I.13

Flysh das Spiel

Ist inzwischen klar, dass wir uns hier in einem Spiel bewegen? Klar, meine ich, was das heisst? Was „Spiel“ überhaupt bedeutet?
Was ja im Allgemeinen den Reiz eines Spiels ausmacht, ist der abgesteckte Rahmen, innerhalb dessen andere Bedingungen und Regeln herrschen als die, die man aus der Realität gewohnt ist. Diesen Reiz haben auch solche Spiele, in denen der abgesteckte Rahmen – die Umgrenzung des Spiels – erst entdeckt werden muss, es also darum geht, die geltenden Bedingungen und Regeln kennen und beherrschen zu lernen.
Schon weniger reizvoll, weil um einiges schwieriger, sind die Spiele, in denen man die Bedingungen beeinflussen kann, indem man gegen die gegebenen Regeln eigene, neue Regeln durchsetzt; was allerdings mühsame Arbeit erfordert und daher für viele den Reiz, und damit die Spielfreude, erheblich schmälert.
Noch schwieriger, noch mühsamer, noch weniger als Spiel überhaupt zu erkennen, ist ein solches, dessen Rahmen so weit gesteckt ist, dass er eigentlich im Sinne von Umgrenzung nur hypothetisch existiert, man also nur weiss: es gibt so einen abgesteckten Rahmen – denn ohne einen solchen wäre es kein Spiel –, ohne dass man das jedoch beweisen könnte gegenüber der Behauptung, es gäbe keinen Rahmen und also sei dies auch kein Spiel.
Und das ist nun auch in diesem Flysh genannten Spiel die größte Schwierigkeit: dass der Rahmen, in dem es sich abspielt, derartig groß ist, dass er so gut wie alles umfasst, also in etwa mit den Grenzen der Realität zusammenfällt. Weshalb das Spiel sehr ähnlich, ja nahezu genauso aussieht wie das, was wir gewohnt sind, als Realität zu betrachten. Ernst und Spiel, oder auch: Realität und Fiktion, lassen sich als Kategorien hier gar nicht mehr unterscheiden.
Dann allerdings muss man sich fragen, ob es noch Sinn ergibt, an der Vorstellung eines Rahmens festzuhalten, das heisst bei der Annahme von innen und aussen zu bleiben – dass es, weil es ein Innerhalb gäbe, auch ein Ausserhalb geben müsse –; und kann sich dann auch gleich fragen, wie sinnvoll es ist, noch ernstlich an der Idee „Spiel“ überhaupt festzuhalten.
So ist es verständlich, dass man hier Spieler trifft, sehr viele sogar, die von dem Spiel nichts wissen; und solche auch, die davon nichts wissen wollen, und die, weil ihnen „Spiel“ als etwas überflüssiges, irreales, ja dem Realitätssinn widriges erscheint, dazu neigen, denen, die sich zum Spiel bekennen, Irrationalität oder – weil dies für sie dasselbe ist – Gläubigkeit vorzuwerfen; was die so Missverstandenen oftmals dazu veranlasst, ihnen wiederum dasselbe vorzuwerfen. Man kommt hier also mit der gewohnten Logik und eigentlich mit dem ganzen bisher üblichen Gebrauch der Sprache nicht gut weiter – was für den Schreiber dieser Darstellung eine entmutigende Einsicht wäre, gäbe es nicht immer auch das Andererseits.
Andererseits nämlich ist es ja das, worum es in dem Spiel Flysh wesentlich geht: diese schwierigste der Schwierigkeiten unter sich ständig ändernden Bedingungen und neuen Regeln irgendwie zu meistern. Darum müht der Schreiber dieser Darstellung sich unermüdlich damit ab, in der Erforschung der Real-Technik soweit zu kommen, dass er – nun ja.
„Ja was – hier, wo es um das Ziel seines Bemühens geht, um alles sozusagen, um den ganzen Sinn der Sache, bricht er ab, der Schreiber dieser Darstellung? Er fahre gefälligst fort: – soweit in der Erforschung der Real-Technik zu kommen, dass er –?“
„Dass er bereit ist, jederzeit alles liegen und stehen zu lassen; auch, und vor allem, das aufzugeben, woran er am zähesten hängt: das, was er für seine Persönlichkeit hält. Und zwar dazu bereit sein wird – dann –, wenn es darauf ankommt, alles in die Waagschale zu werfen.“
Dann – wenn es darauf ankommt –: das klingt dramatisch.“
„Weil es das besagt, was auf ihn zukommt: die Zukunft.“ Doch ich spreche nicht aus, woran ich denke bei diesem Dann, nämlich an diese Stelle in einem der Paulus-Briefe, wo es heisst: Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse. Dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich durch und durch erkannt worden bin.
„Der Ernstfall. Darauf also läuft es zu, dieses Spiel Flysh? Dahin zu kommen, wo es ernst wird? Wo das Spiel also aufhört? Dann wäre dies das Spielziel: aus dem Spiel herauszukommen.“
„Das kann man wohl so sagen. Doch wie gesagt, das Spielen – wenn es nicht gerade darin besteht, Neues zu erfinden –, ergibt Sinn nur im Rahmen bestimmter Regeln. Dabei kann es auch zum Spiel gehören, falsch zu spielen. Im falschen Spiel versucht jemand, durch einen Trick die Regeln zu umgehen, und zwar unbemerkt. Dagegen hilft allein, es zu bemerken; und dann muss man entscheiden, wie man weiterspielt: ob falsch gegen falsch oder lieber ehrlich gegen falsch. Hier ist als Beispiel das Pokern interessant, weil es so sehr wie Glücksspiel aussieht, aber es nicht ist; weil der scheinbare Zufall perfekt das Falschspiel tarnt; daher es dabei per se um den Betrug geht: man übertrifft sich im Betrügen, denkt nämlich richtig, das heisst gewinnt, wenn man den Gegner dazu bringt, falsch zu denken. Deshalb hat Forty Operas seinem Grüppchen von Agenten, als die im Service of Intelligence noch Anfänger waren, das Pokern beigebracht.“
„Ja, damals auf Hawaii. Aber das ist sehr lange her. Das war in den 1960er Jahren, und da konnten die das Spiel, Flysh, unmöglich schon gekannt haben.“
„Richtig. Die wussten damals noch nicht einmal, worum es in diesem Service überhaupt ging. Indem sie es allmählich herausbekamen, lernten sie das Spiel kennen; oder umgekehrt: indem sie es zu spielen lernten, lernten sie allmählich ihren Service of Intelligence verstehen. Und was Forty Operas angeht, so wusste der damals natürlich, dass es dieses Spiel gab. Er wäre sonst nicht MDO gewesen, und nicht Chef des SI; und da er als solcher nicht nur sehr weit voraus, sondern auch sehr weit zurück blickte, wusste er, dass das Spiel selbst, auch wenn es heute erst in seiner aktualisierten Version unter dem Namen Flysh läuft, uralt ist. Davon abgesehen, brauchte damals Forty seinen Leuten nicht groß zu erklären, wie nützlich es für Geheimagenten ist, das Pokern zu beherrschen.“
„Um sich von Falschspielern nicht übertölpeln zu lassen. Nun gut, Poker; auch ein schon altes Spiel. Doch Flysh, sagtest du – oder was als Spiel heute so heisst –, sei uralt, und als eingefleischter Ägyptologe meinst du womöglich: drei-, vier-, fünftausend Jahre alt? Von den alten Ägyptern erfunden?“
„So ungefähr, ja. Um das aber zu beweisen, müsste ich jetzt sehr, sehr weit ausholen.“
„Bitte nicht! Bis wir uns da einer Wahrscheinlichkeit auch nur annähern, kämen wir wohl zu nichts anderem mehr in diesem Leben; und eben deswegen befürchten wir, dass dir das die Logik-Polizei nicht so leicht durchgehen lässt.“
