist schon eine Weile her. Wieso wissen Sie das?“ „Ich bin Habib. Das Spiel läuft schon lange, und ich bin schon lange dabei. Irgendwie haben sich aber die Regeln verändert. Man kapiert sie nicht mehr.“
Schell war losgefahren. „Habib. Okay. Was habe ich mit den Regeln eines Spiels zu tun, das ich gar nicht kenne?“ „Wir haben recherchiert. Was nicht leicht war. Und das Ergebnis wurde gründlich überprüft. Demnach steht fest, dass die Regeln sich geändert haben, seitdem du das Ding aus dem Schliessfach geholt hast.“ „Aha. Und ist das gut? Oder nicht so gut?“ „Die Regeln nicht mehr zu kapieren, finden wir nicht so gut. Das ganze Spiel ist undurchschaubar geworden.“ „Warum es dann nicht einfach aufgeben?“ „So ein Spiel ist das nicht, Mann.“
Und dann hatte ihn Habib über folgendes aufgeklärt: Sein Informant (er nannte ihn den IT) war auf jenes Weblog namens Schells Bureau gestoßen; hatte sich daraufhin in die Videoüberwachung des Hauptbahnhofs gehackt und tatsächlich die im Blog geschilderte Sequenz bei den Schliessfächern gefunden.
Man wusste also – wer man auch immer war –, dass das, was darüber in Schells Bureau geschrieben stand, real stattgefunden hatte. Seitdem glaubte man, dass Schell in besagtem Spiel eine Schlüsselrolle inne hatte.
Ausserdem wusste man aus diesem Blog genug über Schell, um ihn aufspüren und observieren zu können. Und nachdem man das lange genug getan hatte, war man zu dem Schluss gekommen, dass Schell offenbar ahnungslos war, was das Spiel, und erst recht was seine Schlüsselrolle darin anging.
Da hatte Schell schon das Taxi angehalten; hatte noch höflich zugehört; und nun stellte er klar, dass er nichts mit alledem zu tun haben wollte, und forderte diesen Habib freundlich auf, doch bitte auszusteigen.
Natürlich aber hatte ihn die Sache aufgewühlt. Da hatte er sich doch gerade erst wieder so schön stabil gefühlt, und nun ging das alles wieder los …
Inzwischen allerdings hatte er seine Gedanken schon soweit unter Kontrolle, dass er ihnen rechtzeitig, bevor der innere Tumult ausbrach, einen Punkt setzen konnte (wie, wissen wir ja schon: indem er sich das Machtwort sagte). Und so wirkte es geradezu beiläufig, wie er dann Manne von der Begegnung mit Habib erzählte.
„Habe ich das nicht immer wieder gesagt? Dass dieses Spiel realer ist als wir’s uns vorstellen?“ Manne meinte damit ein Online-Spiel, über das er seit geraumer Zeit Nachforschungen anstellte; welches seiner Ansicht nach eine Art Metapher sei beziehungsweise ein Programm zur Einübung eines ganz anderen Spiels, Flysh genannt, das in der Realität ablaufe. Das nämlich war Mannes Theorie, die das Ereignis erklärte und die ihm inzwischen zur Überzeugung geworden war – an die Schell allerdings immer noch nicht glauben mochte –: dass jener Ort im Internet, Schells Bureau, die Plattform sei zur Koordination dieses in der Realität laufenden Spiels. Viele spielen es, so vermutete er, aber nur ein paar wenige machen es.
„Das Spiel, von dem dieser Habib redet, ist also dein ominöse Flysh-Ding, meinst du?“ „So ist es. Nur dass es nicht so sehr mein, sondern eher unser, genauer: dein ominöses Flysh-Ding ist.“
Und als gleich tags darauf Habib erneut zu ihm ins Taxi stieg, sagte sich Schell: Nun gut, wenn’s sein muss – spielen wir.
„Zur Bibliothek.“ „Gibt davon eine Menge in Frankfurt.“ „Zu der, wo du immer rumhängst.“ „Soll heissen, Sie wissen was über mich.“ „Alles. Nicht nur, wo du liest; auch wo du dein Croissant frisst. Mit wem du telefonierst; sogar, mit wem du nicht telefonierst. Und dass du kein Smartphone hast. Und wir kennen auch dein Geheimnis.“ „Ach so, ich hab nur ein Geheimnis?“ „Wir haben dich komplett gehackt.“
Sie waren bereits in Fahrt …
I’m a stranger in your town, I’d like to dance with you … Schell drehte die Musik lauter und tat, als müsse er sich auf den Verkehr konzentrieren. Plötzlich, mit einem Ruck, starrte er aus dem rechten Seitenfenster und trat voll auf die Bremse, sodass es Habib heftig nach vorn gegen die Sitzlehne warf. Dann gab er Gas, Vollgas, und bog scharf in die nächste Seitenstraße ab, und gleich darauf wieder scharf in die nächste, mit quietschenden Reifen, und unvermindert rasant um eine dritte Ecke, und da fragte der hin und her geworfene Habib: „Spinnst du?“
Schell verlangsamte und fuhr normal weiter.
I have no fancy shoes but I’m still dancing,
dancing to the mu-u-sic, sweet Reggae mu-u-sic
„Was sollte denn das, hey?“
„Haben Sie die halbe Aprikose nicht gesehen?“ Er zwinkerte Habib im Rückspiegel zu; der ihn aber nur finster anstarrte. „Halbe Aprikose – sagt Ihnen nichts? Dass man da schleunigst in Deckung gehen sollte? In der Eile, wenn man nicht aufpasst, kann’s passieren, dass man dann irgendwo rauskommt, wo man sich null auskennt.“ Er schaute nach draussen. „Diesmal ging’s jedenfalls gut, wir sind noch in Frankfurt, wie’s aussieht.“
„Du bist ja richtig durchgeknallt.“
„Oder auch nicht.“ Er lenkte den Wagen in eine Parklücke. „Hören Sie, Habib. Mag sein, Sie sind im Spiel, ich glaub’s Ihnen. Nur interessiert mich das Level, auf dem Sie spielen, kein bisschen.“ Er öffnete das Handschuhfach, tastete darin herum, brachte die kleine Azuma-Figur zum Vorschein. „Wollen Sie das haben? Hat auf Ihrem Level vielleicht ‘ne Bedeutung.“ „O nein, Mann! Das symbolisiert den König, und das hast du bekommen.“ Er schaute Schell durchdringend an. „Du hast wirklich keine Ahnung.“ „So sieht’s aus. Und Sie wissen nicht, was ‘ne halbe Aprikose bedeutet.“ „Verarschung – wenn das nicht klar ist.“ „Was wollen Sie also?“ „Zusammenarbeiten.“ „Arbeit habe ich schon mehr als genug. Wollen Sie immernoch zur Bibliothek?“ „Fahr uns zu deinem Cafe. Ist kurz vor zwölf; Zeit, dass du zum Frühstück kommst.“
Fünf Minuten darauf waren sie schon da. „Macht fuffzehn Euro, bitte.“ Habib gab ihm zwanzig und sagte: „Okay, du traust mir nicht. Verstehe ich. Werde dir also was zeigen.“ „Nicht nötig. Bei allem Respekt.“ Habib zuckte die Achseln,„Na gut“, dann deutete er auf die Spielothek neben dem Cafe: „Das ist mein Laden. Wenn du’s dir überlegt hast, da findest du mich, klar?“ Schell reagierte nicht darauf. Habib hielt im Aussteigen inne: „Hey, das mit der halben Aprikose – war doch Verarschung, oder?“
Ja und nein. Schell blickte ihm in die Augen und kam zu dem Ergebnis: Die Antwort würde ihn nicht zufriedenstellen. Also schwieg er. Habib lachte. „Sehr mutig oder sehr dumm. Rate mal, wer darüber entscheidet!“ Schell hob die Augenbrauen. „Sie, Habib?“ „Genau. Sei also lieber ein kluger Mann!“ Damit stieg er aus dem Wagen.
Als Schell abends Manne gegenüber diese Spielothek erwähnte, wusste der sofort, um welchen Habib es sich handelte. „Der gehört zu einem Gangster-Clan.“ Worauf Schell erschrak. „Wenn sich so einer verarscht fühlt …“ „Nicht gut.“
„Weisst du, was ‘ne halbe Aprikose bedeutet?“ Manne überlegte. „Hab bei dir irgendwo mal was darüber gelesen. Ein Zeichen, dass man sich schnellstens verpissen sollte.“ „Weil in der Nähe eine Bombe oder sowas kurz davor ist, hochzugehen. Habe da heute die halbe Aprikose zwar nicht wirklich gesehen, aber irgendwas an Habib liess mich daran denken; und das reichte mir in diesem Falle schon, um entsprechend zu reagieren.“ „O je, mit quietschenden Reifen im Zickzack, nehme ich an.“ „Mit allem, was aus der Karre noch rauszuholen ist.“ „Verstehe. Damit Habib dich für bekloppt hält; allerdings zu recht. Denn im Ernst, Schell, weisst du, was du bist? Ein Psycho. Und daher meine ich immernoch, und mehr denn je – und Uschi ist sehr stark derselben Meinung –, dass du endlich in Urlaub gehen, ich meine: verreisen solltest.“ „Und ich, immernoch, stimme dem zu. Wenn ich nur wüsste, wohin.“ „Egal! Du musst hier raus. Merkst ja gar nicht, wie isoliert du eigentlich lebst, und wie dich das fertig macht.“
„Interessiert dich gar nicht, was Habib von mir will?“ „Kann ich mir schon denken. Er braucht dich für sein Team.“ „Das denkst du dir einfach so?“ „Ich weiss es. Ihm fehlt zur Zeit für ein Team der Dritte. Man kann nur als Dreier-Team spielen, das ist auf diesem Level eine der unumgänglichen Regeln. Frag nicht, warum, ist nun mal so.“ „Dann bist du also …?“ „Klar, auch im Spiel.“ „Und mit wem im Team?“ „Jetzt reg dich bloß nicht auf, Schell – mit Sciffi und dir.“ Da glotzte Schell. Dass ich auf diesem Level auch mitspiele – „Okay, ich reg mich mal nicht auf, aber – wieso weiss ich davon nichts? Sowas muss man mir doch sagen!“ „Ach, wie oft ich das versucht habe – aber du hörst ja nie zu. Immer wenn’s um das Ereignis geht, driftest du ab und fängst von der Realität an, vom Unerklärlichen, von Formen des Denkens, den Grenzen der Logik, deinem komischen Tautoloid und so weiter.“ „Nennt sich Meta-Ebene.“ „Und ist ja auch gut und schön, nur bist du da dermaßen fixiert, dass du gar nicht mitkriegst, was konkret um dich herum passiert.“ „Dann hättest du dich einfach anders, sagen wir interessanter darüber äussern sollen.“ Da war Manne kurz sprachlos. „Jetzt muss ich mich echt zurückhalten. Aber warum eigentlich? Denn vielleicht brauchst du wirklich nur mal kräftig was auf die Glocke. Weil du’s anders einfach nicht merkst.“ „Was nicht merke? Dass alle mich verarschen?“ „Was für ein Monster an Arroganz du bist. Dass du alle verarscht. Inklusive dich selbst.“
Sie schwiegen eine Weile. Bis Schell sagte: „Also nicht mehr Herr des Flyshwerks und Allwissender Kreator, sondern inzwischen die Kehrseite: Psycho und Monster. Danke für diese sehr interessante Lektion. Werde ich mir zu Herzen nehmen. Was sollte ich noch über das Spiel und unser Teamplay wissen?“
„Dass dieses Level noch ans Internet gebunden ist. Dass hier das Virtuelle noch neben dem Realen läuft, parallel zwar, aber immernoch getrennt. Man könnte auch sagen, das Spiel ist halb real, halb virtuell. Aber es gibt hier schon Hinweise darauf, dass das ab dem nächst höheren Level nicht mehr so ist. Da deckt sich dann das künstlich Gemachte quasi eins zu eins mit der Wirklichkeit. Geht dann darum, trotzdem noch irgendwie unterscheiden zu können. Sonst sitzt man da in der Falle, Stichwort Endlosschleife. Und damit einem das nicht passiert, damit man auch von da weiterkommt, geht’s auch auf diesem Level schon darum, zwischen virtuell und real unterscheiden zu lernen. Was hier so einfach erscheint, ist dort, nach den Gerüchten, die man hört, verdammt schwierig.“
„Siehst du, Manne? Deshalb ist mir die Meta-Ebene so wichtig. Im übrigen glaube ich das Prinzip in etwa verstanden zu haben: Wie jedes Level eigentlich nur Vorbereitung fürs nächste ist, so auch dieses. Was aber wird aus den Dreier-Teams?“ „Die lösen sich auf, heisst es; spielen auf dem nächsten Level keine Rolle mehr. So wie unser Team für dich ja offenbar jetzt schon keine Rolle mehr spielt. Weshalb ich auch glaube, dass du schon auf dem nächsten Level bist. Das nur noch nicht begriffen hast. Oder deine Ahnungslosigkeit ist nur gespielt. Dann spielst du ziemlich gut.“ „Glaube, was du willst, mein Freund. Manchmal spiele ich, meistens aber nicht. Das entscheide ich von Fall zu Fall, ohne Strategie.“
„Hast du mal in letzter Zeit versucht, Schells Bureau zu öffnen?“ „Schon lange nicht mehr. Du?“ „Ich hab’s irgendwann aufgegeben. Ist was für Hacker. Aber Sciffi hat es ständig weiterversucht; der ist im Hacken ganz gut. Und vor kurzem hat er’s geschafft, plötzlich war er drin. Ein Zufallstreffer, denke ich, doch er meint, der Rasta Spirit habe ihn gelenkt. Egal. Wir haben alles ausgedruckt; kannst du mal lesen, wenn’s dich interessiert.“ Schell winkte ab. „Das brächte mich nur wieder durcheinander. Bin doch zur Zeit so schön stabil.“ „Ach ja … Weshalb du auch nicht wahrhaben willst, wie dringend du Urlaub bräuchtest.“ „Manne! Ich werde verreisen. Bald. Versprochen.“

