I.4

Bangot a la Bangor

Wie oft bin ich schon diese monumentale alte Steintreppe in das Vestibül hinaufgestiegen und habe da vor dieser hohen dunklen Tür gestanden? Oft genug, um mir sicher zu sein, dass es die Tür zum sogenannten Studierzimmer ist.
Doch bin ich hier immer nur eingetreten; kann mich nicht erinnern, je durch diese Tür auch hinausgegangen zu sein.
Es ist wichtig, so weiss ich inzwischen, dass ich, bevor ich erneut hier eintrete, mir klar mache, woher ich gerade komme.
Aus dem alten Bangor.
In der Rolle des Heimgekehrten … Abends … Ich war in einer Künstlerkneipe gewesen. War dort mit einer Japanerin ins Gespräch gekommen …
Sie hatte das Carlton Hotel erwähnt. Dass da eine Party stattfand. Für die man keine Einladung bräuchte. Es reichte, rechtzeitig davon zu hören. Dann musste ich auf Toilette. Wo ich Ureal entdeckte. Und als ich von dort wiederkam, war die Japanerin weg.
Was hatte sie veranlasst, mich auf die Party hinzuweisen? Da ich nichts besseres zu tun hatte, machte ich mich auf den Weg, es herauszufinden.
Das sollte zur Orientierung reichen, denke ich.
Jetzt will ich eintreten. Doch meine Hand, die nach der Türklinke greifen soll, gehorcht mir nicht.
Wie jedesmal vor dieser Tür, fällt mir auf, wie still es ist. Diesmal aber ist die Stille absolut. Unglaublich. Stille so still, dass alles stillsteht. Bin willentlich zu keiner körperlichen Regung fähig; stillgestellt.
Und wieder in Bangor. Wie festgehalten dort. Hier. Denn ich bin hier. Gegenwart. Doch wie ich bemerke, ist hier nun alles ureal. Ich bemerke, heisst das, was man normalerweise nicht bemerkt, und auch nicht bemerken soll: den Real-Effekt. Dass ich genauso real hier bin, wie auch dort. Gleichzeitig. Was man Bilokation nennt. Wie wenn einem im Traum plötzlich bewusst wird, dass man träumt; ein immer wieder besonderer, zum Lachen reizender und doch erhabener Moment.

Ich fand zum Carlton Hotel, doch nicht, soviel ich weiss, zu der besagten Party.
Dafür bin ich hier gelandet, vor der Tür zum Studierzimmer. Als Stichwort zur Erinnerung sage ich mir ureal und stelle mir vor, wie ich eintrete.
Und in meiner Vorstellung ist alles wie erwartet:
Der Geruch nach Schamanen-Tabak, der von dem Zigarrenstummel ausgeht, der da immernoch in der kleinen Steinschale auf dem Schreibtisch liegt … Dieser Geruch erinnert mich sofort an Forty Operas. Und beim Anblick der Schreibmaschine fällt mir ein, was letztesmal dort auf dem eingespannten Blatt gestanden hatte:
A2X27.
Das zu entschlüsseln, vergiss es, sagte ich mir. Diese Sorte Code lässt sich kryptologisch nicht erfassen. Nimm es auf und lass es sacken. Verdau es und gedulde dich. Es wird sich im Gedächtnis mit diesem und jenem verknüpfen, von selbst, und es wird, je nachdem wie und wo es wieder auftaucht, seine Bedeutung haben.
Der Zigarrenrest und dessen Duftspur sollte mir Hinweis sein, dass es Forty Operas gewesen war, der mir das auf dieses Blatt getippte A2X27 hinterlassen hatte. Müßig zu fragen, was das sollte. Es dürfte die Essenz dessen sein, was er mir zu überliefern hat.
Und weil ich davon ausgehe, dass er es war, Forty, der mir dieses Studierzimmer als neues Refugium eingerichtet hatte, komme ich mir hier nicht mehr wie ein Eindringling vor; auch wenn ich mich noch nicht hier wie zuhause fühle.