Die hat mich ständig im Visier, sowieso; was mir ehrlich gesagt gar nicht so unlieb ist, zwingt mich das doch, die Zusammenhänge im Blick zu behalten.“
„Was auf die Dauer nicht reichen wird, wenn dabei nicht bald der Zusammenhang zustande kommt, der große, du weisst schon – der erst möglich wird, wenn man klarkommt mit dem, was man im Jargon der Real-Technik den Meta-Nexus nennt. Der das Real-Gefüge überhaupt erst zum Gefüge macht.“
„Der Meta-Nexus – ha!“
„Wir müssen ja nicht gleich alles wissen. Aber so ein bisschen Aufklärung darüber könnte nicht schaden …“
„Dazu müsste man auf Subnum gehen. Und dazu bräuchte man wiederum Cogito. Und dazu müsste man mit A2X27 umgehen können. Und so weiter. Lauter Programme, die nur MDOs zugänglich sind.“
„Aber bist du denn nicht MDO?“
„Nein!“
„Woher weisst du dann so viel über das Spiel?“
„Recherche. Ist ja nicht so, dass unser USchell über all die Jahre in der Technikfolgen-Abschätzung zum Thema Real-Technik gar nichts in Erfahrung gebracht hätte; und es laufen diesbezüglich nun mal alle Fäden in diesem Spiel, in Flysh, zusammen.“
„Das heisst ja wohl: in Schells Bureau. Denn woher wüsstest du sonst, was TFA-Agent USchell alles in Erfahrung gebracht hat?“
„Ich weiss es von woanders. Vielleicht denke ich’s mir auch nur aus. Jedenfalls, was in Schells Bureau läuft – keine Ahnung. Da bin ich aussen vor. Ist mir wie ewig schon verschlossen.“
„Dass da aber die ganze Zeit etwas läuft, heisst das nicht doch, dass du schon MDO –?“
„Nochmals: NEIN, bin ich nicht.“

Hier erinnere ich mich an eine Unterredung mit Forty Operas, in der es auch kurz um das multi-dimensionale Operating ging:
„Aber warum ich, Forty? Weshalb soll ausgerechnet ich das machen?“
Schweigen.
„Das könnte doch jeder machen!“
Schweigen.
Ach, deshalb – weil ich jeder bin.
Diese immense, diese undenkbare Verantwortung, die es bedeutet, mich als jeder wahr zu nehmen: dass ich mich damit nämlich auch als jeder wahr zu geben hätte, – schon die bloße Möglichkeit derartiger Verantwortung verursacht mir ein solches Gefühl der Schwäche und dabei eine solche Klarheit über das Unvermögen meiner Denkkraft, meiner Moral, ja überhaupt die ganze Unzulänglichkeit meiner Person, dass mir die Vorstellung: ich als MDO, wie der reinste Witz erscheint.
Oder ist etwa die Arbeit eines multi-dimensionalen Operators gar nicht eine so gewaltige, wie ich mir vorstelle?
Der – oder die – MDO, obwohl er – oder sie – mit im Spiel ist und also auch den Spielregeln unterliegt, kann sich, wann immer es ihm – oder ihr – nötig erscheint, an jenen Ort versetzen, aus dem der ursprüngliche Plan für das Spiel einmal hervorgegangen ist und seitdem hervorgeht, immernoch, ständig. Denn was im Spiel geschieht, hat Konsequenzen für den Plan, immerzu. Das Wo – von einem Ort zu sprechen, wirkt hier komisch –, das Wo also, es ist, so stelle ich mir vor, die Sphäre der Allwissenheit. Und eben diese Sphäre ist es, wie Agent USchell herausgefunden hat, von der ein Team aus sogenannten Kreatoren eine aussergewöhnlich realistische Simulation hergestellt hat, Das Reich genannt; und der daran beteiligte Schell ist natürlich der mit dem R, der Reichs-Schell. Und da dieses „Reich“ die Sphäre der Allwissenheit so aussergewöhnlich realistisch simuliert, ist es auch für MDOs nicht leicht zu durchschauen. So ist das „Reich“ für einen unerfahrenen MDO die Falle, in die er nicht nur tappen kann – so USchell’s Einschätzung aus Sicht der TFA –, in die er sogar tappen muss, nämlich zur Prüfung seiner Reife.
Es gibt also die echte Allwissenheit, das sozusagen wahre Reich, und dem gegenüber ein falsches Reich: die scheinwahre Allwissenheit. Was das heisst, ist zu ermessen, sobald das Reich, und zwar das wahre wie das falsche, als die Sphäre verstanden wird, in der das Spiel nicht gespielt, sondern ersonnen, erfunden, gemacht wird; denn dann ist klar: im Reich sind die Spieler zuhause, das Reich ist für sie die eigentliche Realität – auf welche aber das Spielgeschehen zurückwirkt! Das heisst, das Spiel verändert die eigentliche, die heimatliche Realität, und weil somit die Spieler gleichzeitig die Kreatoren des Spiels sind, ist es von größter Bedeutung, das Scheinbare vom Wirklichen unterscheiden zu können, das Spiegelbild vom Gespiegelten, oder eben: das Simulierte als solches zu durchschauen. Das zu lernen, darin erfüllt sich überhaupt der Sinn des Spiels.

„Wenn du also nicht MDO bist, was bist du dann? Wie heisst dein Status?“
„Gute Frage; zur Zeit für mich die aktuellste … Ich weiss es nicht.“
„Dann sage uns: Wieviele spielen denn überhaupt Flysh? Das heisst lohnt sich das Spiel? Was ergibt die Marktanalyse?“
Ist das ein Verhör? Verhört mich hier etwa die Logik-Polizei? Detective Brains? Hallo? Hören Sie mit? Natürlich antwortet der nicht. Einen immer schön im Ungewissen lassen; darüber vor allem, wessen man verdächtigt wird. Egal. Ich verrate hier ja nichts Geheimes. Und so verhört zu werden, wer weiss, hilft vielleicht, meinen Status zu klären …
„Ensprechend der enormen Anzahl der mobilen Online-Geräte dürften die, die solche Geräte nicht benutzen, die Offliner, nur schätzungsweise ein Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Und wohl nur Offliner spielen Flysh; also quasi niemand spielt es. Diesen Eindruck jedenfalls habe ich manchmal. Womöglich sind es aber auch mehr als gedacht; man weiss es nicht. Viele hingegen, sehr viele, soviel ich weiss, sind mehr oder minder in das digitale Flysh verwickelt, in die Games; nicht unter „Flysh“ natürlich, sondern unter unzähligen anderen Namen.“
„Wie kommt dann jemand dazu, das nicht-digitale Flysh überhaupt zu finden?“

Die Ebene, auf der man ins Spiel einsteigt, heisst für jeden: Meine Wirklichkeit. Nämlich dass das fragwürdig ist, was ich als das Wirkliche erlebe; dass das nicht die Wirklichkeit ist; dass man also seine Wirklichkeit nicht mehr mit dem verwechselt, was objektiv wirklich ist – das ist der Anfang, die initiale Erkenntnis. Sobald das soweit verstanden ist, dass man es nicht mehr vergisst, dass es vielmehr zum ständigen Bewusstsein wird, bemerkt man, dass damit das Spiel gerade einmal begonnen hat. Man schreitet voran, weiss jedoch: Immer ist eigentlich Anfang. Dann spielt der Unterschied zwischen meiner und der Wirklichkeit auf einmal gar keine Rolle mehr, dafür die Frage, was ist das überhaupt: Wirklichkeit? Was ist das, was wirkt? Es wird klar, man erlebt nur Wirkungen; lebt nur in der Wirkung; ist selbst nur ein Bewirktes. Das ist die schrittweise Erfahrung in dem Spiel. Und nichts und niemand hindert mich an dieser Erfahrung des Erkennens: die Erkenntnismöglichkeit ist grenzenlos, im Prinzip; nur in realiter natürlich nicht: ich begrenze mein Erkennen, ja bin die Grenze selbst. Und klar, dass hier das Spiel den Spieler in die Selbsterkenntnis überführt, und klar wohl auch, dass es da ernst genug für jeden wird, um sich zu fragen, was denn daran noch „Spiel“ sein soll.
