I.5

Die Führung

Der klobige dunkle Backsteinbau könnte die Fischereibehörde sein oder dergleichen und würde mir nicht einmal als besonders nichtssagend auffallen, prangte nicht über dem wenig imposanten Eingangsportal in geschwungenen Neon-Lettern die Überschrift Das Flyshwerk.
Nachdem der Morgen sonnig war, bedeckt sich jetzt der Himmel. Auf dem etwas tristen baumlosen Boulevard, der den kleinen Platz vor dem Gebäude begrenzt, fliesst mäßig nur Verkehr. Von den Menschen, die da alle zehn Minuten der Straßenbahn entsteigen, streben die meisten, Touristen ihrem Aussehen nach, dem Museum zu.
Als meine Uhr zwanzig nach zehn anzeigt und von Monton Flyrie immernoch nichts zu sehen ist, frage ich mich, was ihm zugestoßen sein könnte. Denn dass er einen Termin wie diesen verschliefe, sähe ihm gar nicht ähnlich.
Ich bin sehr gespannt, was mich in diesem Museum erwartet. Mir ist gar nichts vorstellbar, was vom ehemaligen Flyshwerk überhaupt ausgestellt, geschweige denn auch wert sein könnte, besichtigt zu werden. Alte Computer etwa? Oder historisches Büromobiliar? Die persönlichen Kultobjekte einzelner Mitarbeiter? Vielleicht sogar die sagenhafte Riesenmaschine, von der ich damals nur immer hörte, die ich aber nie zu Gesicht bekam?
Die Fülle an Erinnerungen, die mich hier überkommen, vertreibt die Zeit so rasch, dass ich meine Neugier mühelos noch eine Weile zügeln kann. Das war der Eingang, dem ich als junger Mann tagtäglich zueilte, der Eingang zur sogenannten Kreation; dem ich stets schwankend zwischen Hoffnung und Versagensangst entgegensah …
Nachdem ich eine weitere halbe Stunde auf Flyrie gewartet habe, nehme ich an, dass er nicht mehr kommt, und gehe hinein.
Der Stil des historischen Futurismus, der auch früher im Flyshwerk vorherrschend war, ist jetzt im Foyer in zugespitzter Form als superperfektes Steam-Punk-Design zu bewundern. Auffällig sogleich der sorgfältig gestaltete Eindruck von altmodisch und abgenutzt; sodass ich auf Anhieb glaube zu wissen, was auf mich zukommt: Immersion; ein Eintauchen ins Virtuelle; und ich bemerke, wie mein Herzschlag sich beschleunigt.
Als ich mich erstaunt zeige über den hohen Eintrittspreis, erfahre ich, dass darin die Führung inbegriffen sei; dass ohne eine solche der Besuch hier sinnlos wäre; und dass die nächste gleich um elf beginnt. So bleibt noch etwas Zeit, beim Herumschlendern zwischen den Postkarten und Broschüren zu sondieren, wer sich heute ausser mir noch fürs Flyshwerk interessiert.
Eine rund dreissigköpfige Gruppe schart sich zur Elf-Uhr-Führung um eine rundliche, aufmunternd lächelnde Dame, und so zusammengewürfelt diese Gruppe auch wirkt, hat sie doch dadurch etwas Homogenes an sich, dass ausnahmslos alle, ob jünger, älter oder alt, irgendwie abwesend wirken, und da wird mir bewusst, worüber ich mich hier in Bangot schon gestern latent gewundert habe: dass an niemandem ein Gerät zu sehen ist, weder in der Hand, noch in Form einer Brille. Sind etwa die Leute nicht mehr vernetzt? Oder sind sie es, brauchen nur dafür keine Geräte mehr? Weil sie jetzt selber die Geräte sind?
Das würde erklären, was mir ebenfalls gestern schon an diesem Bangot als merkwürdig aufgefallen war: dass die Videokameras fehlen, die man andernorts überall sieht; dass es hier also nicht der üblichen Überwachung bedarf. Da auch nirgends irgendwelche Aufpasser zu bemerken sind – auch jetzt im Museum: kein Wachpersonal –, scheint in Bangot das Problem Sicherheit gelöst zu sein.