So stell ich’s mir in etwa vor.
Und vergiss das Stichwort nicht, wenn du da drinnen bist, ureal, das dich daran erinnern soll, wo du gerade herkommst.
Ich versuche erneut meine Hand zu bewegen.
Vergeblich. Immernoch der Stillstand.

Ich kenne das Carlton Hotel. Habe dort mal gewohnt vor langer Zeit, während meiner Ausbildung in Bangor. Als ich meine Lehrjahre im sogenannten Flyshwerk absolvierte. Ein riesiges altes Prachtgebäude, aber heruntergekommen; nicht mehr Hotel, eher eine Art Wohnheim. Hat mich immer an den Film Blade Runner erinnert: das Bradbury Building in dauernder Regennacht.
Im Gegensatz zu früher sieht jetzt alles nach normalem Hotelbetrieb aus. Ich frage an der Rezeption, ob es gerade irgendeine Festivität im Hause gäbe. Man weiss von keiner. „Und seit wann ist das hier wieder so ein schönes Hotel?“
„Oh. War es mal nicht so schön?“ Offenbar hat man die Frage nicht verstanden.
Also versuche ich einfach mal, das Zimmer zu finden, in dem ich damals wohnte. Doch verlaufe ich mich nur heillos in diesem Riesenbau, und wie gesagt, finde auch die angekündigte Party nicht. Auf die es mir aber auch gar nicht mehr ankommt. Dafür drängt sich mir immer stärker die Frage auf, was das eigentlich für Erinnerungen sind, an denen ich mich hier orientiere … Bis mir komisch zumute wird, weil ich merke, dass ich einen Irrweg gehe … in ein verdammtes Labyrinth geraten bin!
Überspringen wir die Einzelheiten. Die wiederholen sich bereits, und was abstrakt Endlosigkeit heisst, ist schon weitaus konkreter als überhaupt vorstellbar. Ich gehe und gehe, ohne irgendwo anzukommen; erkenne Zeichen, ja, und folge ihnen auch, doch keines führt zu dem, was es bedeutet, nur immer zum nächsten Zeichen, das sich dann auch nur wieder als bedeutungslos erweist.
Panik. Das ist Panik, wird mir bewusst, und ich bleibe stehen; schaue mir aufs genaueste meine Hände an und sage mir: Schluss jetzt. Du träumst. Wach auf!
Leider funktioniert das nicht. Dieses Ding ist viel konsistenter als jeder Traum, den ich je hatte. Trotzdem. Denn was käme sonst infrage? Die Wirkung einer halluzinogenen Droge. Die man mir allerdings, da ich keine Dogen nehme, heimlich verabreicht haben müsste. Sowas kann vorkommen. Und da fällt mir die Japanerin ein. Und da nehme ich in einiger Entfernung vor mir eine Bewegung wahr. Da hinten, am Ende dieses matt beleuchteten Flures – das ist sie! Sehe sie nur einen kurzen Moment lang, aber deutlich genug. Wie sie gerade in einen der alten Aufzüge schlüpft.
Der Aufzug hat sich nach unten bewegt, und nachdem ich den einzig vorhandenen Knopf gedrückt habe, dauert es ziemlich lange, bis er hier oben wieder ankommt, leer, und ich endlich einsteigen und hinabfahren kann. Ganz einfach. Und da ich ja nicht abergläubisch bin und doch auf Nummer Sicher gehen will – denn noch immer ist mir mehr als unheimlich zumute –, halte ich die Augen geschlossen, um, bis ich wieder unten bin, in den Wandspiegeln nicht etwa eine böse Überraschung zu erleben.
Die Lobby unverändert. Dieselbe Rezeption, an der ich mich vorhin nach der Party erkundigt hatte. Wenig Betrieb, nichts auffälliges, und keine Japanerin weit und breit. Nur an mir selbst fällt mir etwas auf: Wachsamkeit; und dass ich schärfer als gewohnt wahrnehme.