Plötzlich zu sich kommend, fragt er sich: Was rotiert da eigentlich so?, und bemerkt, dass er die ganze Zeit in ein gleichförmiges Kreisen aus Rot und Schwarz und lauter Zahlen starrt, nämlich auf den Bildschirm eines Spielautomaten, der eine Roulette-Scheibe simuliert. Die immer mal stoppt, bis eine Stimme „Rien ne va plus“ sagt und dann sich wieder dreht.
Schell blickt auf die Uhr: zehn Minuten erst vergangen, und erneut versenkt er sich in das hypnotische Gekreise auf dem Bildschirm.

Dass Schell sich selbst nicht wie ein Psycho-Monster vorkommt, ist klar; doch dass Manne ihn so nennt, gibt ihm immerhin zu denken; zumal ihm diese Einschätzung nicht neu ist, so ähnlich hatte ja auch Ingrun sich schon über ihn geäussert. Und wenn Manne und Uschi so sehr darauf dringen, dass er endlich mal Urlaub macht, meinen sie eigentlich – auch das ist ihm klar –: dass er unbedingt sein Leben ändern sollte. Welches derzeit doch aber gut, ja wenn nicht sogar ideal läuft, wie er findet: Die Arbeit, nämlich sein allmorgendliches Schreiben, erscheint ihm hinreichend produktiv. Der Taxi-Job macht ihm noch Spaß; ebenso, sich fitzuhalten mit Boxtraining und Joggen. In einer der großen Bibliotheken versorgt er sich mit Philosophie-Stoff. Hinzu kommen die unterhaltsamen Abende in der Gemeinschaftsküche und neuerdings auch noch die Teestündchen bei Lady Rainbow. Und er schläft gut und hat interessante Träume. Sogar Sex gibt’s ab und zu. Denn seit er überzeugt ist, er habe sich in der Normalität wieder solide untergebracht, erlaubt er sich, was er sich lange Zeit verboten hatte, nämlich gelegentlich Frau Doktor aufzusuchen.
Er denkt: Wenn ich so resümiere – was will ich mehr? Es fehlt mir nichts.
Denkt er. Doch wir, die wir ihn von aussen bedenken, fragen uns, was zum Beispiel sich auch Uschi fragt: Liebt er eigentlich?
Die Scheibe stoppt; dann wieder: „Rien ne va plus“, und rotiert weiter.

Eines Tages ging vorn die Tür des Taxis auf und jemand, der sagte: „Gruß von Habib“, setzte sich auf den Beifahrersitz, mit einem Laptop, den er sogleich aufklappte, um Schell etwas zu zeigen. Schells Bureau.
Schell nickte. „Sie haben’s geknackt. Habib erwähnte es schon. Demnach sind Sie sein IT.“ „Nicht seiner. Einfach I.T., wie Ingo Terz. So heisse ich. Bin mit Habib nur auf diesem Level ein Team. Und Schell, hey, es wäre ziemlich cool, wenn Sie mit uns, ich meine …“, er nickte in Richtung Laptop, „wie Sie sehen, haben wir’s drauf. Wir können da rein und raus wie wir wollen. Die ganze Verschlüsselung des Spiels – haben wir im Griff.“ „Stark, wirklich stark. Aber wie ich zu Habib schon sagte: Interessiert mich nicht.“
Es sah nur so aus, als ob IT ihn anstarrte; tatsächlich starrte er knapp an Schell’s Gesicht vorbei. Ein knochiger, recht blasshäutiger, ansonsten unauffälliger Mensch um die Dreissig; der leider etwas unangenehm aus dem Mund roch. „Sehr schade“, sagte er. „Weil Habib, der regt sich immer so auf, wenn er nicht kriegt, was er will.“ „Verstehe. Trotzdem. Fahre ich Sie noch irgendwohin?“ „Nicht nötig.“ IT klappte seinen Rechner zu und stieg aus.
Tags darauf, als Schell zur üblichen Stunde im Cafe beim Frühstück saß, setzte sich Habib zu ihm. „Hast mich noch gar nicht in meinem Laden besucht.“ „Mir war bisher nicht langweilig genug.“ Habib lachte. „Wen du hier provozierst, ist dir doch klar, oder? Du hast dich umgehört und jeder sagt dir, ich bin Gangster. Also solltest du eigentlich verstehen – “ „Sie brauchen einen Dritten für Ihr Team, habe ich verstanden. Und habe auch verstanden, dass ich bereits zu einem Team gehöre. War mir neu.“ „Dass du zu deinem Team stehst, find ich gut. Loyalität – super Sache. Aber solche Kiffer wie Manne und Sciffi, glaubst du, die stehen auch loyal zu dir?“ „Bitte, Habib, begreifen Sie doch, dass mir das Team völlig egal ist; ob dieses oder jenes Team – egal; so wie mir dieses ganze Level egal ist.“ „Jetzt hör endlich auf mich zu siezen! Wie sollen wir da Freunde werden?“ Er seufzte, und wirkte dabei so aufrichtig enttäuscht und traurig, dass Schell einen ersten Anflug von Sympathie für ihn verspürte. „Scheint Ihnen ja – ich meine dir – wirklich am Herzen zu liegen, dieses komische Spiel.“ „Ja, Mann! Ist so irre, das Ding. Ein so gigantisches – ja wie soll man sagen? Mechanismus – ein gigantischer Mechanismus. Wie so’n Uhrwerk. Wo bis ins kleinste Detail alles genauestens ineinandergreift, pausenlos, und einfach irre kompliziert.“ „Du meinst das Internet?“ Habib überlegte; schüttelte den Kopf. „Das ist nur Teil davon; vielleicht ‘ne Art Modell. Was ich meine, ist noch viel größer.“ „Fühlt sich etwa so an?“ Und Schell legte seine Handflächen auf die imaginäre Weltkugel – Beppo’s Gebärde –, bis sie zu vibrieren begannen. „Genau, genau! Das wächst und wächst, quillt irgendwie immer weiter auf.“ „Wow, Habib, da bist du ja echt mit was beschäftigt.“ „Hey, und wenn du wüsstest, was wir vorhaben.“ „Da muss ich jetzt aber lachen – wie kann man mit so einem Ding was vorhaben?“ „Nicht mit dem Ding – in dem Ding. Das ist ja das Spiel. Aber jetzt verarscht du mich wieder. Weil das alles weisst du ja längst. Deshalb brauch ich dich in meinem Team. Natürlich kann ich dir unseren Plan nicht verraten, ich sag dir nur, würdest du ihn kennen, wärest du auf jeden Fall dabei.“ „Verrate ihn mir bitte nie!“
Habib seufzte erneut; resigniert. Doch da bemerkte Schell das Listige in seinen Augen und er dachte: Show. Das hier gehört zu seinem Plan. Kann sein, er braucht mich, aber nicht für sein Team. Sonst würde er andere Geschütze auffahren; und sich keine Frechheiten von mir gefallen lassen. Vorsicht, Schell, da zieht sich irgendwie ein Netz um dich zusammen.
„Aber du kannst mir mal was verraten, Schell: Warum du eigentlich kein Smartphone hast.“ „Hm. Brauch’s nicht.“ „Quatsch. Raus mit der Sprache!“ „Ich sehe, wieviel Aufmerksamkeit die Leute auf das Ding richten, und da ich auch nur Otto Normal bin, wäre das aller Wahrscheinlichkeit nach bei mir nicht anders. Aber Aufmerksamkeit ist nun mal die stärkste Kraft im Universum, sehr kostbar, verstehst du?, und das Bisschen, was mir davon zuteil ist, will ich nicht auf so ein Gerät verschwenden.“ „Wenn du dich mit dieser Einstellung für Otto Normal hältst, bist du wirklich nicht von dieser Welt.“ „Man kann doch wohl Otto Normal sein, ohne sich auch wie ein solcher zu verhalten.“ „Das ist Philosophie; mir zu hoch. Mach’s gut, ich muss los.“

