I.6

Zeitlupe

Jetzt gehorcht mir die Hand wieder, und als ich sie zur Türklinke führe, erwarte ich eigentlich, dass meine innere Stimme mich warnt: „Geh da nicht rein!“, und trotzdem ich nichts dergleichen höre, antworte ich ihr: Warum nicht? Was sollte ich sonst tun? Es gibt einen Grund, der mich hierher geführt hat.
„Und dieser Grund, glaubst du, wird dir da drinnen klar? Dann frage dich, ob du ihn findest, weil er bereits besteht, oder ob du dir diesen Grund da drinnen erst erfindest?“
O nein, das frage ich mich nicht. Ich versuche frei zu sein. Mit wem rede ich hier überhaupt?
„Schwer zu sagen. Mit dir selbst? Mit mir? Mit A2X27?“
Du bist – A2X27?
„Sagen wir mal so: Was diese Frage zur Frage macht, ist gleich der Informationsmenge dessen, was die Antwort zur Antwort macht.“
Verstehe ich nicht. Soll das ein Witz sein?
„A2X27 ist eine Informationsmenge, die zu verstehen und zu beschreiben es der gleichen Informationsmenge bedarf.“
Das ist eine Gleichung. Was auf der einen Seite A2X27 heisst, ist auf der anderen Seite, nur anders ausgedrückt, dasselbe. Was man eine Tautologie nennt.
„Wenn es denn das Selbe wäre; ist es aber nicht. Es ist nur das Gleiche. Wäre das, was A2X27 gegenübersteht, mit diesem identisch, könnte es ihm nicht gegenüberstehen. Wer Identität als Gleichung formuliert, irrt prinzipiell.“
Das heisst dieses kann nicht jenes sein – natürlich nicht! Wer behauptet denn so etwas?
„Alle Welt. Ständig wird das Eine durch das Andere erklärt; dieses durch jenes ersetzt; für Realität genommen, was in Wahrheit nur Analogie ist.“
Zum Beispiel?
„Die ganze Wissenschaft, deren Glaubwürdigkeit auf der Logik von Mathematik beruht; welche wiederum auf Gleichungen beruht, auf Analogien, genau wie die Zauberei. Und im Grunde unterscheidet sich diese Wissenschaft auch gar nicht von Zauberei, nur weiss sie das nicht, ja sieht sich gar im Gegensatz zur Zauberei, und ist gerade deshalb so wirksam.“
O je … So grundsätzlich wollte ich es gar nicht.
„Du fragtest, ob ich A2X27 bin.“
Ja, das war die Frage.
„Die eigentliche Frage war: Mit wem rede ich hier überhaupt?“
Höchstwahrscheinlich mit mir selbst; doch davon abgesehen – bist du A2X27?
„Wenn du dich mir gegenüberstellst: Ja. Wenn du mit dir identisch bist: Nein.“
Was nun? Heisst das Fehlermeldung?
„Ganz im Gegenteil. Du bist mit dir identisch und stellst mich dir gegenüber.“
Das führt nur ad absurdum, was du und ich bedeutet. Schluss damit!
Ich kenne diese Tür, vor der ich stehe, es ist die des Studierzimmers. Jedenfalls war sie das bisher immer. Und warum also öffne ich sie nicht einfach und gehe hinein? Weil ich befürchte, nicht das da drinnen vorzufinden, was ich erwarte.
Nun habe ich die Türklinke ja schon ergriffen; ich sage mir: Nicht vergessen, wenn ich drinnen bin, dass dieses Gebäude der alte Regierungspalast von Babaal ist; und wie ich hierher kam: durch den Keller; und woher: aus dem alten Flyshwerk in Bangot, ehemals Bangor …
Es bestätigt eine Tatsache, die mir durchaus bekannt ist, nämlich dass dereinst das Flyshwerk sich über seine konkreten Backsteinmauern hinaus verbreitet hat, zunächst über Bangor, die alte Stadt, und bald über den Rest der Welt. Das bedeutet, dass der Raum hinter dieser Tür, mag er nun wie das erwartete Studierzimmer aussehen oder auch nicht, Teil des Flyshwerks ist. Das bloß nicht vergessen, wenn ich hier eingetreten bin!
Ich weiss noch, wie man damals, zur Zeit der Ausbreitung des Flyshwerks, gebetsmühlenartig wieder und wieder die Dezentralisierung zu einem unaufhaltsamen Prozess erklärte. Weil man unbedingt wollte, dass sie automatisch ablief. Weil niemand Einfluss darauf haben sollte und also dafür auf keinen Fall jemand verantwortlich zu machen wäre. So wie später alle meinen sollten, die Vernetzung gehe ganz von selbst vonstatten. Irgendwie hat das wohl auf verkorkste Weise mit dem menschlichen Bedürfnis nach Religion zu tun: Wenn man schon nicht an etwas höheres als den Menschenverstand glauben kann, dann wenigstens an etwas unbekanntes Größeres, das der Menschenverstand zwar hervorgebracht hat, das ihn aber übersteigt; das man nicht göttlich nennen muss, sondern einfach „komplex“. So hat unversehens der Wissenschaftskult die Netzkultur hervorgebracht.
Wie auch immer, ich gehe da jetzt rein. Nur eines noch: Wieso war ich überhaupt in Bangot? Weil ich eigentlich nach Bangor wollte; weil mir einfiel, dass ich dort dereinst Ureal entdeckt hatte. Und auf Ureal war ich des Reiches wegen gekommen. Auch das bitte da drinnen nicht gleich wieder vergessen! Weil es zum Begreifen der Real-Technik unabdingbar ist, zu klären, worin das Reich besteht, und wie es funktioniert.
Nun endlich aber drücke ich die Türklinke herunter.

Ich trete ein. Und stehe da. Wie angenagelt.
Die Fiedel stockt, der Tänzer weilt
Ich finde nicht, wie erwartet, die stille gediegene Ordnung des ehrwürdigen alten Studierzimmers vor, sondern ein Chaos. Ein Büro-Chaos.
Und langsam erfasse ich die Lage: Ab jetzt geht es hier um System. Um Ordnung. Um die Ordnung des Systems.
Und ich bin hier nicht allein. Am Schreibtisch sitzt der junge Lemm, auf dem Sofa eine junge Frau, und beide starren reglos vor sich hin.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

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  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
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  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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