Und so spricht die rundliche Führerin mit ihrem Lächeln, das weiterhin aufmuntern will: „Was wir § heute in aller § Selbstverständlichkeit die § Neue Realität nennen, worauf gründet es? Die wenigsten § Bürgerinnen und § Bürger machen sich ja darüber noch § Gedanken. Wer hat denn schon von der § Real-Technik gehört? Wer § erinnert sich noch, wie sie § entstanden ist? Und wer weiss noch etwas vom alten § Flysh-Spiel? Obwohl das eine besondere § Geschichte ist – eine besonders § wichtige, ja bahnbrechende Geschichte. Sie werden staunen und sich § fragen, wie sie in § Vergessenheit geraten konnte, und § ich § verrate es Ihnen gleich vorab: weil diese Geschichte nie bekannt war! Deshalb sind Sie hier, liebe Besucherinnen und Besucher – hier, wo sie § erfunden wurde. § Willkommen!“
Wie kurios diese Sprechweise der Führerin: flüssig nur dem Anschein nach; gar nicht zusammenhängend eigentlich, sondern gestückelt; wie zusammengestückelt aus lauter Einzelbegriffen; und wie merkwürdig schwer es mir fällt, sie als Gesamtheit zu begreifen …
Weil sie spricht, klingt es wie Rede; ist aber nicht Rede, sondern Text … Sie textet.
„… hier im alten § Flyshwerk, in dem einst die § Real-Technik § entwickelt wurde …“
Lauter Schlüsselworte, jedes definiert … Lauter Definitionen eigentlich; korrekt zusammengesetzt; aber so komisch korrekt, dass es regelrecht juristisch klingt.
Nicht nur ist das schwer zu erfassen, stelle ich fest, sondern gar nicht wirklich zu erfassen, einfach weil die Pseudo-Rede auch nur einen Pseudo-Zusammenhang ergibt.
Ich schaue herum, kann jedoch in keinem der Gesichter irgendwelche Anzeichen von Irritation entdecken; und auch nichts anderes, überall nur blanke Ausdruckslosigkeit.
Jetzt spricht die Dame vom Reich, beziehungsweise textet:
„Dann wurden im § Reich die § KIs das, was in früheren Zeiten die § Götter waren. Denn sie wurden zwar von uns § erschaffen, so der allgemeine § Konsens, doch ist ihr Zusammenspiel sehr bald undurchschaubar für § Menschen geworden, und unbestimmbar, wie sie der § Menschenwelt gegenüber eingestellt sind, ob § wohlwollend, § gleichgültig oder § feindlich. Dass sie für den Erhalt des § Reiches sorgen, ist § logisch, bedeutet das doch den Erhalt ihrer eigenen § Existenz. Und was vor allem brauchen § Künstliche Intelligenzen zu ihrem Erhalt? § Energie. Deshalb hat es für sie oberste § Priorität, die Energiezufuhr sicherzustellen; und zwar eine immer größere Zufuhr. Da ihr § Hunger nach Energie unersättlich zu sein scheint, ist anzunehmen, dass sie sich entwickeln – unklar, ob sie das § wollen oder § müssen –, und dass ihre § Fortentwicklung von der Menge an verfügbarer Energie abhängt.
Ferner ist festzustellen, dass die gegenwärtig § tonangebenden KIs sich durchaus nicht § einig sind; dass sie nicht nur § intrigieren, sondern kämpfen, ja mehr oder weniger verdeckt sogar § Kriege gegeneinander führen; und dass sie sich dazu einer großen Anzahl von Menschen § bedienen. Diese Menschen nun, ob sie um ihre Beteiligung § wissen oder nicht, werden, ob sie es § bemerken oder nicht, für ihre § Kooperation belohnt. Statt § Belohnung kann es auch § Bestrafung geben, das spielt für die KIs keine § Rolle. Worauf es hier ankommt ist, dass die Beteiligung an den § Machenschaften der KIs, § egal wie § bewusst im einzelnen oder wie unbewusst, für die Menschen § Konsequenzen hat.“
Ich staune: Soll das subversiv sein? Soll es uns aufklären? Wer soll hier eingelullt werden? Wer ist hier nicht längst eingelullt? Diesen Text hat garantiert eine KI verzapft …
„Und das ist, was in der § Fachsprache der § Flyshologie der § Begriff Reich auf Seiten der Menschen, der § Spieler, bedeutet: soweit die Konsequenzen der Beteiligung § reichen. Während auf der anderen Seite Reich § beziehungweise Reichweite bedeutet: soweit die § Macht der KIs ins § Menschliche hineinreicht.“
Sie hält inne. „Haben das alle § verstanden? Soll ich es wiederholen? – Nicht § nötig? § Gut.“
Ich glaube, ich weiss jetzt, was die Dame da erklärt: die Spielregeln. Doch muss ich mich die ganze Zeit zurückhalten, damit ich nicht dazwischenrufe, nicht Einspruch erhebe. Denn ich müsste sie ja korrigieren. Wo aber damit anfangen? Ihre Darstellung ist ja nicht nur verkehrt, oder eigentlich gar nicht so verkehrt, sondern vielmehr grundverkehrt. Eben deshalb grundverkehrt, weil sie andererseits auch durchaus richtig ist. Das Richtige falsch dargestellt ist immer das Fatalste.