Und der Boss lässt weiter auf sich warten. Das violette Halbdunkel, das eintönige Gedudel der leerlaufenden Automaten, der Mief, der aus dem abgewetzten Teppichboden aufsteigt – allmählich muss er kämpfen, um es hier noch auszuhalten. Vor allem macht sich ein Druck im Kopf bemerkbar, und wird immer stärker.
Vor kurzem hatte er von Kopfschmerzen geträumt, und er fragt sich, als er nun daran zurückdenkt: Kann man überhaupt Schmerzen haben im Traum? Aber es war ein Traum, und ich hatte Schmerzen.
Es war ein wirklich unschöner, ja entsetzlicher Traum gewesen.
In einem Auto, nachts. Habib am Steuer; nahm ihn mit. Er hatte sich ihm aufgedrängt, glaubte paradoxerweise jedoch, entführt zu werden. Von Habib nur wie eine Formel immer wieder „Du musst doch nicht … Du musst doch nicht“, was ihn aber nur immer panischer machte. Dabei vergaß er, dass er eigentlich nur unterwegs war, um ein Mittel gegen seine Kopfschmerzen aufzutreiben. Dann bei plötzlich hellichtem Tag irgendwo im Westend. Er folgt Habib in eine große Villa, von der irgendwie klar ist, dass sie den von Erblitz-Leuen gehört; weshalb er sich darauf gefasst macht, gleich Ingrun wiederzusehen. Doch landet er in einer Halle voller Menschen; sieht wie am Bahnhof aus. Habib ist weg. Aber Ingrun muss doch hier irgendwo sein; das hat auf einmal Priorität. Er hält angestrengt Ausschau, will eine der Rolltreppen nehmen, hinunter in die nächste Halle; trifft jedoch stattdessen Manne, der ihn offenbar erwartet hat, da er mit einem Zeichen, ihm zu folgen, sich gleich in Bewegung setzt. Klar nun, dass es hier nicht um Ingrun geht. Die Gänge, die sie durcheilen, kahl, sauber, weiss beleuchtet, sind plötzlich Krankenhausflure. Dann, in einem Wartebereich, hält Manne an und sagt: „Musst du entscheiden; ich halt mich da raus.“ Er nickt jemandem zu und setzt sich. Da steht eine Frau, nicht groß, aber sehr aufrecht, in weissem Kittel, mit Mundschutz und Haube. Frau Doktor etwa? Eindeutig nein; doch diese Augen? – kennt er irgendwoher. Er sagt zu ihr: „Ich bin entführt worden.“ In ihrem Blick ist alles milde. Nur ein leichtes Umfangen, denkt er, das ist das richtige Wort. Leichtes Umfangen. Mildert augenblicklich seine Kopfschmerzen. Als sie „Gehen wir“ sagt, kennt er auch irgendwoher ihre Stimme; und als sie dann „Erschrick nicht“ sagt, erkennt er sie: das alte Hippiemädchen, Lady Rainbow. Jetzt ist er ruhig, gefasst, in beinahe heiterer Stimmung. Die sich im nächsten Bereich sogleich verflüchtigt. Intensivstation; totale Techosphäre. Sie stehen still und schauen. Da liegt jemand gebettet, ein Mann um die vierzig, bewusstlos; mit Schläuchen und Kabeln an Apparate angeschlossen. Der –?, so fragt er – bin der etwa ich?, und ein Entsetzen baut sich auf. „Er sieht nur aus wie du, mehr nicht“, flüstert ihm Lady Rainbow zu. „Du träumst.“ Dann will ich aufwachen, sofort! „Bitte schau dir vorher aber dies noch an –“ sie nickt in Richtung einer Gruppe weiss bekittelter Gestalten, die murmelnd auf Bildschirme starren. Darauf sein Inneres per Scan. Und er weiss auf Anhieb, was Gegenstand der Analyse ist: das Ding in ihm; und erkennt sogar die fast unsichtbar winzigen Ziffern, die es trägt, eine Art Seriennummer: A2X27.

„Nett, dass du gekommen bist.“ Habib. Endlich. „Hast dich also entschieden?“ „Mich entschieden?“ „Bei mir mitzumachen.“ „Nee. Einer von deinen Jungs kam und hat mich hier rüberbeordert.“ „Ach so, ja. Weil ich dir Bescheid sagen wollte. Nämlich dass die Sache sich erledigt hat.“ „Das ist nett, mich zu informieren.“ „Der Fairness halber. Damit du dir nicht länger Sorgen machst, dass der böse Habib was von dir will.“ „Du gibst auf? Hm, jetzt, wo ich allmählich Angst vor dir habe …“ „Du hast Nerven, Mann. Das gefällt mir. Doch im Ernst: ich brauch dich nicht mehr.“ Durchaus schrillen da zwar die Alarmglocken bei Schell, dennoch, als er aus der schummrigen Spielothek wieder ans Tageslicht tritt, ist er ungemein erleichtert.

I.6

Zeitlupe

Jetzt gehorcht mir die Hand wieder, und als ich sie zur Türklinke führe, erwarte ich eigentlich, dass meine innere Stimme mich warnt: „Geh da nicht rein!“, und trotzdem ich nichts dergleichen höre, antworte ich ihr: Warum nicht? Was sollte ich sonst tun? Es gibt einen Grund, der mich hierher geführt hat.
„Und dieser Grund, glaubst du, wird dir da drinnen klar? Dann frage dich, ob du ihn findest, weil er bereits besteht, oder ob du dir diesen Grund da drinnen erst erfindest?“
O nein, das frage ich mich nicht. Ich versuche frei zu sein. Mit wem rede ich hier überhaupt?
„Schwer zu sagen. Mit dir selbst? Mit mir? Mit A2X27?“
Du bist – A2X27?
„Sagen wir mal so: Was diese Frage zur Frage macht, ist gleich der Informationsmenge dessen, was die Antwort zur Antwort macht.“
Verstehe ich nicht. Soll das ein Witz sein?
„A2X27 ist eine Informationsmenge, die zu verstehen und zu beschreiben es der gleichen Informationsmenge bedarf.“
Das ist eine Gleichung. Was auf der einen Seite A2X27 heisst, ist auf der anderen Seite, nur anders ausgedrückt, dasselbe. Was man eine Tautologie nennt.
„Wenn es denn das Selbe wäre; ist es aber nicht. Es ist nur das Gleiche. Wäre das, was A2X27 gegenübersteht, mit diesem identisch, könnte es ihm nicht gegenüberstehen. Wer Identität als Gleichung formuliert, irrt prinzipiell.“
Das heisst dieses kann nicht jenes sein – natürlich nicht! Wer behauptet denn so etwas?
„Alle Welt. Ständig wird das Eine durch das Andere erklärt; dieses durch jenes ersetzt; für Realität genommen, was in Wahrheit nur Analogie ist.“
Zum Beispiel?
„Die ganze Wissenschaft, deren Glaubwürdigkeit auf der Logik von Mathematik beruht; welche wiederum auf Gleichungen beruht, auf Analogien, genau wie die Zauberei. Und im Grunde unterscheidet sich diese Wissenschaft auch gar nicht von Zauberei, nur weiss sie das nicht, ja sieht sich gar im Gegensatz zur Zauberei, und ist gerade deshalb so wirksam.“
O je … So grundsätzlich wollte ich es gar nicht.
„Du fragtest, ob ich A2X27 bin.“
Ja, das war die Frage.
„Die eigentliche Frage war: Mit wem rede ich hier überhaupt?“
Höchstwahrscheinlich mit mir selbst; doch davon abgesehen – bist du A2X27?
„Wenn du dich mir gegenüberstellst: Ja. Wenn du mit dir identisch bist: Nein.“
Was nun? Heisst das Fehlermeldung?
„Ganz im Gegenteil. Du bist mit dir identisch und stellst mich dir gegenüber.“
Das führt nur ad absurdum, was du und ich bedeutet. Schluss damit!
Ich kenne diese Tür, vor der ich stehe, es ist die des Studierzimmers. Jedenfalls war sie das bisher immer. Und warum also öffne ich sie nicht einfach und gehe hinein? Weil ich befürchte, nicht das da drinnen vorzufinden, was ich erwarte.
Nun habe ich die Türklinke ja schon ergriffen; ich sage mir: Nicht vergessen, wenn ich drinnen bin, dass dieses Gebäude der alte Regierungspalast von Babaal ist; und wie ich hierher kam: durch den Keller; und woher: aus dem alten Flyshwerk in Bangot, ehemals Bangor …
Es bestätigt eine Tatsache, die mir durchaus bekannt ist, nämlich dass dereinst das Flyshwerk sich über seine konkreten Backsteinmauern hinaus verbreitet hat, zunächst über Bangor, die alte Stadt, und bald über den Rest der Welt. Das bedeutet, dass der Raum hinter dieser Tür, mag er nun wie das erwartete Studierzimmer aussehen oder auch nicht, Teil des Flyshwerks ist. Das bloß nicht vergessen, wenn ich hier eingetreten bin!
Ich weiss noch, wie man damals, zur Zeit der Ausbreitung des Flyshwerks, gebetsmühlenartig wieder und wieder die Dezentralisierung zu einem unaufhaltsamen Prozess erklärte. Weil man unbedingt wollte, dass sie automatisch ablief. Weil niemand Einfluss darauf haben sollte und also dafür auf keinen Fall jemand verantwortlich zu machen wäre. So wie später alle meinen sollten, die Vernetzung gehe ganz von selbst vonstatten. Irgendwie hat das wohl auf verkorkste Weise mit dem menschlichen Bedürfnis nach Religion zu tun: Wenn man schon nicht an etwas höheres als den Menschenverstand glauben kann, dann wenigstens an etwas unbekanntes Größeres, das der Menschenverstand zwar hervorgebracht hat, das ihn aber übersteigt; das man nicht göttlich nennen muss, sondern einfach „komplex“. So hat unversehens der Wissenschaftskult die Netzkultur hervorgebracht.
Wie auch immer, ich gehe da jetzt rein. Nur eines noch: Wieso war ich überhaupt in Bangot? Weil ich eigentlich nach Bangor wollte; weil mir einfiel, dass ich dort dereinst Ureal entdeckt hatte. Und auf Ureal war ich des Reiches wegen gekommen. Auch das bitte da drinnen nicht gleich wieder vergessen! Weil es zum Begreifen der Real-Technik unabdingbar ist, zu klären, worin das Reich besteht, und wie es funktioniert.
Nun endlich aber drücke ich die Türklinke herunter.