Ich schaue auf die Uhr. Kaum Zeit vergangen. Erst kurz nach zehn. Trotzdem, irgendetwas bedeutsames ist vor sich gegangen, während ich da oben herumgeirrt bin; etwas, dessentwegen ich vorübergehend ausgeschaltet war, das heisst etwas, wovon mich das Labyrinth perfekt abgeschirmt hat. Und nicht etwa, dass ich das nur vermute – ich weiss es. Woher, weiss ich allerdings nicht, ebensowenig was da geschehen ist. Was ich habe, ist der bloße Umriss eines Wissens. Das reicht aber, um mich zu fragen, als ich an dem Ständer mit touristischen Gratis-Broschüren vorbeikomme: Bin ich überhaupt in Bangor?
Ich greife mir einen dieser kleinen Stadtpläne, in denen die Sehenswürdigkeiten angezeigt sind, und tatsächlich: betitelt ist der nicht mit Bangor, sondern mit Bangot.
Interessant. Nicht ganz das alte Bangor, nicht das echte. Nur dem sehr ähnlich. Nicht das selbe also, nur das gleiche. Daher dieses Gefühl der Befremdung, das ich hier die ganze Zeit verspüre. Seit vorhin auf der Toilette, wo ich Ureal entdeckte, u real … So wie dieses Carlton zwar eindeutig das Carlton ist, und doch nicht jenes, das hier stand, als ich damals darin wohnte … Interessant? Nun ja, mindestens. Eine Anomalie, ein Unding. Und deswegen bin ich überhaupt hier: diesem Unding auf den Grund zu gehen.
Ich stecke mir das Stadtplänchen ein, schlendere durch die Drehtür nach draussen und atme durch, zutiefst erleichtert, und fühl mich nach der überstandenen Gefahr hellwach, ein bisschen gar wie neu geboren.

So wie ich das Carlton Hotel gleich wiedererkannte, und zuvor auch schon jenes Künstlercafe, das Shwimm’s, wo ich zu Abend gegessen und mich mit der Japanerin unterhalten hatte, so erkenne ich, auch jetzt bei Nacht, die ganze Stadt wieder. Nur dass die Straßen, scheint mir, heller beleuchtet sind und viel mehr los ist als früher.
Es regnet nicht, ist sommerlich, der Wind eher mild. Im alten Bangor regnete es immer – na ja, meistens, zumindest doch sehr oft; und auch im Sommer war der Wind nie mild, immer ungemütlich, zerrend. Das war das Typische an Bangor, die nasse Kälte, die scharfen salzigen Böen, das Möwengeschrei; dass man nie vergaß, an welch rauer Küste, wie weit draussen man hier lebte, wie sehr dem Nordmeer ausgesetzt, und wochenlangem Nebel, einer Düsternis, die stark auf die Gemüter wirkte.
All das ist irgendwie geglättet, stell ich fest. Dieses Bangot, obgleich immernoch Hafenstadt, immernoch bestehend aus klotzigen dunklen Mauern, hat etwas Fassadenhaftes, Scheinbares, und obwohl alles noch da ist, was es im alten Bangor gab, ist mein Verdacht der, dass nichts mehr davon da ist.
Schon bin ich auf dem Weg zum Flyshwerk, denn das natürlich interessiert mich hier am meisten; doch jetzt, bei Nacht? Mir stecken die Schrecken des Labyrinths noch in den Knochen und ich beschliesse: Lieber bei Tageslicht. Ich biege rechts ein. Diese Gasse kenne ich gut, hier geht’s hinunter zu den Grachten. Immernoch, wie damals auch, sieht dieses enge schummrige Viertel wie Amsterdam aus. Noch ein paar Ecken weiter, an dem Kopfsteinpflastersträßchen am Ufer dieser Gracht da unten, dort müsste es sein … Hiess damals Morituri; ein Antiquariat, in dem ich eine Zeitlang fast täglich ein und aus ging … Ob da immernoch ein Antiquariat ist?