Wer spielt denn hier eigentlich?, ergibt sich daraus als die notwendige Frage. Und dies ist ein wichtiger Moment, der wichtigste vielleicht; wo man begreift: Ich spiele ja gar nicht – der eigentliche, der wirkliche Spieler ist ein Anderer. Ich bin nur der Ausführende, derjenige, durch den dieser Andere, der eigentliche Spieler, sei er „da oben“ oder „da draussen“ irgendwo, mir jedenfalls unsichtbar, „hier unten“ oder „hier drinnen“ sich verwirklicht, und zwar indem er mich ausführen lässt, was seiner Rolle in dem Spiel entspricht. Kurzum, man begreift sich als Werkzeug, oder als Stellvertreter, oder als Avatar, als eine Hülle sozusagen, und als unfrei also.
So wie es Grundbedingung eines jeden Spieles ist, zu wissen, dass es ein Spiel ist, gehört auch im Falle von Flysh dazu, sich dabei bewusst zu sein, eine Rolle zu spielen; nur dass man sich hier seine Rolle sehr umfassend vorzustellen hat, als eine „Hülle“ eben, die nicht einem selbst, sondern einem Anderen dient. Und dies als Tatsache zu akzeptieren, fällt einer mit Ich-Bewusstsein ausgestatteten Persönlichkeit verständlicherweise nicht leicht. Verständlich dann auch, dass man wissen will, ja wissen muss – nämlich um seine Rolle richtig und sinnvoll spielen zu können –, wen man da „umhüllt“, das heisst von wem man sozusagen dirigiert wird. Und hier ist der Punkt erreicht, an dem viele nicht mehr weiterspielen wollen, oder können, und lieber aussteigen; an dem es für manche aber erst spannend wird. Denn auf diesem Stand der Bewusstheit kommt unweigerlich das Freiheitselement ins Spiel: Man stellt sich dem Gegebenen entgegen, wird Opponent, verwirft das ganze Regelwerk und versucht sich in eigenem, selbständigem Spiel; oder man versucht, mit dem Anderen – oder mit dem, was einen dirigiert – in Übereinstimmung zu kommen. Insofern ist man frei an dieser Stelle, und allerdings auch in Gefahr. Denn wie auch immer die Entscheidung ausfällt, kann man ab hier, wenn man nicht aufpasst – geistig sich nicht wach erhält, heisst das –, in eine Endlosschleife geraten, ein sogenanntes Happy Endless, das Schlimmste im Grunde, was einem in Flysh passieren kann.
„Du hast dich für letzteres entschieden, für den Versuch der Übereinstimmung: dich mit dem Anderen zu identifizieren, das heisst – mit mir. Und es ist aus meiner Sicht natürlich die richtige Entscheidung. Doch ob es auch in Wirklichkeit die richtige ist? Das ist noch nicht entschieden, noch lange nicht.“
„Ich weiss. Das wird sich erweisen, indem sich unsere Übereinstimmung verwirklicht. Und diese Prozedur, Body Job genannt, ist ja in vollem Gange.“

Wann immer vom Body Job die Rede ist, wird die Logik-Polizei besonders hellhörig. Denn das betrifft ein Gebiet, das im Flysh-Spiel von zentraler Bedeutung ist: die Verkörperung; ein Gebiet, auf dem es bei der Erforschung, der Beschreibung und erst recht bei der Handhabung so garantiert und prompt wie auf kaum einem anderen Gebiet in diesem Spiel zu Widersprüchen, Missverständnissen und Unwahrscheinlichkeiten kommt. Weshalb sich gerade hier die Beaufsichtigung durch die Logik-Polizei als unverzichtbar erweist; wobei es in der Regel schon reicht, zu wissen, dass sie die Ausführungen, die theoretischen wie die praktischen, permanent kritisch verfolgt.
Aktiv einzugreifen hat die Logik-Polizei immer dann, wenn irgendwo im Real-Gefüge die sogenannte Wahrscheinlichkeitsregel nicht eingehalten wird. Diese wichtige Regel soll verhindern, dass die Kreatoren pfuschen, das heisst Dinge ins Spiel einbauen, die unerklärlich sind und die man also, da sie dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit widersprechen, einfach als Wunder hinnehmen müsste. (Immer verdächtig zum Beispiel sind solche magischen Artefakte, wie sie oftmals Gegenstand der Livermore’schen „Berichte“ sind; die nur deshalb von der Logik-Polizei toleriert werden, weil sie der Kategorie Entertainment zugehören.)
Wo also Ungereimtheit, logischer Widerspruch, Zusammenhangloses auftaucht, prüft die Logik-Polizei, ob es sich um einen ABR-Fall handelt, das heisst um einen Verstoß gegen die sogenannte Anti-Bullshit-Regel, und auch, ob es jeweils ein versehentlicher oder ein bewusster, vorsätzlicher Verstoß ist. Und sie kann überall eingreifen, auf jeder Ebene, denn sie verfügt über einen MDO, und zwar in Gestalt von Detective Brains.

Es war ein Sonderfall, mit dem vor über dreissig Jahren das Flysh-Spiel begann, als nämlich Kick Kimura sich als eine Romanfigur erkannte. Dieser Sonderfall verstiess damals gegen keine Regel, da dann erst, durch das Spiel, das Regelwerk entstand; und dann es auch erst nötig wurde, die Logik-Polizei zu etablieren.
Als viele Jahre später sich etwas ereignete, das ähnlich einschneidend war und auch gegen keine bestehende Spielregel verstiess, war das zwar ebenfalls ein Sonderfall, wurde aber nicht als solcher, sondern als ein „Fall Ypsilon“ bezeichnet – das sogenannte Ereignis nämlich: Schell’s Entdeckung von Schells Bureau im Internet.
Seither versteht man unter einer Y-Situation eine solche, in der das Regelwerk des Spiels so fundamental erschüttert, so grundsätzlich in Frage gestellt ist, dass jeder Spieler, wenn er das Spiel fortsetzen will, sich wie an einer Weggabelung entscheiden muss für entweder den einen oder den anderen Weg.