Ich trete ein. Und stehe da. Wie angenagelt.
Die Fiedel stockt, der Tänzer weilt
Ich finde nicht, wie erwartet, die stille gediegene Ordnung des ehrwürdigen alten Studierzimmers vor, sondern ein Chaos. Ein Büro-Chaos.
Und langsam erfasse ich die Lage: Ab jetzt geht es hier um System. Um Ordnung. Um die Ordnung des Systems.
Und ich bin hier nicht allein. Am Schreibtisch sitzt der junge Lemm, auf dem Sofa eine junge Frau, und beide starren reglos vor sich hin.

S.9

Taksi on location

Um bei offenen Fenstern zu fahren, hatte ich trotz der Mittagshitze eines der alten Taxis ohne Klimaanlage gewählt. Jetzt, da uns kein Fahrtwind kühlt, weil wir in einem Stau festsitzen, bereue ich es, nicht in eines der neueren klimatisierten Taxis gestiegen zu sein. Immerhin geht von der völlig ineffektiven Emsigkeit des kleinen Propellers am Armaturenbrett ein rührender Hauch von Poesie aus.
solange Sie glauben, Schell zu sein. Das geht mir immer wieder durch den Kopf.
Drei von mir reichen nicht, solange ich glaube, Schell zu sein? Was meinte Ladenheuser damit? – Da fällt mir der Moment ein, als ich auf dieser Taxi-Rückbank Platz nahm: Eine Sekunde lang hatte ich das deutliche Gefühl, als sei noch jemand eingestiegen, genauer gesagt zwei, einer links und einer rechts von mir.
Ich wäre also gar nicht überrascht, mich hier plötzlich eingekeilt zwischen Sgyulus und Sprosbral wiederzufinden. Doch ist das wahrscheinlich gar nicht nötig, solange ich an sie denke und mir bewusst bin, was sie mir versinnbildlichen, nämlich das, was mir ständig die geistige Klarheit zu trüben droht: Halluzination und Voreingenommenheit.
Dass mir jetzt wieder das Gefühl bewusst wird, beobachtet zu werden, hat den konkreten Anlass, dass der Fahrer mich im Rückspiegel aufmerksam beäugt. Ein Mann mittleren Alters ohne eine erkennbare Ambition, etwas darzustellen, was über seine Funktion als Taxifahrer hinausginge. Offenbar hat er Schwierigkeiten mit der Einschätzung meiner Person. Dem nach, wie ich ihm die Adresse nannte, scheine ich ganz gut türkisch zu sprechen; sehe aber aus wie ein ausländischer Tourist; Touristen jedoch geraten höchstens ausversehen in jenen Bazar, vor dem ich in sein Taksi stieg; und auch das Ziel der Fahrt ist kein touristisches.
Er wendet mir kurz eine resignierte Miene zu und stellt mit einem Seufzer fest: „So ist das hier. Immerzu Stau.“
„Für mich kein Problem, im Gegenteil. So habe ich Zeit zu gucken. Ich suche locations. Ganz normales heutiges Istanbul.“
„Ah, verstehe, Sie sind vom Film.“ Er klingt erleichtert. „Action?“
„Nur so viel wie nötig. Mystery, würde ich eher sagen. Die Geheimnisse und Wunder hinter den Kulissen des grauen Alltags.“
„Interessant,“ bekundet er höflich, „klingt nach Kunst“, und setzt lachend hinzu: „Allemal besser als Politik!“
Hoffentlich fragt er sich nicht, was ich mich fragen würde: Ein Location-Scout ohne eine Kamera im Anschlag?
Als der Verkehr dann mal ein wenig zügiger fliesst, erklärt er mir, es sei gerade vor uns irgendwo eine Protestveranstaltung im Gange, daher müssten wir einen kleinen Umweg nehmen. „Man protestiert gegen die Wasserpolitik der Großkonzerne.“
„Hier?“, wundere ich mich.
Da zeigt sich, dass der Mann gut informiert ist: „Die vom World Water Council dachten sich, in Istanbul würde sich niemand für ihre inoffizielle Sonderkonferenz interessieren. Dann haben aber die hiesigen Aktivisten intensiv getrommelt und eine beachtliche Gegenveranstaltung zustande gebracht, mit Kapitalismus-Gegnern aus aller Welt. Wie es heisst, hat sogar unser Präsident dafür ein paar Strippen gezogen.“ Er schaltet das bislang kaum hörbare Radio auf hörbar.
„Der Präsident?“, hake ich nach. „Unterstützt die Kapitalismus-Gegner?“
„Na ja, könnte doch sein. Er ist der einzige, der die Investoren daran hindern kann, auch hierzulande alles an sich zu reissen. Deswegen unterstützen wir ihn doch!“
„Verstehe …“
Pause. Was soll ich sagen? Soll ich es bezweifeln? Zu bedenken geben, dass vielleicht die Regierung genau andersherum tickt?
Er setzt hinzu: „Was er den Investoren ganz bestimmt nicht kampflos überlassen wird, ist unser Wasser!“
Ich frage lieber nicht, woher er seinen Optimismus nimmt. Mir fällt ein, was ich letzte Nacht die amerikanische Stimme aus dem Fernseher im Teehaus sagen hörte: By any means necessary. Der unverholene Befehl, jedes Mittel einzusetzen, um zu erreichen, was nötig ist.
Jetzt aus dem Radio die Meldung, dass die Protestdemonstration zu terroristischer Propaganda missbraucht worden sei und zur Stunde von der Polizei zerschlagen werde.
„Sind Sie sicher, dass der Präsident die Kapitalismus-Gegner, äh – unterstützt?“
„Dass die Polizei so eine Veranstaltung auflöst, heisst doch gar nichts. Das gehört dazu; aus Prinzip, wenn Sie so wollen.“
„Ach so, okay“, und ich muss wieder einmal feststellen, dass ich wirklich zu naiv bin, was Politik angeht. Kannst ja auch nicht alles kapieren, sage ich mir und betrachte die langsam vorbeiziehenden gelblichen Häuserblocks im smogtrüben Licht der Nachmittagssonne.
Ein Film der Geheimnisse und Wunder hinter den Kulissen des grauen Alltags … Tatsächlich trifft es das doch irgendwie. Kommt mir alles so kulissenhaft vor. Aber für wen arrangiert?
Für alle Beteiligten, klar. Für uns, die wir alle mittendrin sind. Sind wir also das Publikum? Oder zumindest die von uns, die nicht nur zuschauen, sondern sich auch des Zuschauens bewusst sind? Komischer Gedanke: Wer sieht denn das alles durch uns hindurch?
Wer käme noch als Publikum infrage, überlege ich, ausser uns, die wir hier die Sichtbaren sind? Die Toten etwa? Unsere Ahnen? Engel vielleicht? Götter? Oder warum nicht gleich – Gott? Ganz zu schweigen von irgendwelchen Intelligenzen in fernen Observatorien. Oder einfach nur die Angestellten der diversen Überwachungszentren? Willkommen im Reich der unbegrenzten Paranoia …
Vorne eine winzige Bewegung, und zwar im Rückspiegel: das Stirnrunzeln des Fahrers. Er beobachtet mich. Und ich verrücke ein wenig das Sichtfeld und schaue jetzt an seinem Blick vorbei in mein Gesicht – wie? Das soll ich sein?
Die Visage eines Komikers, der sich gerade erschrocken vor der eigenen Betroffenheit fragt: Ist das noch witzig? Ein Moment gar nicht unähnlich dem, da man zufällig einmal, schlagartig objektiv, sein tatsächliches Alter erkennt.
Das da kann nicht ich sein … Wer ist das? Den kenne ich quasi gar nicht. Was hat dieses Gesicht noch mit mir zu tun? Allein die Augen: waren die nicht immer blau? Jetzt sind sie – dunkel. Und ich lüpfe die Schirmmütze und muss feststellen, dass mein Haar auch nicht mehr blond ist, sondern – schwarz! Hey – das geht ja wohl nicht! Das geht nun wirklich über jedes Maß – also: Das. Geht. Zu. Weit.
Bin ich noch ich?
Durchatmen, befehle ich mir. Sei Maske, Gesicht!
Da war doch schon genügend Seltsames seit letzter Nacht, und nach alledem wird dich eine kleine Formwandlung doch jetzt nicht mehr aus dem Konzept bringen …
Aber was da in mir hochkommt, ist unverkennbar Panik.
„Was ist mit Ihnen, Effendi?“
„Na ja, die Hitze. Der Stillstand. Die miese Luft. Was soll das alles, fragt man sich.“
„Das kenne ich. Man weiss kaum noch, wer man ist. Was mir da immer am besten hilft …“, er langt vor dem Beifahrersitz in eine Kühlbox und reicht mir eine kalte Büchse Coke.
„Danke, Mann!“
„Alles völlig normal. Und gleich sind wir auch da, vielleicht. Das ist hier schon das Hafengebiet.“
Ich kann’s nicht lassen, schaue wieder in den Rückspiegel – und da ist er immernoch, der andere. Eine Art Japaner, würde ich sagen.
Das kann nur eine Halluzination sein. Aber wenn man halluziniert, bemerkt man das doch gar nicht. Dachte immer, das sei gerade das Wesentliche am Halluzinieren. Dass man sich dessen nicht bewusst ist.
Dann also halluziniere ich jetzt – nicht? Nicht mehr? Dann wäre vorher etwa alles Halluzination gewesen? Der ganze Schell – nur halluziniert?
Kann ich das glauben? Nein. Irgendwas stimmt daran nicht.
Was heisst überhaupt Halluzination? Steckt luz drin, lux, Licht; und Luzifer natürlich. Und das hal – von hel? Altes Wort für Sonne. Hell. Also vielleicht eine von der blendenden Helligkeit des Sonnenlichts bewirkte Täuschung der Sinne; in einem Wort: Verblendung. Eine umgekehrte, eine falsche Erleuchtung – Verfinsterung, die man nicht bemerkt. Plausibel, finde ich, weil doch was man sieht vom Unsichtbaren abhängt, das heisst vom Licht, das man als solches ja nicht sehen kann – und wovon hängt ab, dass man überhaupt sieht?
„Sie gucken so komisch, Effendi …“
„Diese Coke … Schmeckt ja lecker, aber jetzt wär mir doch das Gegenmittel lieber.“
Worauf der gute Mann mir wortlos ein Fläschchen Wasser rüberreicht.
Ich bedanke mich und trinke. „Man kann ja nie wissen“, fange ich dann an, und zögernd: „Interessiert Sie Wissenschaft?“
„Ein bisschen“, er zuckt die Achseln, „eigentlich nicht. Kommt drauf an.“
„Was wissen Sie über die Zirbeldrüse?“
„Dass es sie gibt; in der Nähe der Nasenwurzel. Dass wir irgendwie damit das Sonnenlicht verarbeiten. Und dass sie etwas mit der Großzehe zu tun hat; die lateinisch deshalb hallux heisst, wie meine Schwägerin behauptet. Wieso fragen Sie?“
„Weil mir das Gemeinsame an Hallux und Halluzination so rätselhaft erscheint.“
„Aha. Dachte ich mir’s doch, dass mehr dahinter steckt als bloß Hitze und die miese Luft. Ihr Unwohlsein ist geistiger Natur. Trete ich Ihnen damit zu nahe?“
„Sie verblüffen mich, mein Herr. Haben Sie es noch konkreter? Dann nur zu!“
„Von wegen Sie suchen locations – bestimmt nicht für einen Film über die Geheimnisse und Wunder hinter den Kulissen des grauen Alltags. Vielmehr reicht’s Ihnen mit den Geheimnissen, und wegen der vielen Wunder haben Sie inzwischen allen Grund, an der Realität zu zweifeln. Wie knapp liege ich daneben?“
„Knapper geht’s nicht. Und was empfiehlt sich, von kalter Coke mal abgesehen?“
„Nun ja …“, wie hin und her gerissen. „Gibt’s zu der Adresse, die Sie mir genannt haben, eine Alternative? Weil, die gibt es zwar, diese Adresse, nur The Framing Company, die gibt’s da nicht mehr.“
„Und das sagen Sie mir jetzt.“
„Hm, ja, dumm von mir … Aber vielleicht hat man da ja auch nur das Aussenschild abgeschraubt, ich meine, sich umbenannt oder so.“
„Genau, sowas kommt doch dauernd vor. Um den Kulissen des grauen Alltags ein wenig Abwechslung zu verleihen.“
„Sie nehmen es mir also nicht übel? Ich wollte Ihnen den Optimismus nicht verderben.“
„Was wär das für ein Optimismus, der von einem Firmenschild abhinge?“
„Gut. Dann sind wir auch gleich da.“