Schon damals wurde man oft in den Gassen dieser Gegend von lungernden Gestalten angepfiffen oder angezischt, oder halblaut angesprochen, so wie jetzt: „Beau Sire verzeihen, darf’s sein eine affaire?“
Ich stocke – diese Stimme, kenne ich die nicht? Von der Gestalt in dem dunklen Hauseingang ist kaum mehr als ihr Umriss zu erkennen. Geh weiter, sage ich mir, sowas endet in der Regel ungut, denn um was geht’s schon, wenn nicht um Drogen oder Sex?
„Schlank oder üppig? Blond oder schwarz? Oder rothaarig? Oder kahlgeschoren? Schön blank rasiert?“ Worauf ich staune: der Typ spricht völlig akzentfrei meine Sprache. Und mir fällt ein, wie ich genau darüber schon einmal gestaunt habe – und in dem Moment weiss ich, wer er ist.
„Zierlich“, sage ich, „ist die Frau, die ich suche. Zierlich und fein. Japanisch. Und nicht mehr ganz jung.“
„Verstehe, Sire. Die berühmte alte Namenlose aus Fernost.“
„Genau die. Hab sie was zu fragen.“
„Aha. Der Detektiv.“
„Forscher, würde ich eher sagen. Und du, Flyrie, was suchst du hier?“
„Was zu tun. Neue Aufgaben. Anknüpfungspunkte. Die Lage hat sich ziemlich stark verändert, wie du wahrscheinlich weisst.“
„Habe nur ein paar Gerüchte gehört. Eines zum Beispiel, demzufolge du in Istanbul im Knast säßest.“
„Ach ja, das … Klar, und jetzt fragst du dich, was sich natürlich alle fragen müssen: Mit wem ich wohl welchen Deal eingegangen bin, um da wieder rauszukommen.“
„Und wenn ich dieser Frage widerstehe? Den ganzen Geheimdienstkram einfach mal beiseite lasse?“ Ich halte ihm meine Rechte hin und er schlägt ein. „Dann haben wir ‘ne Basis“, sagt er.
Monton Flyrie ist ein Freerunner, das heisst mal mehr, mal weniger im Service of Intelligence. „Zur Zeit mehr? Oder weniger?“ frage ich. Er weiss, was ich meine, und sagt: „Zur Zeit ist weniger mal wieder mehr.“
Bei Begegnungen mit Typen wie ihm hat alles Bedeutung; so auch, dass er mich genau hier abgepasst hat, auf dem Weg zum Antiquariat. Das lässt mich nämlich an die Bücher denken, nach denen er studiert hat; die er mich wie per Zufall einmal finden liess, in einem sumpfigen Rückzugsgebiet für Schmuggler und Alligatoren; um mich auf die Probe zu stellen – ob ich kapieren würde, welcher speziellen uralten Tradition er entstammt. Seitdem vertraue ich ihm; lege immer ein gutes Wort für ihn ein, auch wenn manchmal aller Anschein gegen ihn spricht; manchmal so sehr gegen ihn, dass ich schon mehrmals zu befürchten hatte, von ihm enttäuscht zu werden.
Dass er es für nötig hält, mir seine Tradition in Erinnerung zu bringen und damit an mein Vertrauen zu appellieren, beunruhigt mich. In der nächstgelegenen Rotlicht-Bar klemmen wir uns auf ein Bier in die hinterste Ecke.
Flyrie trägt ein schwarzes Lederjacket und reichlich Goldschmuck, und auch in dieser Verkleidung hat er etwas Vornehmes an sich. Ob er als Rasta-Hippie auftritt, als Geschäftsmann oder Intellektueller, oder wie jetzt als Zuhälter, immer ist er der schwarze Prinz, der Hochgeborene, der von Natur aus über allem drübersteht.
„Mal die Heimat besucht in letzter Zeit?“ frage ich.
Er schüttelt nur den Kopf, und das dürfte heissen, er steht in Jamaika immernoch auf der Fahndungsliste der Polizei.