In der ursprünglichen Y-Situation – die damals noch „Sonderfall“ hiess – traf Kimura die Entscheidung, aus seiner Entdeckung die volle Konsequenz zu ziehen, nämlich, um seine Existenz zu retten, Einfluss zu gewinnen auf den Roman, in welchem er eine Figur war, und das heisst, seiner fiktiven Existenz soviel Realität wie nur irgend möglich zu verschaffen. Wobei ihm natürlich klar war, dass so wie die Entdeckung seiner Romannatur, ebenso und erst recht auch die Entscheidung, sein Schicksal, wenn schon nicht selber bestimmen zu können, so doch zu beeinflussen, eine starke Rückwirkung auf den Autor des Romans haben musste. Und in der Tat nahm dann von jener Ur-Y-Situation das Geschehen dahingehend seinen Lauf, dass irgendwann sich eben eine zweite Y-Situation ereignen musste: dass der Autor Schell, der eine, indem er Schells Bureau entdeckte, sich selber, weil selbst nun zur Romanfigur geworden, darin wiederfand. Während er für uns, die Leser, auch gar nicht mehr der eine ist, wir ihm vielmehr in jener dreifachen Gestalt begegnen: als entweder HSchell oder RSchell oder USchell.
Hier kommen die Body Jobs ins Spiel. Über die weiss Brains, der Detektiv, so viel wie wir darüber wissen, und wahrscheinlich noch ein bisschen mehr. Der eine Body Job, der sich spontan in Istanbul ereignete – die Fusion von USchell und Kimura –, ist von der Logik-Polizei, sprich von Detective Brains, zwar akzeptiert worden, doch bedeutet das nicht automatisch, dass nach diesem Muster nun alles akzeptabel ist. Noch ist Brains in dieser Sache zu keinem endgültigen Schluss gekommen; zu vieles ist da zu bedenken. Doch schon bahnen sich weitere Fusionen an, zwei mindestens – bei H- und bei RSchell –, und was Brains – und uns – bereits klar sein dürfte: wenn die Folgen eines Body Jobs schon unabsehbar sind, wie unabsehbar erst, was aus drei solcher „Jobs“ alles erfolgen kann … So dürfte hier schon abzusehen sein, dass eine nächste große Y-Situation unausweichlich ist.

Detective Brains … Allgemein beliebt ist der ganz sicher nicht, nirgendwo. Auch unter seinen Polizei-Kollegen, das heisst bei Interpol, hat er keine Freunde. Man findet ihn humorlos, kalt, unmenschlich, ja sogar irgendwie bedrohlich; und seine sehr hohe Erfolgsquote, seine aussergewöhnliche Effizienz als Ermittler, macht ihn nur noch unbeliebter; auch bei seinen Vorgesetzten, denen seine Effizienz gar nicht in den Kram passt; die ihn sogar deswegen gern los wären, dies nur bisher noch nicht geschafft haben; einfach weil seine vorausberechnende Intelligenz der ihren tatsächlich haushoch überlegen ist. (Dass es ihm Freude bereitet, diese Intelligenz spielen zu lassen, kann man sich vorstellen; doch welche Art von Freude, das ist nicht ohne weiteres vorstellbar.)
Und übrigens ist es gar nicht Strenge oder polizeilicher Übereifer oder etwa eine rigide Auslegung der Gesetze, die unangenehm an ihm auffallen. Was die Leute provoziert, ist sein Gleichmut, dieses offenkundige Desinteresse allem gegenüber, was normale Menschen aufregt; und dass er immer nur das eine will, und das mit nervtötender Beharrlichkeit: Erklärungen. Was die Erklärung wiederum dafür ist, dass man ihn einst auf diesen Posten abgeschoben hat, auf dem er als Ein-Mann-Abteilung de facto nichts weiter zu tun hat, als dieses eine Spiel namens Flysh im Auge zu behalten; in der Hoffung, es sei dies der unwichtigste Posten überhaupt bei Interpol; ein Posten, auf dem er deren Cyber Crime-Aktivitäten nämlich gerade da, wo man ganz und gar nicht auf Erklärungen erpicht ist, nicht mehr in die Quere kommen würde – so, oder ähnlich, hatte man in der Chef-Etage wohl gedacht und damit also dies spezielle Spiel ganz anders eingeschätzt als der Detective. Welcher diesen Job als „Logik-Polizei“ nur widerwillig auf sich nahm, zumindest so wie’s aussah. Doch sieht ja alles widerwillig bei ihm aus. Wie sehr es ihn im Stillen freute, drückte er so aus: „Wenn’s niemand andern dafür gibt, okay, mach ich’s.“
Seitdem, und das ist lange, lange her, hält er diese besondere Position im Spiel, und wenn er generell auch alle stört, so weiss doch jeder: Brains, die Logik-Polizei, muss sein. Denn man kann sich denken: Zu wissen, es gibt sie, und sie greift ein, wenn’s sein muss, hat dazu geführt, dass alle, die als Kreatoren aktiv sind, das heisst an Flysh bewusst arbeiten, sich eine Selbstbeaufsichtigung angewöhnt haben, nach der Devise: Nur Brains nicht provozieren! Allerdings weiss man auch, dass der nie vorschnell eingreift; dass er sehr gründlich prüft, sich für jede Untersuchung Zeit lässt, abwartet, wie sich die Dinge in puncto Wahrscheinlichkeit entwickeln; dass er allen, auch sich selbst, großen Spielraum lässt, und niemals, niemals in Eile ist.
Dabei ist einem Durchschnittsverstand wie meinem im Voraus unberechenbar, was sich aus der Logik Brains’ ergibt; das – ob sie eingreift oder nicht – erschliesst sich immer erst im Nachhinein. Wie oft ich mich schon bei diesem oder jenem fragte: ob das wohl geht? – und schon fest damit rechnete, dass eingegriffen würde –, und doch unbehelligt blieb … Deshalb vielleicht, weil es Brains auch oft den anderen MDOs überlässt, logische Korrekturen vorzunehmen? Oder weil seine Aufgabe ihm schon längst über den Kopf gewachsen ist, das heisst er die Logik womöglich gar nicht mehr im Griff hat?
Wie sieht’s zum Beispiel aus mit jenem Exilanten-Anzug, dem Exoot? Wie kann so ein Ding regelkonform sein? Und was ist mit all den anderen Erfindungen von Onkel Mo, dem Thema MoTech überhaupt? Was mit dem Raumschiff, in dem Azuma zur Erde kam? Was mit Azumas mysteriöser Auflösung? Und so weiter – was mit Rosa Aschenheim? Was mit dem Jenseits? Und was noch alles, wo man sich fragen müsste, wie’s da um die Wahrscheinlichkeit steht … Ganz zu schweigen von jenem Mord ohne Leiche, betreffend den Fall „Liebestod“, in dem Brains seit bald dreissig Jahren schon ermittelt …
Dass er bei all diesen doch eher unwahrscheinlichen Dingen nur selten eingreift, ist erstaunlich, und ich kann es mir nur so erklären:
Was da alles für einen Normalverstand wie den meinen so disparat, so irgendwie nebeneinander erscheint, ist in seinem Denken so angeordnet, dass es wechselseitig sich erklärend, sich also gegenseitig stützend, einen solchartigen Zusammenhang ergibt, in dem ein Einzelnes immer nur vorübergehend unwahrscheinlich ist, nur solange nämlich, bis es als ein missing link, ein bisher fehlendes Puzzle-Teil, erkannt wird, welches einer anderen Einzelheit, die auch nur als solche, das heisst isoliert betrachtet, unwahrscheinlich erscheint, die nötige Wahrscheinlichkeit verleiht, um im Sinne einer Fortentwicklung einen Zuwachs an Zusammenhängendheit zu ergeben, oder an Bedeutungstiefe, könnte man auch sagen.