B.5

Auf zwölf zu

Zurück nach Frankfurt am Main. Wir zoomen uns da herunter und hinein … Wo ist er, unser Taxi-Mann namens Schell?
Wir suchen aus der Vogelperspektive die Straßen ab, ohne Eile, denn es gibt viel zu sehen, Frankfurt ist eine unterhaltsame Kulisse …
Um im Gesamtzusammenhang von Schells Bureau diesen Frankfurter Schell von sowohl dem Schell des Intrologs, als auch vom Schell der Mystery Saga zu unterscheiden, nennen wir ihn H-Schell. H wie human. Oder wie homo sapiens; denn dieser Schell versucht ja, sich als jemand zu verstehen, der die menschlichen Bewohner des Planeten Terra repräsentiert. Aber natürlich könnte das H auch einfach auf seinen Vornamen Hartmut hinweisen.

Es ist Vormittag. Mattes Licht, blasse Farben, es windet heftig und sieht nach Regen aus; regnet aber noch nicht. Was die Jahreszeit angeht, so kann angesichts der Bäume von Sommer, ja auch von Spätsommer schon nicht mehr ganz die Rede sein; sagen wir, der Herbst hält gerade Einzug … Da!, dieses urtümliche Taxi, ein schwarzer Heckflossen-Daimler, das muss es sein: das Retro-Taxi mit dem Sound echter Musikcassetten.
Was hat Schell da gerade laufen?
Life is easy when you’re hiding from the rain beneath banana trees … Michael Franks.

Unterwegs wieder einmal in Richtung Hauptbahnhof, gingen ihm gerade Möglichkeiten eines Urlaubs durch den Kopf. Er stellte sich vor, vom Delta der Donau im Uhrzeigersinn an den Küsten des Schwarzen Meeres entlang zu reisen, und zwar gemächlich, mit Fährschiffen und Eisenbahnen. Bis nach Istanbul.
Er könnte sich genauso gut auch in England alte Parks anschauen; oder sich mit ein paar Büchern irgendwohin verziehen, wo nichts los ist, nach Belle-Ile zum Beispiel. Aber mit was für Büchern?, fragte er sich. Und warum nicht gleich zuhause bleiben?
Geht mir doch ganz gut hier, oder? Zugegeben, neulich war ich mal ziemlich runter mit den Nerven, und es wird wohl so sein, wie Manne und Uschi meinen: dass mir eine Abwechslung bestimmt gut täte.
Das war sehr beschönigend gedacht; die Freunde hielten es für dringend nötig, dass er aus Frankfurt mal herauskam; und er hatte sich davon ja auch schon überzeugen lassen, vor nun fast einem Jahr, und schob seitdem die Sache vor sich her, da sich einfach kein Ort fand, der in ihm Reiselust erweckte.
Wiewohl er fand, er habe das Ereignis gut verdaut inzwischen, hörte das Unerklärliche nicht auf, ihn zu beschäftigen:
Entweder ist die Wirklichkeit so wie ich denke, dass sie ist, dann kann das Ereignis nicht real gewesen sein. Oder es war real, dann aber ist die Wirklichkeit anders als ich denke. Das eine ist so wahrscheinlich wie das andere.
Als drittes käme in Betracht, dass das Ereignis zugleich real und nicht real war, die Wirklichkeit also ist, wie ich denke, und gleichzeitig ganz anders. Das widerspricht jedoch der Logik und damit dem Wirklichkeitsbegriff, den ich gewohnt bin.
Dies dritte, das Sowohl-als-auch, ist am wahrscheinlichsten, das heisst, was ich mir als wirklich vorstelle, ist genauso falsch wie richtig, so real wie irreal. Wie wahrscheinlich dies aber auch ist, es scheidet aus, da der objektive Standpunkt, den es voraussetzt, mir nicht gegeben ist.
Billige Ausrede. Du versuchst, der Entscheidung für oder wider aus dem Wege zu gehen.
Weil mir der objektive Standpunkt diese Unsinnsentscheidung eben verbietet.
Meinst du.
Ganz recht, und zwar vom objektiven Standpunkt aus.
Wie kann ein Standpunkt objektiv sein? Das ist ein Widerspruch in sich. Der Standpunkt ist das schlechthin Subjektive.
Ohne den es das Objektive nicht gäbe; kurz: Kein Kreis ohne Mittelpunkt. Kein objektives großes Ganzes ohne mittendrin ein Subjektives, dich zum Beispiel. So funktioniert nun mal Erkenntnis.
Und die Erkenntnis wiederum wird das Subjekt, dessen Objekt die Wahrheit ist, das Unbewegte, dem die Erkenntnis sich endlos entgegenbewegt.
Und dann? Wo heben sich Bewegung und Unbewegtheit gegenseitig auf?
Da, wo sich der Gegensatz Gegensätzlichkeit-gegen-Gegensatzlosigkeit auflöst; wo man das Unendliche mathematisch erfasst, indem man die Linie als Punkt denkt …
„Da vorne bei dem Sushi-Laden können Sie mich absetzen.“
Bis die Begriffe nicht mehr reichen, also keine Vorstellung mehr greift und sich also auch jenseits der Sprache kein Sinn mehr ergibt. Er hielt an. „Macht achtzehn Euro.“
Eine der großen Uhren zeigte Viertel vor zwölf. Und er hielt inne. – Schon wieder? Denn da wurde ihm bewusst, dass in letzter Zeit eigentlich immer, wenn ihm zufällig eine Uhr in den Blick kam, es gerade auf zwölf zu ging. – Hm, nun ja. Seltsam. Doch warum nicht? Selektive Wahrnehmung. Auf zwölf zu – nur bloß nicht irgendwelche Schlüsse daraus ziehen!

Inzwischen konnte er sich dem Hauptbahnhof wieder nähern, ohne gleich an jenes Objekt zu denken, das er dort in einem Schliessfach gefunden hatte – die Azuma-Statuette –, und auch ohne in der Folge dann sich an jenen Sommerabend erinnern zu müssen, an dem das Ereignis stattgefunden hatte. Doch hiess das auch, dass schon Gras darüber gewachsen war?
Wie tief es ihn in geistige Komplikationen gestürzt hatte, war ihm halbwegs bewusst, und er leugnete nicht, dass die Sache Spuren bei ihm hinterlassen hatte. Waren die jedoch erkennbar? Hatte er noch ein Problem? Nein, hätte er gesagt; wusste allerdings, dass seine Freunde von der Tankstelle gesagt hätten: O ja. Insofern jedenfalls versteht man sein Bemühen, so unauffällig wie nur irgend möglich aufzutreten und sich aus allem so gut es ging herauszuhalten. Was seit neuestem gar nicht mehr so einfach war.
Da er nun wusste, wie sehr das sogenannte Ereignis auch Manne beschäftigte, sodass der in puncto Schells Bureau anscheinend ständig recherchierte, fiel ihm überhaupt erst auf, dass er selbst zur Aufklärung der konkreten Umstände dieses rätselhaften Falls noch bisher keinen Finger krumm gemacht hatte; und was er bis dahin unbewusst unterlassen hatte, das unterliess er nun ganz bewusst. Er sagte sich: Auch wenn es ja, wie’s scheint, dein Fall ist, so halte dich lieber aus dem heraus, was faktisch daran ist. Nur wenn du sicher bist – ganz sicher –, dass du das Gesuchte wirklich finden willst, dann meinetwegen suche; vergiss nur nicht: durch Sucherei wird es konkret.
Und was musste er feststellen? Dass es ihm plötzlich ganz schön schwer fiel, sich aus allem rauszuhalten.