Da uns beiden die hiesigen Verhältnisse in puncto Überwachung noch nicht geläufig sind, reden wir vorsichtshalber Krypt; sodass jeder Aussenstehende, der uns zuhören würde, den Eindruck hätte, da quatschen einfach zwei angesäuselte Typen belangloses Zeug. Es ergäbe daher keinen Sinn, das Gespräch, das ich mit Flyrie führte, wiederzugeben. Nur soviel: es drehte sich um den sogenannten Liebestod, eine verworrene Kriminalsache, die sich im alten Bangor abgespielt hatte, gegen Ende meiner dortigen Lehrlingszeit.
Die lokalen Medien nannten es damals den Carlton-Fall und ergingen sich wochenlang über dessen besondere Rätselhaftigkeit, solcherart, dass auch die süchtigsten der vielen krimisüchtigen Bangorianer froh waren, als endlich die Polizei genug davon hatte und die Carlton-Akte unter unaufklärbar im Archiv versenkte. Erst recht froh darüber waren jene wie ich, die man, nur weil sie im Carlton wohnten, als potentiell in den Fall Verwickelte betrachtete.
Das Ganze war unangenehm gewesen, und ist heute, Jahrzehnte später, immernoch unangenehm. Das Mysteriöse, Unaufklärbare daran hat nicht nur etwas Bodenloses an sich, das mir Schwindel verursacht, auch etwas sehr Übles, Finsteres, das ich gar nicht ausloten mag. Daher wende ich mich dieser Sache überhaupt nur zu, wenn es unumgänglich wird, und nenne sie anstatt Liebestod eher den Carlton-Fall, das kling harmloser. Unumgänglich, mich dem zuzuwenden, wird es immer dann, wenn mir Detective Brains begegnet.
Brains war der Spezialist, den man damals von ausserhalb hinzugezogen hatte, als die Polizei von Bangor nicht mehr weiterwusste. Man kann sich denken, wie erleichtert die örtlichen Ermittler waren, als auch dieser Spezialbulle es nicht vermochte, den Fall zu lösen. Ein Irrtum allerdings, zu glauben, Brains habe damals das Handtuch geworfen. Ich kenne ihn inzwischen gut genug, der wirft niemals das Handtuch. Je kniffliger ein Fall, je geringer die Aussicht, ihn zu lösen, umso zäher bleibt er dran. Er ist damals nur abgereist, weil es vor Ort nichts mehr in der Sache zu ermitteln gab; nur um, wie ich heute weiss, seine Jagd woanders fortzusetzen.
Deshalb, weil jener Fall ungelöst blieb, bin ich ihn nie losgeworden, diesen Detective Brains. Dass er sich ausgerechnet eine so finstere Angelegenheit wie das Rätsel Liebestod zu seinem Hobby gemacht hat – oder sollte ich sagen: davon besessen ist? –, entspricht seinem pessimistischen, ja depressiven Charakter. Er ist durch und durch Kriminalist, stets geneigt, alles als Hinweis auf etwas Geheimgehaltenes zu deuten, auf etwas, dass es dringend ans Licht zu bringen gilt. Ein Wahrheitsfanatiker, könnte man sagen; der deshalb dauernd so resigniert erscheint, weil sich auf seinem Weg natürlich nur immer mehr und mehr auftut von dem, was unbedingt im Dunkeln bleiben will.
Solange er in irgendeinem Fall ermittelt, macht er niemals Pause. Sobald ein Fall abgeschlossen ist, übernimmt er den nächsten; und da er immer an mehreren Fällen gleichzeitig arbeitet, und ja auch noch, falls mal nichts los ist, seine ungelösten Fälle hat, plus sein Hobby, den ewigen Carlton-Fall, ist so gut wie ausgeschlossen, dass er irgendwann mal Pause machen muss. Denn für Brains ist Verbrecher zu jagen kein Job, und er sieht das auch nicht sportlich, sonst könnte er sich ja auch mal geschlagen geben; nein, die Bekämpfung des Verbrechens ist für ihn existentiell, an ihr hängt seine Daseinsberechtigung, sie ist sein Lebenselixier. Und klar, dass man geneigt ist, ihn, weil er einem lästig fällt, wenn man wie ich zum Kreis der permanent von ihm Verdächtigten gehört, als krank einzustufen. Das aber, denke ich, wäre ein Vorurteil, und allzu billig.