Kurzum, Brains – alias die Logik-Polizei – überblickt als multi-dimensionaler Operator das Ganze und weiss, da er die Gesetze der Entwicklung kennt, auch über das Ziel des Spiels Bescheid, das wahre Ziel, das jenseits der Spielumgrenzung liegt. Und da seine Arbeit als MDO sich nicht aufs Überblicken beschränkt, sondern gerade darin besteht, dem Überblick einen Sinn dadurch zu geben, dass er der nie nachlassenden Tendenz der Chaotisierung entgegenwirkt, indem er das Geschehen möglichst in seiner ganzen Bandbreite in einen auf das Ziel sich hinordnenden Zusammenhang bringt, kann man also wohl sagen, dass er wirklich sehr viel zu tun hat. Aber das liebt er ja. Und es sind besonders die Verkomplizierungen – sogar solche, die sich daraus ergeben, dass die eigene Behörde ständig seine Ermittlungen zu sabotieren versucht –, die ihm das Vergnügen im Grunde nur vergrößern.
Dass er übrigens keine Akten braucht, weil er zu jedem seiner Fälle sämtliche Fakten im Kopf hat, ist verständlicherweise manchen unheimlich, und man muss jenen Kreatoren, die gegenüber Brains ablehnend eingestellt sind, durchaus recht geben, wenn sie sagen, mit seinem phänomenalen Gedächtnis verstieße allen voran doch er selbst gegen die Wahrscheinlichkeitsregel. Und immer wieder wird auch der Verdacht laut, dass die Chaotisierung, die seit jeher das Spiel bedroht, tendenziell von diesem unangenehmen Detective ausgeht. In Wahrheit, denke ich, bezweifeln wir deshalb die Autorität der Logik-Polizei – fragen deshalb immer wieder misstrauisch, wem dieses detektivische Superhirn eigentlich unterstellt, wem wirklich Rechenschaft pflichtig ist –, weil es uns auf die Nerven geht, ständig unsere Einfälle lang und breit erklären zu müssen; weil es uns solche Mühe kostet, zum Beispiel zu erklären, warum der Body Job keineswegs ein launiger Einfall ist, sondern geradezu als das Herzstück der Real-Technik verstanden werden muss …

Brains hat bis hierhin aufmerksam gelauscht. Er sitzt an einem der Traumstrände von Fair Island, bequem in einem Klappsesselchen auf der Wasserlinie, die Füße umspült von den lauen, schaumig prickelnden Ausläufern der Brandung, sein gelbes Hemd leicht flatternd in der milden Brise, sein Kopf von einem Strohhütchen beschattet. Der hübsch von kleinen weissen Cumuli betupfte Himmel blau, der Strandbetrieb ringsum zwar durchaus noch vorhanden, jetzt jedoch am späten Nachmittag in angenehmstem Abstand. Die Überschrift ganz unverkennbar: Brains im Urlaub; eine Postkarte sozusagen, die Botschaft an alle: Sehr schön, sehr erholsam hier; bin völlig normal.
Denn Detective Brains, wiewohl die Unterscheidung von „dienstlich“ und „privat“ für ihn noch nie eine Rolle gespielt hat, pflegt den vertraglich festgesetzten Mindesturlaub stets pflichtgemäß zu absolvieren, zumindest pro forma, einfach um kein Misstrauen zu erregen; diesmal auf Fair Island, und zwar aus einem im wörtlichsten Sinne naheliegenden Grund: weil diese Insel zum Andrianischen Archipel gehört und also nicht weit der Hauptinsel Andria liegt; wo er dieser Tage in Babaal, der Hauptstadt, sowieso dienstlich zu tun hat.
Wo er in diesem Moment allerdings wirklich anwesend ist, hängt ohnehin von keinem geographischen Ort ab. Wovon es abhängt, heisst Subnum, oder besser: in subnum, denn das ist ein Zustand, der wie ein Ort erscheint; ein fester, real gesicherter Ort – wie diese Stelle an einem Sandstrand auf Fair Island zum Beispiel –, ohne den man nicht dort sein könnte, wo Brains – genauer: sein Geist – gerade anwesend ist, im Meta-Nexus nämlich. Und deshalb kann man sich dort nicht aufhalten, ohne in subnum zu sein, weil es auf menschliches Empfinden, auch auf das eines MDO, auch auf Brains also, über alle Maßen gewaltig wirkt. Wie der Ozean, sagt man. (Der Ozean von innen, versteht sich.) Wobei übrigens das Gewaltige, sofern es einen nicht überwältigt, immer entweder den „pazifischen“ oder den „atlantischen“ Beigeschmack hat (bei Brains in diesem Falle den letzteren).
Aber noch etwas fand in diesem Zusammenhang bereits Erwähnung: Cogito. So nennt man im Umfeld der Real-Technik die Methode, den In subnum-Zustand herzustellen. Die, derer sich Brains bedient – es gibt auch andere solcher Methoden –, ist die Musik. Er hört sie nicht von aussen, folgt ihr vielmehr so, genau so, wie sie in ihm geschieht, so konzentriert, das heisst so schweigend wie nur irgend möglich; bis alles innere Geplapper völlig zum Erliegen kommt; und dann so weiter, und immer tiefer und tiefer schweigend. Bis das In subnum sich einstellt. Dann gibt es kein durch Assoziationen noch abgelenktes kleines Selbst mehr – dem der „Ozean“ nämlich sofort den Garaus machen würde –, sondern nur noch das diesem Ozean verwandte Ich, das nun sozusagen surft, präzise vom Meta-Nexus selbst dorthin geleitet, wo es jeweils hin soll. Man überlässt sich, könnte man auch sagen, der ganz großen, der objektiven Weisheit, vollständig darauf vertrauend – in Ganzkörpereinsatz, mit Haut und Haaren sozusagen –, dass es sie gibt, diese Ganz Große Objektive Weisheit, und dass es sie nicht nur gibt, sondern sie als Idee des Realen sogar realer existiert als das Reale selbst, ja das Realste überhaupt ist. Anders als in solcher Vollständigkeit ernstgenommen ist die Ganz Große Objektive Weisheit, und damit auch der Aufenthalt im Meta-Nexus, gar nicht auszuhalten; anders ist sie einfach nur unglaublich, was soviel heisst wie nicht vorhanden – bestenfalls; wenn sie einen nicht sogar, im Falle sie nur halb oder gar nicht ernstgenommen wird, schwer beschädigt; oder einen in die Endlosschleife schickt. Oder im Wahnsinn untergehen lässt.

Verweilen wir noch ein wenig bei Detective Brains, wirft das doch, zumindest exemplarisch, Licht auf die Arbeit eines MDO, die ja für unsere Erzählung von einiger Bedeutung ist.
Bei der Cogito-Methode, derer sich Brains bedient, um das In subnum herzustellen, kann er nicht irgendeine Musik wählen, nur eine solche, die er bis ins Letzte auswendig kennt. Denn sie funktioniert nur, wenn sie geschieht, das heisst in ihm, und zwar kein bisschen weniger real, als tönte sie akustisch von aussen an sein Ohr; und dass sie so geschieht, dafür ist das Bis-ins-Letzte-Kennen die wichtigste Voraussetzung.