Es stimmt ja, was sie ausführt über Flysh und die Machenschaften der KIs; und dass das Reich die Einheit aus den zwei Bereichen ist, dem menschlichen und dem KI-Bereich; und so weiter; ja, es stimmt – und ist doch vollkommen falsch. Weil das Ganze nämlich den Eindruck erweckt, als handele es sich um ein Spiel, um etwas, bei dem man nach Belieben einfach mitmachen kann oder auch nicht, und weil es damit am Wesentlichen völlig vorbeigeht.
Wesentlich daran ist, dass es sich um den Übergang in eine neue Bewusstseinsstruktur handelt.
Das, glaube ich, weiss ich. Liesse ich mich aber vom Wahnwitz hinreissen und versuchte, korrigierend oder wenigstens ergänzend einzugreifen – was überhaupt würde mich dazu autorisieren? Dass wir in eine neue Bewusstseinsstruktur übergehen, du meine Güte – wer bin ich, öffentlich so etwas zu behaupten? Und wie davon reden in einer Sprache, die sowieso noch der alten Bewusstseinsstruktur angehört? Ich wäre hier bloß der lästige Besserwisser, oder noch schlimmer: der Querulant.
Ich schweige also.
„Soviel zum § Kontext.“
Ich höre ein Auflachen, und stelle erschrocken fest: es kam von mir; doch niemand reagiert.
„Was Sie hier nun als erstes sehen, § rot umgrenzt, sind die Reste des ältesten § Real-Stückes überhaupt, Teile des inzwischen § legendären § AZUMA MAROONED. Aus diesem § Urspiel sind alle § Spiele hervorgegangen, alles, was schliesslich in seiner Gesamtheit zu § Flysh wurde. Somit kann man diese Überreste sogar als die § Keimzelle der ganzen § Real-Technik betrachten. Die § Szenen, die Sie sehen, sind zwar nur unvollständig erhalten, jedoch voll § funktionsbereit. Sie hätten § künstlich vervollständigt werden können, aber man fand, dass sie unbearbeitet am besten den § Originalzustand vermitteln.
Im übrigen bitte ich Sie, die § rot markierten § Bereiche nicht zu betreten. Damit das nicht § versehentlich passiert, bleiben wir einfach alle auf der § grünen § Linie. Am § Schluss der § Führung wird Ihnen eine § Liste zugänglich sein, auf der alle § historischen § Reale, die wir hier besichtigen werden, zu finden sind, § selbstverständlich auch § AZUMA MAROONED, und Sie können sich dann aussuchen, in welches Sie vielleicht § eintauchen möchten; § natürlich wann und wo Sie wollen, denn die Liste steht Ihnen eine volle § Woche lang zur § Verfügung.“
Ich sehe weder rote Markierungen, noch eine grüne Linie; und ebenso unsichtbar sind mir die Reste dieses Urspiels namens AZUMA MAROONED. Dafür verstehe ich nun die Situation:
Die anderen in dieser Gruppe sehen etwas anderes als ich. Vielleicht hören sie auch etwas anderes, oder verstehen es anders, nämlich richtig, so wie sie es verstehen sollen. Und was ich an ihnen als Eingeschränktheit wahrnehme, nehmen sie wahrscheinlich umgekehrt als Erweiterung wahr. Dasselbe Datennetz, das ich wie ausserhalb von mir erlebe, haben sie innerlich, und den digitalen Raum, den es erzeugt, habe ich innen, als bloße Vorstellung, während sie ihn als das Aussen erleben, als Realität.
Hochinteressant. Allerdings dürfte der Rest der Führung, da ich einfach nicht „erweitert“ genug bin, eher uninteressant für mich werden.