Hin und wieder also gedachte er am Bahnhof durchaus noch der Azuma-Statuette – der Azuette, wie er bei sich dieses Plastikfigürchen nannte – und all des Mysteriösen, das damit zusammenhing, doch immer seltener; eher fiel ihm da ein, wie Joseph Beuys, der Künstler, seinerzeit an das große Thema Einweihung erinnert hatte: indem er darauf hinwies, die Mysterien fänden heutzutage am Hauptbahnhof statt. Wie wahr.
Jetzt gerade forderte allerdings das Parkplatzproblem seine Aufmerksamkeit. Hier gleich um die Ecke befand sich nämlich sein Stammcafe und es war Zeit zu frühstücken.

Worauf es ihm dort beim gewohnheitsmäßigen Durchblättern der Frankfurter Allgemeinen ankam, war der Anschein von Normalität, den es erweckte, sowie der gleichmütige Blick aufs Weltgeschehen und das Rascheln des Papiers. Es fühlte sich gemütlich an; trotz des beunruhigenden Gedankens, der sich dabei immer wieder erneuerte: dass wohl nach wie vor in aller Welt die oberen Ränge mit Psychos besetzt seien. Heute liess ihn das wieder einmal an Frau Doktor denken, an seine erste Sitzung bei ihr: Sie hatte ihm nicht geglaubt, dass er Taxifahrer sei; einfach deshalb, weil ihre Dienste in der Regel nur von Chefs in Anspruch genommen wurden; und hatte hinzugefügt, wörtlich: „Ich bin auf Psychos spezialisiert. Sonst säßen Sie nicht hier. Das sollte Ihnen klar sein.“
Nur Chefs konsultieren Frau Doktor? Das hatte ihn irritiert. Und unter Chefs versteht sie Psychos? Dann bin ich wohl die Ausnahme von dieser Regel. Was sich so wahrscheinlich jeder Psycho denkt.
Daran hatte er schon oft zurückgedacht … Sein Croissant zerkauend, stierte er durch die Fensterfront über die Straße und bemerkte jetzt, was er dort auf den Treppenstufen eines mit Graffiti verzierten Hauseingangs immer sah: die Junkies. Die in dieser Gegend zahlreich waren; und die mit ihrem Radar gewöhnlich seine Haltung ihnen gegenüber, eine Art scheue Hochachtung, ohne weiteres erfassten, sodass ihm meistens erlaubt war, ihnen aus dem Wege zu gehen.
Nicht gerade dass er Heilige in ihnen sah, doch jedenfalls erinnerten sie ihn an die Saddhus in Indien, die man ihrer Radikalität wegen fürchtet und verehrt; nur dass die hiesigen Saddhus fokussiert waren auf Stoff, hingegeben ganz und gar an ihre Selbstsucht; dass für sie das Absolute ihr ungeschminktes Ego war, ein Ego, das so weit geht, zu seiner Befriedung sich selbst als Ganzes in die Waagschale zu werfen und damit den Egoismus, indem er solchermaßen in Selbstaufgabe umschlägt, ad absurdum führt. So betrachtete sie Schell, kurzum, als Fortgeschrittene.
Die Sucht, dachte er, ach die Sucht … Ist sie nicht schlechthin das Kennzeichen der Terraner? Das Typische am Menschenleben in der Schwerkraft? Das irgendwie, was uns alle zu Verwandten macht? Und damit auf einmal trübte sich ihm alles ein.
Was wenn nicht Sucht war es gewesen, das ihn wieder und wieder hatte Frau Doktor aufsuchen lassen? Aber immerhin, sagte er sich, bin ich nun schon ganz schön lange dieser Versuchung nicht erlegen … Soll wohl heissen, wird Zeit, mal wieder schwach zu werden, oder was?
Schwach, nun ja; was aber, wenn Schwäche, Sucht, das Unergründliche, all das Belastende, gar nicht so wirklich ist wie ich meine? Vielleicht träume ich das alles nur. Dann könnte gerade die Therapie bei Frau Doktor, wie alles Krasse, sich genau als das erweisen, was endlich mich herausreisst aus dem Traum. Denn ehrlich gesagt, war ich doch mit dem Aufwachen heut Morgen schon wieder mittendrin in diesem blöden, die ganze Wirklichkeit umfassenden Dilemma, und das heisst, nicht einmal mehr der Schlaf vermag es noch zu unterbrechen.
Weil dieses Wirklichkeitsdilemma einfach größer ist als du. Bedeutender. Und natürlich auch schon lange nicht mehr deinem Willen unterliegt.
Soll das die gute Nachricht sein oder die schlechte?
Die Nachricht lautet: Es ist nicht mehr abstrakt, nicht mehr dein Hirngespinst. Was dir noch als logisches Dilemma erscheint, ist längst verwirklicht: ist Realität. Und bemerke doch bitte, dass du da, wo du früher Trost von aussen brauchtest, wo der gute alte Imperator mit stoischen Sentenzen aushelfen musste, ich es heute bin, der dir in den Hintern tritt, dir die Moral erhält, das heisst: du dir selbst. Wenn das nicht gute Nachricht ist.
Er blickte durch die FAZ quasi hindurch, noch immer bedächtig mit dem Verzehr seines Croissants beschäftigt, und suchte vergeblich, was er für sich Die Stille nannte. – Sag mal, ist das etwa ein Trübsinn, dem du dich hier überlässt?
Alles ist gut. Perfekt. Und wunderbar.

Während der Monate, in denen er auf der Suche nach dem inneren Machtwort so exzessiv damit beschäftigt gewesen war, um das Ereignis herumzudenken, war sein Erlebnishorizont sehr schmal geworden. Er hatte seinen Taxi-Job erledigt, abends gern die Gesellschaft in der Küche aufgesucht, mit Manne und Uschi Gespräche geführt; sonst nichts. Ausser dass er aus Höflichkeit bei seiner Nachbarin Lady Rainbow hereinschaute, wenn sie ihn gelegentlich auf ein Tässchen Tee einlud. Innerlich aber war er allem fern geblieben, wie einem Schauspiel gegenüber, das ihn nichts anging, so allein im Grunde wie draussen beim Joggen oder in seiner Bude am Schreibtisch.
Gedanklich so über alle Maßen in Anspruch genommen vom Ereignis, dass sich äusserlich so gut wie gar nichts mehr ereignete, hatte er doch ständig das Gefühl gehabt, keine Zeit zu haben; und dieses Gefühl, weil es sich einfleischte, hatte ihn auch nachts bedrängt, sodass er nicht gut schlief und folglich tagsüber immerzu müde war. Und woran er während dieser schweren Zeit besonders darbte, war der Mangel an Träumen – ja, zeitweise hatte er gar nicht mehr geträumt.
Dann aber musste, irgendwo im Verborgenen, etwas geschehen sein.
Plötzlich hatte sich das Blatt gewendet, er wusste nicht, wodurch, und es war ihm auch egal – auf einmal träumte er wieder!; und höchstens wunderte ihn, wie glücklich ihn das machte und wie es morgens eine Sensation war, anstatt aus flachem Gedöse aufzuschrecken, weil der Wecker klingelte, auf einmal wieder zu erwachen aus richtigem Schlaf, und statt sich mühsam aufzuraffen, sich ausgeruht und heiter zu erheben.
Und gerade so wie heute Morgen war es inzwischen häufig morgens: Wie hatte er’s genossen in dem frohen Überschwang, den ihm das bloße Ausgeschlafensein verursachte, zu entscheiden, ganz Herr der Lage, dass es auch heute wieder, und weiterhin, völlig egal sei, was denn der Auslöser der plötzlichen Veränderung gewesen sein mochte; dass er zwar herzlich dankte für den guten Schlaf, für sein wiedergewonnenes Traumvermögen, die Ursache davon aber im Rätselhaften zu belassen hatte, schien sie ihm doch deutlich genug zu sagen: Ich entschwinde dir in dem Maße, in dem du mich konkretisierst.

Put the blame on Mame, boys, put the blame on Mame
Was er beim Bereiten des Kaffees da vor sich hingesummt hatte, stammte aus uraltem Hollywood, aus einem Rita Hayworth-Film. Kann nur heissen, dachte er, ich hab mal wieder von Ingrun geträumt. Denn die ist doch, wäre sie nicht so blond, optisch von der Hayworth wahrlich nicht zu unterscheiden. Um aber diesen schönen Morgen nicht aufs Spiel zu setzen, scheuchte er rasch diesen Gedanken an seine Ex-Geliebte fort, und darauf, dass ihm das inzwischen ohne weiteres gelang, war er ein bisschen stolz, ja grinste sogar in den Spiegel und fragte sozusagen den da: Sonst noch was an Fortschritt zu verbuchen?
Kurzum, seine Verkapselung hatte sich, wie er fand, restlos aufgelöst.