In diesem Falle ist, was geschieht, die zweite der drei Violin-Partiten von Johann Sebastian Bach, genauer deren letzter, fünfter, aussergewöhnlich langer Satz, eine Ciaconna, deren besondere Merkwürdigkeit darin besteht, dass sie so oft endet und wieder neu beginnt, dass man ihr das schliessliche Ende nicht glaubt, oder anders gesagt, sie den paradoxen Eindruck hinterlässt, als habe sie sich wie zu einer Art endgültigem Anfang geschlossen. Und weil darin für Brains irgendwie das Geheimnis allen Beginns verschlüsselt erscheint und dadurch das Gefühl in ihm auslöst, gleich kommt’s!, jetzt entschlüsselt es sich mir!, beschleunigt sich jedesmal, wenn er den Schlusssatz dieser Partita Nr. 2 „geschehen lässt“, sein Herzschlag; eine Wahrnehmung, die ihm zuverlässig gegenwärtig macht, dass er gerade in subnum ist, es hier also nicht um Musikgenuss geht, und nicht um die Konzentration um ihrer selbst willen, und gar nicht um ihn und sein Erleben; dass das alles – seine Person, die Konzentration, die Violin-Partita, das Subnum – nur Mittel sind, die Mittel nur, um zu ergründen, was in diesem Augenblick der Meta-Nexus „will“.
Solche Wahrnehmungen wie die seines Herzschlags, solche also, die ihn warnen, sind nicht überall, wo er in den Meta-Nexus eintaucht, notwendig; hier aber ist er besonders darauf angewiesen, sich das Subnum zu vergegenwärtigen, denn diese Umgebung, weil sie so angenehm, so einlullend ist, birgt in hohem Maße die Gefahr, sich im Cogito, in der Methode, zu verlieren – das heisst in seinem Falle: im Geschehenlassen der Musik –, und erfordert also in ebenso hohem Maße die konkrete Selbstwahrnehmung, die „Erdung“, das „Grounding“.
Von jenen Werken aus der Violin-Literatur, die er gut auswendig kennt – sie deshalb so gut kennt, weil er die Geige so sehr liebt –, hat er diese spezielle Ciaconna also gewählt, weil er sicher weiss, dass sie ihn aufregt; dass sie, indem sie sein Herz schneller schlagen lässt, ihn dazu aufruft, bewusst Gleichmut zu bewahren. Dass dergleichen so wie erwartet auch gelingt, ist niemals garantiert. Jeder Aufenthalt im Meta-Nexus birgt das Risiko, dass die Methode – weil vielleicht plötzlich defizient geworden – versagt; dass man damit das jeweilige Subnum – den Boden unter den Füßen – verliert und damit im Meta-Nexus – im Geist-Ozean sozusagen – untergeht. Kein Trip also, den man einfach so unternimmt, ohne zu wissen, warum und wohin; nicht aus Neugier etwa oder zum Spaß; und nie ohne sich zuvor der Stabilität des Subnums zu vergewissern.
Das Subnum ist umso zuverlässiger stabil, je weniger verlockend exotisch es ist, und entsprechend bietet, wie gesagt, diese spezielle Umgebung, Fair Island, wenig Verlass. Leicht kann man hiervon süchtig werden, von dem Klima, den Düften, der allgemeinen Unbeschwertheit. Im Inselinnern gibt es Dschungel, Flüsse, Wasserfälle; überall schwirren die Kolibris und gaukeln die prächtigsten, seltensten Schmetterlinge in großer Zahl; in den von blühenden Parks umgebenen Grand Hotels konzertieren die gefragtesten Musik-Ensembles der Welt, fast jeden Abend eines; und da das hiesige nautische Museum ein besonderes Archiv alter Logbücher beherbergt, kreuzen hier die interessantesten Typen auf, Schatzsucher, und sind entsprechend die Marinas ständig voll der tollsten Yachten. Und die Casinos nicht zuletzt, die man sich stilvoller kaum vorstellen kann, vermögen auch aus denen, die noch nicht spielsüchtig sind, Spielsüchtige zu machen.
Auch deshalb kommt man nach Fair Island gern, weil jeder hier inkognito, das heisst mal „ganz normal“ ist, und also sich auch die Berühmtesten und Geldmächtigsten hier zwanglos jenseits aller offiziellen Protokolle treffen können. Und sicher ist man, weil Zugang nur hat, wer entweder sehr vermögend ist oder über eine seltene und daher unbezahlbare Kompetenz verfügt (so wie unser Interpol-Detective). Und wodurch ist man hier geschützt? Etwa durch ein besonders effizientes Kontrollsystem? Das wohl auch, zusätzlich; vor allem jedoch durch Propaganda, durch all die Filme nämlich, die jeder kennt: in denen irgendein paradiesischer Ort solcherart realistisch dargestellt wird, dass die Realistik eindeutig als gestellt, als inszeniert erscheint, sodass kein vernünftiger Mensch so ein Paradies für wirklich real halten kann. Was man nennt: Die Realität hinter ihrer Inszenierung verbergen (eine Manier, die es auch leider möglich macht, dass durch das Inszenieren das Verborgene sich auflöst).
Deswegen, kurz gesagt, haben hier normale, das heisst von der Propaganda normal geprägte Menschen, Normalmenschen, keinen Zutritt: weil sie ihn nicht finden; weil für sie Fair Island gar nicht existiert und sie also gar nicht erst auf die Idee kommen, es besuchen zu wollen; weil ihnen die entsprechende Filmserie, wenn sie genügend unterhaltsam ist, vollkommen reicht.
Insofern ist übrigens auch auf die unerschöpfliche Kraft jenes uralten, immerzu aktualisierten Mythos Verlass, welcher uns lehrt, dass es ein Paradies, in dem man absolut sicher wäre, nicht gibt und geben kann, einfach weil alles sich bewegt, alles in Entwicklung ist. Das vergessen Normalmenschen vor lauter Normalität nur allzu leicht, im Unterschied zu jenen, die als „Sondermenschen“ zu Fair Island nicht nur Zutritt haben, denen die Insel – und ja nicht nur diese – schlicht gesagt gehört. Und die gerade dieses nicht eliminierbare Quantum an Unsicherheit, an potentieller Lebensgefahr, als besonderen Reiz empfinden. Wodurch erklärlich ist, warum es hier von Hochstaplern geradezu wimmelt. Hier als ein solcher aufzutreten, allein das schon zeugt von Mut und einiger Begabung, sodass Hochstapelei, auch wenn sie auffliegt, mit Gnade rechnen kann; ja dass die Kategorie „enttarnter Hochstapler“ gar einem Status gleichkommt. Eigentlich sogar, könnte man überspitzt auch sagen, stapeln hier alle hoch, und die Beurteilung im einzelnen Falle hängt nur davon ab, welche Definition von Hochstapelei gerade die allgemein gängige ist.
Jedenfalls stelle man sich Fair Island alles andere als langweilig vor.

Was Detective Brains nun insgesamt zum Thema Body Job vor Augen hat, ist kurz gefasst in etwa dies:
Die Schell-Vereinung, bisher nur eine Theorie, erscheint nun plötzlich als ein ausgereifter Plan, an dessen Verwirklichung, wie’s aussieht, ernsthaft gearbeitet wird.
Nachdem schon die Dreiteilung Schells als logisch nachvollziehbar und also zulässig eingestuft worden war, spricht im Prinzip nichts dagegen, auch die geplante Wiedervereinung Schells zu akzeptieren; und der erste Schritt dazu ist ja mit dem Body Job von USchell und Kick Kimura bereits vollzogen worden – allerdings ohne dass es Brains hatte kommen sehen; was ihn aber auch nicht wundert, denn bislang hatte er noch keine Sache, in die Kimura involviert war, kommen sehen.
Die sich anbahnende Vereinung Schells ist also nicht das Problem; was bei der Logik-Polizei Alarm ausgelöst hatte, sind die undurchsichtigen Begleitumstände, vor allem, dass nun plötzlich ein vierter Schell im Spiel ist: Tschell. Dieser ist in Krakl aufgetaucht, jener altdeutschen Kleinstadt, die für RSchell das inoffizielle Zentrum seiner Real-Kreation und damit die Hauptstadt sozusagen dessen ist, was er unter dem Reich versteht; welches er – eher unbewusst als insgeheim – für sein Reich hält.