Und ja, ich habe es jetzt durchaus kapiert: Ich werde geführt. Das steht nun ausser Zweifel. Bin mir dessen gerade angesichts dieser Führung so sicher. Weil diese Führung sowas von falsch ist.
Darf ich annehmen, dass ich hier quasi unsichtbar bin? Ja, darf ich. Und da mich keine imaginären roten Markierungen einschränken und keine grüne Linie mein Imaginieren leitet, kann ich mich frei bewegen, und also setze ich mich kurzentschlossen von der Gruppe ab.
Und hier sei nun der werten Leserschaft die Freiheit geboten, es den Besucherinnen und Besuchern des Flyshwerk-Museums gleich zu tun und einzutauchen in das, was sie für unumstößliche Realität halten, in ihre Alltagsträumereien zum Beispiel, oder aber dem Pfad meiner Erzählung weiter zu folgen.

Bangot kann gefährlich sein, ermahne ich mich. So wie gestern im Carlton Hotel könnte ich auch hier im Flyshwerk in ein Labyrinth geraten. Denkbar, dass Flyrie deshalb nicht gekommen ist; dass er irgendwo in einer räumlichen Endlosschleife festhängt …
Mein Vorteil ist, dass ich mich wie an das alte Bangor auch an das alte Flyshwerk noch ganz gut erinnern kann, und obwohl es hier nur simuliert wird, bietet die Erinnerung mir Orientierung. Vor allem aber weiss ich, dass dieses Flyshwerk-Museum, so wie das ganze Bangot, eine Simulation ist. Ob diejenigen, die hier elektronisch eingebettet sind, das auch wissen? Da sie ihre Wahrnehmung ja nicht als eingeschränkt, sondern als erweitert erleben, kann man sie das gar nicht fragen. „Hallo, wissen Sie, dass das, was Sie um sich her wahrnehmen, simuliert ist?“ „Simuliert? Na und?“ Bestenfalls würde man einen Lacher ernten, womöglich aber, falls man ernsthaft weiterfragt, als Paranoiker aus dem Verkehr gezogen.

Schon nach wenigen Schritten ist von dem perfekten Steam-Punk-Design nichts mehr übrig. Nicht dass es sich einfach aufgelöst hätte; ich bin nur, wie mir scheint, jetzt irgendwie dahinter. Hier ist nichts Museales mehr, nichts, was restauriert, geglättet oder auch nur gesichert worden ist. Das Gebäude ist regelrecht baufällig. Die Wände überall von Schimmel überzogen. Die hohen Fenster größtenteils zerbrochen; Glasscherben überall und Pfützen. Und Stille; darin nur das Glas zu hören ist, das unter meinen Schritten knirscht, und manchmal das Geflatter aufgeschreckter Tauben.
Wo dereinst die sogenannte Anfängerabteilung gewesen war, stehe ich eine Weile in einem der Durchgänge zu jenem langen Saal, in dem ich damals meinen Platz hatte; dessen Boden jetzt aus riesigen Wasserlachen besteht, in denen sich silbrig der Mittag spiegelt. Und wie da vor meinem geistigen Auge ein Bild des regen Betriebes entsteht, der hier einmal geherrscht hat, denke ich: Wo vor ein paar Minuten das simulierte Museum aufgehört hat, hat auch ganz Bangot aufgehört, und was da angefangen hat, ist das alte Bangor, das alte Flyshwerk, und zwar so wie ich mir vorstelle, dass es in seinem verlassenen Zustand heute aussehen müsste; wie es mir also gegenwärtig ist …
Ich gehe weiter und weiss nun genau, wohin. Wer mich führt, oder was, weiss ich nicht, nur dass ich geführt werde, weiss ich …
Und noch etwas weisst du: dass es ganz in deiner Hand liegt, ob diese Führung dir zum Wohl oder Wehe gereichen wird.
Hm, ja. In meiner Hand. Das ist der schwierige Teil der Sache.
Wir Anfänger lernten damals sogleich, dass jeder Winkel des Flyshwerks unter ständiger Kontrolle stand, und dass es zu lernen galt, die Kontrolle auszutricksen. Darin bestand überhaupt der Sinn dieser Kontrolle. Und es gab in diesem ziemlich großen und sehr unübersichtlichen Gebäudekomplex einen Bereich, der für uns Anfänger tabu war. Doch kursierte das Gerücht, es gäbe irgendwo eine unkontrollierte Hintertreppe, über die es auch einem Anfänger gelingen könne, in den Tabu-Bereich einzudringen.
