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Ist u real?

Jener Sachbearbeiter namens Ladenheuser hat den Agenten, der sich gerade vor ihm aufgelöst hat, Schell genannt. Und dieser Name kommt uns schon bekannt vor. So heisst doch der Taxifahrer in Frankfurt … Den das Auftauchen von Schells Bureau im Netz so sehr aus der Fassung gebracht hat. Derselbe Schell? Schwer zu sagen, denn was da in dem Büro geredet wurde, klang durchweg mehrdeutig. Und so klingt’s bei Ladenheuser immer: hintersinnig; wie verschlüsselt. Oft aber ist da gar nichts verschlüsselt – es soll nur möglichst so klingen. Und zwar weil Ladenheusers Büro sich im Kontrollbereich befindet.
Die ganze Abteilung, sämtliche Flure der TFA – wie verwaist und irrelevant sie inzwischen auch sein mögen – und der gesamte Büroklomplex, sowie das komplette Amt für Arbeitsteilung, das sogenannte Affa, mit seinen weltweiten Einrichtungen, das alles gehört dem Kontrollbereich an, das heisst ist unter Kontrolle, und zwar nicht nur pro forma, sondern tatsächlich und total.
Kontrollbereich, Totalkontrolle, Kontrollprozess usw.: das sind nur schwache Ausdrücke für etwas, das sich durch immer neue megatechnische Projekte ständig aktualisiert; bei dem es schon seit Jahrtausenden um das Eine geht, ums Ganze, um Totalisierung.
Zu verstehen, was dieses Prinzip der Totalisierung eigentlich bedeutet – inwiefern darin das Wesen der Technik besteht –, das war einmal das Grundanliegen der Abteilung Technik-Folgen-Abschätzung, genauer gesagt der gemeinsame Nenner aller divers spezialisierten Technikforscher. Welche jene sind, deren Geschäft nicht die Anwendung von Technik ist, sondern das Nachdenken darüber.
Nun ja, so gewaltig ausgedehnt es auch schon ist, dieses bürokratische Gespinst, das wir Affa nennen, die Kontrolle macht an dessen Aussengrenzen natürlich nicht Halt. Andere, dem Affa ähnliche Strukturen, unterstehen derselben Kontrolle. Wie weit diese insgesamt reicht, darüber lässt sich nur spekulieren. Was von ihrem Gesamtumfang aber als der uns bekannte Bereich gilt, das nennen wir in der Branche Ureal.
Ureal ist das vorläufige Endprodukt des Kontrollprozesses.

Obwohl Ureal zweifelsohne ein mentaler Zustand ist, eine Bewusstseinsebene, wird es eher wie ein Ort erlebt, räumlich, denn es hat eine konkrete, sehr überzeugende Konsistenz. Man kann sich derartig ureal fühlen oder auf ureale Weise denken, das heisst derartig total in Ureal sein, dass man das Ureale gar nicht mehr bemerkt. Deshalb existiert der Begriff Ureal überhaupt nur für diejenigen, die wissen, dass sie dort sind. Was mich angeht, so bin ich mir dessen eher zufällig bewusst geworden.
ist u real?
Oder: bist du real?
Vielleicht auch: are u real
Ist schon lange her, dass man im Klo einer Kneipe soetwas auf der Kachelwand veröffentlicht fand; und auch räumlich ziemlich weit weg: Es muss in – Bangor? – ja, wohl in Bangor gewesen sein. So richtig deutlich ist mir nur noch ein Farbton in Erinnerung, blass-gelbes Sepia, und ein Licht ohne Quelle, als käme es nicht reflektiert von den Oberflächen, sondern aus ihnen hervor, wie eine allen Gegenständen gemeinsame Eigenschaft.
Vielleicht sogar stellte jene schwarze Handschrift auf der Kachelwand einen noch anderen Wortlaut dar. Denn mit hoher Wahrscheinlichkeit war meine Wahrnehmung und entsprechend mein Bewusstsein zu dem Zeitpunkt eingetrübt durch mindestens irgendeine Art Alkohol. Doch was auch immer ich dort wortwörtlich las, es machte mir schlagartig Ureal klar.
Der Ort verwandelte sich in einen Zustand; ein Äusseres in ein Inneres. Wodurch mein innerer Zustand gleichsam zu einem äusseren Ort wurde. Gewissermaßen. Annähernd. Ganz ähnlich der Traumwelt, nur dass man sich im Gegensatz zu dieser in Ureal der Tageswelt bewusst bleibt.
Ich kann nicht behaupten, dass ich damals dieses Erlebnis in seiner Besonderheit erkannte, im Gegenteil. Der Moment war nur deshalb nicht völlig profan, weil mich ein alarmierendes Gefühl beschlich, ein kaum halbbewusster Verdacht, dass hier, hey, irgendwas komisches läuft. Wozu sicher die Örtlichkeit ihren Teil beitrug: keineswegs verdreckt oder gar eklig, war doch ihre Bestimmung deutlich zu riechen, und etwas sträubt sich in mir noch heute, wenn sich diese Eindrücke höchster Profanität mit der Erinnerung an einen so wichtigen Erkenntnismoment verbinden.
Natürlich hat es Bedeutung, dass die Entdeckung Ureals so auffällig direkt mit dem Ort der Ausscheidung verknüpft ist. Diese Bedeutung – Siehe das Alltäglichste! Siehe Ureal auch am alleralltäglichsten Ort! – war von Anfang an Bestandteil des Rätsels. Vor welchem ich, damals am Pissoir, erstmal nur leicht verwundert stand, und dann erst darüber in immer größeres Staunen geriet, weil jene spezielle Beleuchtung seitdem nie mehr ganz aus meiner Welt verschwand.
Ich fand Höhlenlicht die richtige Bezeichnung für diese Beleuchtung; und dass ich in Ureal bin, erkenne ich jeweils daran: am Höhlenlicht. Und damit, dass ich mir dessen gewahr werde, geht jedesmal eine Art Umstülpung einher, so wie damals, als ich die Schrift auf der Klowand entdeckte: die Aussenwelt wird zur Innenwelt und also gleichzeitig diese Innen- zur Aussenwelt. Wobei mich diese Wiederholung der ursprünglichen Entdeckung ständig daran erinnert, dass die mir immer wieder so aussergewöhnlich erscheinende Umstülpung tatsächlich das Allergewöhnlichste ist, so banal wie ein jeglicher Akt der Ausscheidung.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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