So wie USchell immer sehr viel unterwegs war, und zwar in Ureal, um für die Technik-Folgen-Abschätzung seinen Horizont an Wissen und Erfahrung zu erweitern, ist auch RSchell meistens unterwegs gewesen, um, so könnte man es nennen, sein „Reich“ auszudehnen; dies nun allerdings seit längerem schon nicht mehr, da er in Babaal in Regierungsgeschäfte geraten war und damit in ein Chaos, das er inzwischen nicht mehr beherrscht, das ihn daher festhält in Babaal. Deshalb Krakl, allzu lange nun schon ohne die Manipulation durch RSchell, wie verwaist daliegt, schutzlos, unbedeutend, schon gar nicht für irgend jemanden noch „Reichshauptstadt“, und damit de facto ausgeliefert jeglicher neuen Interpretation. So betrachtet, das ist klar für Brains, hätte Tschell ja gar nirgendwo sonst auftauchen können.
Hinzu kommt: Bent.
Der dürfte eigentlich nicht da sein. Nach dem, was bekannt ist, hat er damals in Las Vegas den Weg nach Shoot-Out City genommen. Dorthin geht man, um sich zu entleiben, das heisst sich aus der Welt beziehungsweise aus dem Spiel schaffen zu lassen. Wo sich demnach Bent befinden müsste, heisst hinterm Großen Spiegel oder auch: im Jenseits (des Spielfeldes). Das ist die eine Ebene, die auch für Detective Brains tabu ist, nämlich diejenige, so darf man vermuten, auf der die Spieler als solche, das heisst real sich befinden. Daher diese Ebene hier vorläufig nur einfach „Jenseits“ genannt werden kann, wird sie doch verdeckt von etwas, das bisher noch nicht bis zur Beschreibbarkeit erforscht werden konnte.
Dass es jemandem gelingt, den Großen Spiegel zu durchdringen – meist per Zufall –, kommt vor, jedoch nur äusserst selten; und dass jemand von dort zurückkehrt, ist auch schon vorgekommen. Aber dass einer als der zurückkehrt, der er vor dem Großen Spiegel war, der also erneut den Spiegel durchdringt, von der anderen Seite aus, von hinten sozusagen, und dabei unverwandelt bleibt, das heisst als derselbe wiederkehrt – das hat es, soweit sich Brains erinnern kann, seit dem Bestehen von Flysh noch nie gegeben. Mag es woanders, zu anderen Zeiten, unter anderen Bedingungen, wohl schon vorgekommen sein, nicht aber im Rahmen des Flysh-Spiels. Daher es auch keine Regel gibt, die das explizit verbietet; dennoch es auf Seiten der Logik-Polizei natürlich Widerwillen erregt.
Aber noch hat Manes Bent nicht mehr Substanz als ein Phantom, und ob die Sache schliesslich von der Logik-Polizei als wahrscheinlich genug, das heisst als regelkonform eingestuft werden kann, wird wohl davon abhängen, wie dieser Bent sich in nächster Zeit macht; ob wirklich nachvollziehbar wird, dass es ohne ihn nicht geht; ob er also nur Phantom bleibt oder mehr aus ihm wird. Phantome just for fun wird Brains nicht auf die Dauer akzeptieren.
Und auch davon hängt es ab, wie Tschell sich macht; ob dieser –
Und hier wird der Plan ersichtlich: Bent würde durch einen Body Job mit Tschell durchaus an Substanz gewinnen – und Tschell doch ebenso. Und dieser würde nach der Body Job-Verschmelzung höchstwahrscheinlich wissen, was Bent erfahren hat über das, was hinter dem Großen Spiegel ist – das heisst wir würden – – übers Jenseits aufgeklärt! Eine sogar für Brains fast aufregende Aussicht.
Der Meta-Nexus zeigt an dieser Stelle, was eine Fusion per Body Job, so wie sie da in Krakl zur Zeit in vollem Gange ist, ermöglichen könnte: die Vereinung der drei Schells zu Einem und zugleich, dadurch bedingt, das In-Erscheinung-Treten von Bent und Tschell als Derselbe.
Und in noch weiteren Verästelungen zeigt sich dieser ganze Komplex:
Wie auch Amusio und Amuza zur Wiederherstellung des verlorenen König Azuma eine Vereinung durchzumachen haben; und wie gleich der einstigen Aufspaltung jenes Azuma dereinst auch der Jung-Schriftsteller (heute der Verfasser dieser Darstellung) sich aufspaltete in die zwei Romanfiguren Manes Bent und Linval Livermore; und wie schliesslich auch auf Meta-Ebene – repräsentiert durch klein-h und Groß-H – die Teilung stattgefunden hat um der Wiederganzwerdung willen.
Und drittens zeigt sich, wie er selbst, Brains, mit all dem in Zusammenhang steht, und also welcher konkrete Schritt seinerseits der nächste zu sein hat:
Während der eine der drei „Schell-Jobs“ – die USchell-Kimura-Fusion – als bereits vollzogen gelten darf, und der zweite „Job“ – HSchell’s Fusion mit Spetz Feynsinn alias Frau Doktor – schon quasi unaufhaltsam im Gange ist, hapert es, immernoch, beim dritten, bei RSchell’s Job, gar sehr; so sehr, dass ein Eingreifen der Logik-Polizei – hier allerdings im Sinne eines Nachhelfens – unvermeidlich erscheint.

RSchell glaubt immernoch, das Chaos sei zu meistern. Das glaubt man, solange man Angst vor dem Chaos hat. Ist man noch in dieser Angst und gibt sich doch dem Chaos hin, weil man meint, es nur so, durch Hingabe, meistern zu können, landet man so gut wie sicher in einer Endlosschleife, und genau das bahnt sich bei RSchell an. Das sieht Brains; er kennt es aus Erfahrung, so ist er selbst einmal in eine Endlosschleife geraten, damals das Brains-Kontinuum genannt. Damals lernte er, den Glauben, das Chaos sei zu meistern, aufzugeben. So erfuhr er, dass über die Angst vor dem Chaos nur das hinausführt: sich selbst zu meistern. Und wie im Chaos übrigens, so ist es auch im Meta-Nexus: Nur ohne diese Angst, nur gleichmütig, kann man darin bestehen.
Dass nicht das Chaos selbst, nur die Angst davor gemeistert werden kann, dazu muss diese Angst einem erstmal bewusst werden. RSchell ist sie noch nicht bewusst. Er ist noch cool, sieht das Chaos als lediglich ein Problem, wenn auch schon als das Problem.
Er hat genug von Babaal, will raus aus seiner Beteiligung an den undurchschaubaren „Regierungsgeschäften“, raus aus dieser „Scheinwelt“. Er sucht den Ausgang – was man dort die „Passage“ nennt –, sucht mit allen Mitteln, bereit, sich ins Ungewisse zu stürzen, sich dem Chaos, wie gesagt, hinzugeben. Wie kann er – über das hinaus, wovor er Angst hat: das Chaos – das wahre Problem erkennen: seine Angst davor? Wie bringt man ihm das Fürchten bei?