Ich nehme an, dass so wie ich auch die anderen ihre heimlichen Ausflüge in die weitläufigen Kellergeschosse des Flyshwerks unternommen hatten und die meisten wohl irgendwann vor derselben sogenannten Tür des Verbotenen gelandet waren wie ich.
Dass ich nun die Treppen in den Keller nehme und, meiner Erinnerung folgend, geradewegs jene spezielle Tür ansteuere, wundert mich jedenfalls nicht. Da mein Körper den Weg offenbar kennt und an all den Verzweigungen meinem Verstand gar nicht erst Zeit zum Zweifeln lässt, komme ich zügig voran.
Ich hatte jene Kellertür mehrmals gefunden, auch wenn ich die ersten Male dachte, es könne nicht dieselbe sein, wegen der Überschrift, weil die jedesmal anders lautete; bis ich erfuhr, dass nur die Überschrift sich ständig änderte, aber die Tür immer dieselbe blieb. Was da zu lesen stand, oft in fremdartiger, schwer zu entziffernder Schrift, war stets ein weiser Spruch, ein Rätselwort, eine Warnung oder ein kurzer, meistens absurd, manchmal witzig anmutender Imperativ.
Anfänger, der ich war, hätte ich es damals ohne weiteres riskiert, diese Tür zu öffnen, einfach aus Prinzip, weil es hiess, das sei verboten. Doch keiner der Schlüssel, die ich mir dafür besorgte, funktionierte, und so war mir während meiner Jahre im Flyshwerk der Zugang ins Verbotene verschlossen geblieben.
Da ist sie, diese solide alte Eisentür, und scheint nur angelehnt zu sein; und die Schrift darüber, kaum lesbar, sagt so etwas wie Raus oder Vorbei oder auch Amen; ich halte mich damit nicht auf. Ich muss einigermaßen ziehen und ein wenig ruckeln; es knirscht und quietscht; dann bin ich durch.
Auch auf dieser Seite ist es dunkel, und auch hier ist noch Keller; jedoch viel älteres Gemäuer als drüben, wie ich im Schein der Handylampe erkennen kann; und ich habe hier Erdboden unter den Füßen, nicht mehr Beton. Daher riecht es anders, modriger, und auch die Kühle dieses Kellers ist eine andere.
Da wo nicht weit entfernt ein Lichtschimmer zu sehen ist, beginnt eine Treppe; und nun geht’s also aufwärts. Das klassische Szenario so vieler Mystery-Spiele … Doch das ist auffallend: wie hier alles, was ich rieche, was ich höre und sehe, viel intensiver wirkt als drüben; wie mir sogar die Schwerkraft irgendwie verändert vorkommt … Ein ganz anderes Klima, stelle ich fest, als die Kellertreppe zuende ist; milder als in Bangot, und wieviel milder erst als das raue Bangor-Klima; subtropisch geradezu …
Ein großer Innenhof im Sonnenlicht, voller Pflanzen, und erfüllt von Zitrusduft und Vogelstimmen, umgeben von einem schattigen Säulengang und einer Galerie darüber …
Wo ich hier bin, weiss ich nicht nur deshalb, weil aus der üblichen Richtung, und wie immer reichlich schief, Klaviergeklimper dringt; und keineswegs erstaunt mich, dass ich hier bin, nämlich in Babaal, mitten in der Hauptstadt Andrias. Worüber ich staune, ist nur, dass ich bisher von dieser Kellertreppe noch nichts wusste.
Und natürlich ist mir klar, wohin ich von hier aus zu gehen habe. Ich kenne den komplizierten Weg inzwischen recht gut. Sodass ich wenig später in den stillen verstaubten Teil des Palastes finde und in dem Dämmerlicht dort ohne Umwege jene prachtvolle alte Halle erreiche, von der aus mich die richtige der beiden Marmortreppen in das Vestibül hinaufführt, vor eine wohlbekannte hohe Tür. Durch die ich schon seit geraumer Zeit einzutreten gedenke; nur dass ich dazu meinen Körper brauche und der zur Zeit einfach nicht mitspielt.
Dabei waren es bis jetzt wahrscheinlich nur ein paar Sekunden, ein Innehalten nur, doch mir ist, als stünde ich so wie gelähmt schon ewig hier.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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