Er hatte heute Morgen, als er in den Wagen stieg, auf Gutglück in die Kiste gegriffen, so wie immer, wenn er noch nicht wusste, was der Sound des Tages war; worauf Getrommel einsetzte, als er vom Hof fuhr, und sich der Senegal erhob … Hatte er lange nicht gehört, Toure Kunda, und drehte auf.
Den alten Heckflossen-Daimler als retro zu bezeichnen, war genau genommen ein Missverständnis, da er nicht auf alt gemacht, sondern echt alt war; so wie das, was als das Wesentliche bei der Kundschaft so gut ankam, darin bestand, dass die Musik von den echt alten Magnetbändern, die der echt historische Cassettenrecorder abspielte, auch entsprechend echt vernudelt klang. Dabei hatte weder Schell noch Manne eine besondere Vorliebe für Oldtimer oder überhaupt für Nostalgie; vielmehr ging es einfach darum, das Kult-Potential zu nutzen, oder wie Manne es mal formulierte: „Die Karre ist noch gut, die Musik auch, also kann man die Leute gut noch damit rumkutschieren.“
Da Schell der einzige von Mannes Fahrern war, der lieber diesen alten als irgendeinen neuen Wagen fuhr, war also sein „Retro-Job“ keineswegs ein Privileg, und so kümmerte es auch niemanden, dass er sich die Freiheit nahm zu arbeiten, wann und soviel, oder sowenig, er wollte. Günstig für ihn, denn es gab Tage, da kam er gar nicht vom Schreibtisch weg, und andere, an denen er bestimmt nichts besseres zu tun hatte, als auf alter Pop-Musik durchs Rhein-Main-Gebiet zu kurven.

Seit er seine Gedanken soweit unter Kontrolle hatte, dass er ihr Entstehen beobachten konnte, wurde er gewahr, wie sich immer wieder aus lauter Vermutungen ein Gebilde um ihn herum zusammensetzte, das stets auf Verfestigung abzielte und nur diese eine Funktion zu haben schien: die Konsistenz von Realität zu erreichen. Sobald er das im Einzelnen bemerkte, setzte er für den jeweiligen Sonderfall sogleich das allgemeine Muster, das Prinzip, und zwar indem er sich ein Bild dafür vergegenwärtigte, nämlich das Bild, in dem das, was in seinem Geist entstand, zugleich den Geist abbildete, der diese Bild entstehen liess: ein Raum, dessen sämtliche Seiten aus Spiegeln bestanden; ein unmöglicher Raum, den er den Tautoloid nannte.
Da ihm inzwischen klar war, dass er selbst ja dieses Ding hervorbrachte, geriet er gegenüber dieser extremsten seiner geometrischen Fiktionen nicht mehr in Panik, sondern brachte im Gegenteil seinen Geist darin zur Ruhe. Er kannte das Machtwort, lernte den Umgang damit, und er wusste: Dafür brauche ich dieses Ding, dieses Spiegelkabinett, diesen absoluten, wenn auch fiktiven Ruhepunkt; und zwar weil ich es so bestimme, weil es mir passt; weil es sich so, wie ich es geschaffen habe, nicht mehr abschaffen lässt; und weil ich ja blöd wäre, mir selber gegenüber ein Sadist, wenn ich mir daraus Qual bereiten würde. Ist doch viel besser, mich zu freuen. Und um überhaupt zu merken, dass ich mich freue, brauche ich diesen Punkt, diese Stille. Eine Art Happy End, in das ich jederzeit einkehren kann. Wo immer so wie Ende auch immer Anfang ist.
So hatte sich die Sache allmählich völlig umgedreht: plötzlich fand er genau da, wo ihn früher nur nacktes Entsetzen überfiel, stille, heitere, ja gemütliche Zufriedenheit.
Doch war etwa auch das nur wieder eine Illusion?

Bis hierhin war es so schön, von morgens an in lockerer Gedankenfolge sich dem zu überlassen, was ihm entgegenkam, beflügelt irgendwie, und erleichtert in dem Gefühl, ja sowieso nichts machen, weil sowieso nichts ändern zu können, und nun, im Rückblick auf die gedankliche Bewegung, die er seit heute früh vollzogen hatte, reimte sich ihm eine Kurzfassung zusammen und er dachte, das macht ja auch mal Spaß:
Kopf-oder-Zahl ist mir egal.
Im Null-oder-eins find ich nicht meins.
Bin bei nur entweder-oder doch bloß der blöde Decoder.
Er überlegte: Und daraus nun conclusio
„Salam, Schell-Efendi. Kommst du mal rüber zu Habib.“
Wer wagt es hier –? Einer dieser schwarzbärtigen Jungs in modernster Sportbekleidung, wie geschaffen für eine neue Karl May-Verfilmung, hatte sich vor ihm aufgepflanzt. Er seufzte innerlich: Kaum dass ich wieder gut drauf bin und mich blicken lasse in der Welt, muss ich einem Gangster ins Visier geraten …
„Fünf Minuten“, sagte er. „Muss noch was zuende denken.“
Er würde zehn Minuten daraus machen, das entsprach dem Maß an Souveränität, das er sich leisten konnte; keinesfalls dürfte er Habib länger warten lassen, das war klar. Möglich, dass dieser Libanese nur ein kleines Lichtlein in der Szene war; doch woher wissen, wie weit über diese Straßenseite hinaus sich seine Autorität erstreckte? Bringe ihm vorsichtshalber den vollen Respekt entgegen, ermahnte er sich selbst, bevor er den Faden wieder aufnahm, sich zur conclusio abwechslungshalber mal etwas Demut anempfahl und so zuende reimte:
Da’s fällt wie’s fällt dahier, fügt sich mein Wille dir.
Das klang noch nach, als er acht Minuten später das Cafe verliess, und er fragte sich, bevor er die Automatenhöhle nebenan betrat, eine sogenannte Spielothek: Was ist das für ein neuer Ton, den du da angeschlagen hast? Fügt sich mein Wille dir – mach mal halblang, alter Knabe, hast du Schiss? Etwa vor Habib? Come on.

Fassen auch wir zusammen, was in diesem Kapitel deutlich werden sollte: Dass sich also Schell nicht etwa vorkam wie ein wandelndes memento mori, nein im Gegenteil, dass er der Ansicht war, es ginge ihm gut.

S.8

Kick Kimura, nachts

Dieses Gefühl: zu steigen, zu steigen, zu steigen, immerzu höher zu höher gehoben, wie zum Orgasmus getragen, nur äusserlich anders, gelassen, und innerlich anders, gezwungen, gleichwie rasend ins Kleine, umso viel größer erweitert als jemals zuvor, unumfasst zu nichts verdichtet wie alles auf einmal gelöst, ein Ja-Gedicht vom Grunde gerissen, jawärts geschleudert von rundum schallendem Nein, wie Ohnmacht gemacht aus donnerndem Stillpunkt, ohne Höhe, ohne Gerade, Schwellung nur, Rauschbogen zum Kreisgestrudel, aus sich in sich, in- und auseinanderfliegend, auf Sein und Nichtsein gestoppt –: dieses Gefühl. Dabei tausend Gedanken wie ein Blitz, der sie grell alle zu nichts zerbrennt. Als würde man gar nicht denken. Ist selbst dabei in aller Ruhe Gedanke. Und steuert die Sache, lenkt sie präzise dahin, wo sie hin soll. Sehr einfach, solange nur dahin auch er will. Er? Solange nicht zwei- oder dreifach, oder sonst wievielfach, sondern eben nur einfach: er, Kick Kimura, Romanheld von Beruf.
Er weiss, es ist eine Große Welle, eine der ganz Großen, eine wie man sie nur höchst selten erwischt, vielleicht sogar die Welle, die größte seines Lebens …
Der Moment, da sie ihn nimmt, ist der entscheidende: Ist er richtig da? Und ist er richtig da? Nimmt sie ihn auf? Hat sie ihn?
Jetzt steigt er nicht mehr, er ist jetzt obenauf … Wenn er sich jetzt falsch bewegt …
Schlagartig ist ihm klar: Das wird ein Body Job.
Jetzt trägt die Welle ihn. Und der Sinkflug beginnt. Er kann nichts mehr tun, braucht sich nur noch zu entspannen, nur noch zuzustimmen. Denn da mit seinem Eigenwillen auch alle Angst verschwunden ist, hat Zustimmung jetzt Raum, ist jede Menge Platz für reines Ja-so-sei-es.
Bin ich noch da?, so fragt er sich und sagt sich: Endlich weiss ich, wer noch da ist. Und fühlt nur Dank zu diesem Wesen, das noch da ist – und so mächtig da ist, dass kein Name dafür ausreicht.
Das hast du schon erlebt, mehrmals, und jedesmal war es wie jetzt: erstmalig; einmalig; einzigmalig; aller Anfang. Daran erkennst du es: das Notwendige. Erkennst es ganz, und neu. Dass du das Notwendige zu erledigen hast. Und was das Notwendige ist. Ein Body Job. Und vor allem: dass du das Notwendige erledigen darfst
Darüber staunt Kick Kimura gar sehr. Denn bis eben galt es ihm als ausgeschlossen, dass man ihm jemals wieder einen Body Job erlauben würde. Er konnte froh sein, dass ihm überhaupt gestattet wurde, im Service of Intelligence noch wenigstens als Handlanger sich nützlich zu machen. Und plötzlich dies; sodass er sich fragt: Ist etwas so großes passiert, dass sie auf einmal jeden brauchen? Dass sogar eine persona non grata wie ich wieder ganz oben mitspielen darf?
Eben noch wäre das keine Frage gewesen. Dass er nun in profanes Bedenken zurückfällt, zeigt ihm an, dass der Transit zuende ist, die Welle jetzt ausläuft, ihn gleich absetzen wird …
Und da gewinnt er schon Boden, läuft, rennt …
Auf einer Straße, einer Brücke …
Und jetzt: Sprint! Denn Schüsse krachen, und ihm ist klar, die gelten ihm. Er wird verfolgt.
Eine Routine. Er ist jemand in Panik. Okay. Er weiss, was er zu tun hat: das, worin er Meister ist; weiss, was da in seiner Jackentasche klingelt, dem Anschein nach ein Telefon, und weiss, wozu das gut ist …
Du träumst, sagt er sich.
Er kauert auf einem Bett, nackt und nassgeschwitzt, erschöpft. Von dem Gelb einer Straßenlaterne dringt ein wenig in das dunkle Zimmer. Das Telefon, so stellt er fest, hat mich geweckt – muss ich geträumt haben. Es hängt in einem Schnellimbiss in Hongkong, an einer Wand ganz hinten, wo die Vorräte gestapelt sind.
Über den Anrufbeantworter dieses Telefons konnte man ihn kontaktieren; ihm die Nummer für einen Rückruf oder auch gleich die Koordinaten eines Treffpunkts nennen; und früher hatte man ihn auf diese Weise andauernd ins Spiel geholt. Doch damit ist es schon lange vorbei. Seit er im Service of Intelligence in Ungnade gefallen war, brauchte ihn niemand mehr. Und das Hongkong-Telefon hätte eigentlich stillgelegt werden können. Irgendwer aber hatte entschieden, offenbar in weiser Voraussicht, dass diese Nummer dem internen SI-System als eine Notfall-Funktion erhalten bleibt. Irgendwer also setzte darauf, dass im Fall der Fälle Kick Kimura doch noch zu gebrauchen sei, mit andern Worten: dass er nie die Bereitschaft aufgeben würde, seine Verfehlung wiedergutzumachen durch bedingungslosen Einsatz im SI.
Doch ob heute immernoch jemand darauf setzt? Ob die Nummer noch jemandem bekannt ist? Ob man sich überhaupt an Kick Kimura noch erinnert? Schon so lange ist Zeit vergangen, denkt er, dass ich eines nur ganz sicher weiss: dass ich bereit bin. Und dass es irgendwo geklingelt hat.
Das eine Klingeln war im Traum, es kam vom Handy in der Jacke. Aber das andere Klingeln, das hat mich geweckt … Wenn es das Hongkong-Telefon war … dann … liegt ein Notfall vor.
War es aber wirklich das Telefon in Hongkong, das geklingelt hatte?
Er zieht das Nächstliegende in Betracht: das Telefon am Bett. Ein Gerät, dessen Klingeln er kennt; das aus derselben Ära stammt wie das alte Ding in Hongkong. Beider Klingeln klingt so, wie in jener Ära alles Telefongeklingel klang: einfach wie Klingeln.
Da aus dem Telefonnetz die Vernetzung aller Geräte hervorgegangen ist, nämlich die Gesamtvernetzung, in der das einzelne Gerät nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, kann das Hongkong-Telefon inzwischen überall sein, das heisst kann jedes ähnliche Telefon seine Funktion übernehmen, auch dies Ding hier am Bett. Jedoch nur der kriegt’s mit, der’s weiss; der jenes spezielle eine Klingeln kennt.
Und genau so hat es eben doch geklungen – so wie jenes eine Klingeln. Sonst hätte es mich gar nicht aufgeweckt.
Er sitzt reglos auf dem Bett; lauscht in die Nacht; spürt seine Anspannung; und staunt: Du bist ja richtig aufgeregt …
Ich freue mich sogar. Denn dass man mich doch noch gebrauchen kann, das durfte ich ja gar nicht mehr erwarten …
Da das allerdings Notfall bedeutet, ist ihm natürlich klar, dass er sich durchaus nicht darüber freuen sollte. Womöglich ist das, was passiert ist, so schlimm, dass seine Aktivierung ein Akt der Verzweiflung war.
Also schön sachlich bleiben, sagt er sich, und systematisch vorgehen. Man hat mich über den Traumkanal aktiviert, und fähig dazu ist, soviel ich weiss, nur der alte Forty O. Doch wer weiss, ob das alles noch so funktioniert wie früher …