Das Chaos mag wohl das Böse sein und man muss, ja soll sich davor fürchten, dazu ist es da. Damit man Zuflucht sucht im Guten. Um das Gute als solches zu erkennen; als solches; nämlich nicht nur im Gegensatz zum Bösen, als welches es bloß ein Abstraktum ist, eine dialektische Funktion, nicht weniger relativ als das Böse und damit ebenso irreal wie dieses; das Gute vielmehr als wesenhaft, als real zu erkennen, das heisst als ohne Gegensatz, als das Absolutum jenseits der dualistischen Logik; es zu erkennen, kurz gesagt, als das, wodurch man selbst, verbunden mit jenem „Ozean“, dem Geist, über das dem Normal-, dem Gehirn-Verstand Erfassbare hinausreicht.
Wie also bei RSchell die Angst, die ihm noch nicht einmal bewusst ist, in Gleichmütigkeit verwandeln, und zwar auf die Schnelle? Denn wenn er vorher die Passage findet und so womöglich nach Matoxa gerät, dürfte das sein sicherer Untergang sein. Dann käme die Schell-Vereinung, wenn überhaupt, nur unvollständig zustande, und das wäre ungut, denn das käme einer Illusion gleich, und eine solche könnte nur zu einer nächsten, zu einer besonders beständigen, ja womöglich unauflösbaren Illusion führen, mithin zu einem zweiten Tod

Das ist an RSchell ja das Eigentliche: die Illusion. Nicht dass er sich für intelligent hielte – er findet sich nicht einmal schlau –, das muss man ihm zugute halten. Nur ist er zutiefst in der Vorstellung befangen, als Kreator von Realen sei er es, der auch das Real-Geschehen kontrolliere. Wo doch schon ein flüchtiger Blick in die Anthropologie lehrt, dass gerade diese menschliche Top-Illusion immer dieselbe Konsequenz hat: Chaos. Und wie der Mensch im Allgemeinen so auch RSchell: ahnt, ja weiss im Grunde, dass es so ist; tut aber – vor lauter Reichs-Illusion –, als wüsst’ er’s nicht. So weiss er zwar, dass nur der Body Job ihn aus Babaal herausbringt, sprich ihm die nächste Ebene öffnet, und weiss sehr wohl auch, dass man nicht bewusst darauf hinarbeiten kann, kommt jedoch nicht los von seiner Vorstellung, wie der „Job“ zu laufen hat. Weil er von der Vorstellung nicht loskommt, es sei dieses Verfahren namens Body Job ja überhaupt seine Erfindung. Weil er sich dieser Vorstellung gar nicht bewusst ist. Und so sucht er also für seinen Body Job, was man nicht suchen, sondern nur finden kann: den Anderen, oder: die Andere. Einen Body Job machen ja nun mal mindestens zwei.
Und die Zeit drängt.
Eine wichtige Voraussetzung dafür, Babaal verlassen zu dürfen, scheint sich bereits erfüllt zu haben: Der junge Axias Lemm könnte sein Nachfolger im Regierungspalast werden. Ferner ist er kurz davor, das refugiale System zu begreifen, ein Riesenthema … Und er trägt jetzt auch schon diesen eigenartigen Exilanten-Anzug, den Exoot …
Oder Rivera, sein Freund und Gegenspieler: jeden Augenblick könnte von dem ein Hinweis kommen, der ihm die Passage öffnet. Und was auch noch eine Versuchung für ihn darstellen dürfte, sind diese Dinger, die so schön Abkürzung versprechen, die Kapseln mit der Azuma-Substanz …

Dies jedenfalls sieht unser Detective im Meta-Nexus klar: wie akut nötig hier sein Eingreifen ist. Ein Brains aber lässt sich von derlei und natürlich auch davon nicht zur Eile zwingen.
Dass von Forty O noch Hilfe kommt, denkt er, ist unwahrscheinlich. Ausgerechnet jetzt zieht der Alte sich aus dem aktiven Dienst zurück … Und Murphy? Hatte nur soviel Zeit, kurz mal RSchell gegenüber mich ins Spiel zu bringen; dreist genug … Und er kommt zu dem Schluss: Gibt nichts anderes, um RSchell zu helfen, als ihm einen Anstoß in Richtung MDO-Level zu verpassen.
Damit zieht Brains sich aus dem Geschehen der Bach’schen Charconne zurück und beendet sein In subnum; erhebt sich aus dem Strandsessel, streckt sich, gähnt, prüft den Stand der Sonne, schlendert davon.
Als er im Hotel nach der Rechnung fragt, bekommt er einmal mehr zu hören, was er auf Fair Island immer zu hören bekommt: „Aber Mr. Brains – ist doch alles längst beglichen!“
Gut. Nun braucht er sich nur noch umzuziehen, sein Köfferchen zu packen und zu Abend zu essen, bevor er die Insel verlässt.
Als er dann in einem der Restaurants am Hafen sitzt, fällt ihm die Sache mit der Guarneri-Geige ein. Was Murphy sich da ausgedacht hatte, ist so undurchsichtig verschachtelt, dass selbst Brains es nicht völlig versteht. Ist die Guarneri wirklich gestohlen worden? Ist die gestohlene wirklich eine echte Guarneri? Gibt es wirklich eine falsche? Ist die falsche wirklich wieder gegen die echte ausgetauscht worden? Und hat dieser Trickbetrug überhaupt wirklich stattgefunden? Das Geld jedenfalls, das Murphy dadurch beschafft, wird dringend vom Service of Intelligence gebraucht, seit dieser auch von seiner wichtigsten Geldquelle, dem Old Hickory Trust, abgeschnitten wurde; was eindeutig von Tyrus Paulson, dem Anführer des neuen SI, veranlasst worden war. Deshalb hat Brains bei der Sache mitgemacht, das heisst sich von Murphy dafür einspannen lassen. Denn er ist dem SI, dem echten, durchaus noch etwas schuldig; zwar eigentlich nur Kick Kimura, doch der gehört dem SI so sehr an, dass er ohne den SI – so wie der ohne ihn – ja gar nicht denkbar wäre.
Klar weiss Brains, dass ihn die Beteiligung an dem Betrug erpressbar macht, weiss aber auch, dass Murphy alles andere als der skrupellose Gangster ist, den er mimt, und Erpressung nicht auf seiner Linie liegt, Brains also sicher nicht Gefahr läuft, irgendwann als der korrupte Bulle dazustehen (zumindest wegen dieser Sache nicht).
Wenn ich, denkt er, auch nicht ganz verstehe, wie dieser Trick mit der Geige tatsächlich funktioniert, und es sich dabei also sehr wahrscheinlich um einen Verstoß gegen die Anti-Bullshit-Regel handelt, kann ich das ja hier wohl schlecht begründen, ohne mich selber als die Logik-Polizei zu disqualifizieren. Das heisst ich muss dieses Dilemma, diesen Interessenskonflikt, einfach akzeptieren.
Wie man daran sieht, ist Detective Brains auch dazu fähig: Ein Nachdenken, wenn es zu aussichtsloser Grübelei wird, einfach abzubrechen. Zwar ist anzunehmen, dass sich ihm im Meta-Nexus auch in dieser Angelegenheit ein klärender Überblick ergeben würde, jedoch stünde dieses maximale Mittel in unangemessenem Verhältnis zu dem doch eher banalen Zweck. Sich um privater Dinge willen in jenen „Ozean“ zu wagen – oder zur Aufklärung solcher Nebensächlichkeiten wie Murphy’s Trickbetrug –, ist für Brains, so wie für jeden echten MDO, tabu.
Um so leichter lässt er das Thema fallen angesichts dessen, dass es nun schon dunkel geworden ist, die Nachtfähre nach Babaal, hell beleuchtet, bereit zur Abfahrt daliegt und es allmählich Zeit für ihn wird, an Bord zu gehen.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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