Dieses Zimmer mit dem alten Telefon ist ihm vertraut. Ein Hotelzimmer in Nizza. Er hat darin schon oft gewohnt; wohnt darin tatsächlich immer, wenn er hier ist; kennt es in jeder Jahreszeit. Kein angenehmes Zimmer; wie dieses ganze Hotel kein angenehmes ist: unschön gelegen, unfreundlich geführt; schäbig ausgestattet, muffig, verstaubt; im Sommer kaum durchlüftet, im Winter immer überheizt; ziemlich billig immerhin, und das in jeder Hinsicht.
Man ist von Kick Kimura ja viel Seltsames gewöhnt, doch einem asketischen Ideal anzuhängen, dem kein Hotel miserabel genug sein kann, ist ihm bestimmt ebensowenig nachzusagen wie ein Hang zu Luxus oder Hedonismus gar. Was also treibt ihn dazu, ausgerechnet diese Absteige immer wieder aufzusuchen? Und was überhaupt führt ihn immer wieder nach Nizza? Wenn es nicht kulturelle Genüsse sind – und die sind es nicht –, dann vielleicht die hiesige Atmosphäre melancholischen Gaunertums? Nein, derlei wegen ist er nirgendwo je hingefahren, er war nie Tourist.
Dies hier ist – wie sonst soll man es sagen? – ein Ort, dem er sich aussetzt: ein Ort der Buße. Der Ort ständiger Umkehr.
Hier hat er seinen großen Mist gebaut. Einen Mist, der leider nie verjährt.
Kurz, aus schlechtem Gewissen ist er hier. Doch das ist eine so lange Geschichte, dass sie auch in kürzester Fassung zu lang wäre an dieser Stelle. Nur dass sie vom sogenannten Liebestod handelt, sei hier gesagt; und dass Kick Kimuras Verstrickung in diese Angelegenheit so schwerwiegend gewesen ist, dass er darüber seinen Rang als Schlüsselfigur im Service of Intelligence verlor.

Jetzt weiss er nicht: Wo nun hat die Große Welle mich tatsächlich abgesetzt? Da, wo ich renne? Auf jener Brücke, wo Verfolger auf mich schiessen? Wo ich so hineingeplatzt bin, so plötzlich, so ohne jede Anbahnung – für einen Traum sehr ungewöhnlich. Doch bin ich daraus aufgewacht, von besagtem Telefongeklingel. Es hat dort geklingelt, auf der Brücke, zum Traum gehörig, das erinner ich genau. Wie aber, als Teil des Traums, hätte mich das wecken können? Es muss also auch ausserhalb geklingelt haben – hier.
Dann hat sie mich hier abgesetzt, die Welle? Oder auch hier? Sowohl hier, als auch dort?
Genau darauf läuft es hinaus. Nun musst du nur noch aufhören, das für unmöglich zu halten. Wozu bist du denn all die Jahre so viele Wellen gesurft? Doch nur, um endlich eines Tages auch eine Große Welle zu schaffen, eine wie diese, die dich an verschiedenen Orten gleichzeitig trägt – ja, immernoch trägt, sie rollt nämlich noch immer, nur jetzt nicht mehr spektakulär, sondern verborgen, aber mit unverminderter Wucht; und immernoch kannst du darin untergehen, sage ich dir. Dann erst hast du sie geschafft, wenn du sie begreifst; solange rollt sie: nicht unter oder über dir, nicht mit dir oder ohne dich – durch dich. Du bist die Welle. Verstanden?
Was ich verstehe, ist eigentlich gar nichts. Und soviel in etwa konnte ich mir bisher auch unter einem Body Job vorstellen – gar nichts. Verstehe ausserdem, dass ich nur deshalb so überrascht bin, weil ich schon die Hoffnung gänzlich aufgegeben hatte, durch mein Bemühen noch einem andern Ziel als meinem Tode näherzurücken. Und ich verstehe, dass an diesem Dauer-Surf ganz besonders die Option, sich einfach dem Untergang zu überlassen, eine ständige Verlockung bleibt.

Hat er geträumt? Real geträumt oder geträumt, dass er träumt? Oder träumt er immernoch? Ist hier wieder einmal Traum-im-Traum des Rätsels Lösung? Wie real ist dieses Hotelzimmer, in dem er so im Dunkeln auf dem Bett sitzt?
Er denkt an die Szene auf der Brücke zurück und widmet sich den Einzelheiten …
Es ist Nacht. Die Brücke, hell im Lichterstrom der Autos, überspannt eine weithin glitzernd umsäumte und von Bootslampen zahlreich gepünktelte Schwärze. Es geht ein lascher warmer Wind, der kaum die Abgase verweht. Und es ärgert ihn, dass er gezwungen ist, so schnell zu rennen wie er kann. Denn diese Anstrengung erscheint ihm unnötig. Seine Verfolger, zwei Asiaten auf einem altersschwachen Motorroller, sind offenkundig Dilettanten; oder wollen ihn gar nicht töten, sondern ihm nur Angst einjagen.
Und kaum ist ihm das klar, erkennt er sie: alte Bekannte aus dem Schattenreich, die immer wieder in seinem Umkreis auftauchen, immer unerwartet, immer plötzlich. Die oft bedrohlich wirken, manchmal auch nur lächerlich, in jedem Falle aber störend. Er kennt sie namentlich: Sgyulus und Sprosbral, und das Kapitel seiner Erinnerung, in dem sie zum erstenmal auftauchten, spielt in ferner Vergangenheit, in Tokyo, wo er als sechs- oder siebenjähriger Knabe entführt worden war und eine Woche in der Gefangenschaft einer Sekte von tibetanischen Magiern verbracht hatte, bevor ihn ein aussergewöhnlicher Gentleman aus dem Westen – nämlich der große Forty Operas höchstpersönlich – befreien konnte.

Er fragt es sich erneut: Bin ich noch da?
Und der Gedanke an das Große Gute, an das Wesen, das noch da ist – und so mächtig da ist, dass kein Name dafür ausreicht –, macht ihm Mut, und er kann wagen, das zu tun, was er sich bis jetzt nicht traute.
Er steht auf, knipst ein Licht an, tritt vor den Spiegel.
Und er sieht: da ist niemand.
Der Spiegel ist leer.
So wie befürchtet: du bist gar nicht hier.
Moment. Keine voreiligen Schlüsse. Durchaus bin ich hier, nur nicht ganz. Das Wesentliche ist hier das vor dem Spiegel.
Dann ist etwa, was im Spiegel ist, weniger wesentlich?
Gar nicht wesentlich. Was der Spiegel gibt, ist immer nur Hinweis. In diesem Falle nichts. Und auch das ist Hinweis, der Hinweis: Identität.
Erkläre dir das!
Nichts mehr, auch kein Spiegelbild, trennt dich von mir.
Hört sich komisch an.
Soll heissen, ich bin ich, und wir zwei sind identisch.
Wieso beschleicht mich das Gefühl, dass du ernstlich etwas damit sagen willst?
Ich will damit sagen, dass ich ernstlich ratlos bin; dass es vorläufig nur darum geht, diesen leeren Spiegel auszuhalten.
Kick Kimura ist sich hier durchaus bewusst, dass dieser monologe Dialog einem fröhlichen Vor-sich-hin-pfeifen im Finstern gleicht: dass er durch philosophisches Geplänkel sich das Dämonische vom Leibe hält.
So sehr ich auch Geist bin, denkt er, und sogar freiester Geist, wie es scheint, vom Sichspiegeln befreit sogar – trotzdem: Entschieden bekreuzigt er sich.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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