Flyrie gähnt und ich ebenso. Dabei ist mir gar nicht nach gähnen. Zwar ist Konzentration erforderlich, wenn man brisante Mitteilungen in Belanglosigkeiten zu verpacken hat, doch bin ich davon gerade alles andere als ermüdet, ja bin, ganz entgegen des Eindrucks eines potentiellen Zuhörers, der wahrscheinlich vor Langeweile längst eingenickt wäre, sogar höchst alarmiert. Mir hätte das, was ich da an Einzelheiten über den Carlton-Fall erfahren habe, schon gereicht; zum Beispiel der Grund, warum ich vorhin die Party nicht finden konnte: weil sie gar nicht hier und heute in Bangot stattgefunden hatte, sondern in Bangor, damals … Wie soll ich so eine Zeit-Raum-Verschiebung mit meinem simplen Realitätskonzept in Einklang bringen?
Aber das ist ja fast nebensächlich, verglichen mit dem Grund, weshalb plötzlich diese Einzelheiten – und noch viele andere – überhaupt ans Licht gekommen sind: weil irgendwo etwas passiert ist, das anscheinend Auswirkungen auf das Gesamte hat, aufs Ganze des Real-Gefüges; Effekte solcherart, dass viel bisher Geheimes, Unbekanntes, auf einmal offenbar ist, und dass Verhältnisse, die bis heute unbezweifelt gültig waren, plötzlich wie umgedreht erscheinen.
Jetzt wundert mich auch gar nicht mehr die Schwierigkeit, die ich damit habe, ins Studierzimmer einzutreten.
„Genug für heute“, sage ich. „Sehen wir uns morgen? Ich habe vor, das Flyshwerk zu besuchen. Laut Stadtplan gibt’s das noch.“
„O ja, ist inzwischen ein Museum; die große Attraktion von Bangot.“
Wir verabreden uns auf zehn Uhr am Haupteingang und sagen Gute Nacht.
Ist von der Bar nicht weit zum Sträßchen unten an der Gracht; und in der Tat, da ist es noch, das Antiquariat, nur heisst es nicht mehr Morituri, sondern Nautilus. So, so, denk ich, jetzt also eine Filiale. Denn Nautilus, so heisst die Kette, die unter dem Slogan Unverwechselbar! weltweit die Antiquariate kontrolliert; gehört der Moonrow, einem großen Medienkonzern; und der, soviel ich weiss, ist Teil des deadler/bloom-Netzwerks.
Im Schaufester natürlich alte Bücher, golden beleuchtet, authentisch angestaubt, und dahinter – wo früher eine schmucklose Höhle aus Wissen sich entmutigend ins schiere Endlos wölbte – ein gediegenes Interieur, Teppiche und dunkles Holz, gedimmte Lampen, einladende Sessel, eine kostbare Kaffeemaschine. Die Schmökerstube schlechthin, regelgerecht wie aus dem Bilderbuch. Ja, denke ich, das ist Bangot in Miniatur, ein hyperrestauriertes altes Bangor, und trotte leicht wehmütig davon.
Jetzt will ich nur noch schlafen, und suche also die kleine Pension am Hafen auf, in der ich schon, als ich am frühen Abend angekommen war, Quartier bezogen hatte. Wo ich beim Aufwachen, so hoffe ich, das Geschrei der Möwen hören werde.

Nach der Erzählung, wie ich Ureal entdeckte, war eigentlich geplant, den Begriff Das Reich zu klären, weil der eng mit dem zusammenhängt, was ureal bedeutet. Beides erst erhellt, was Flysh ist, und das wiederum erhellt, was alles den Umkreis der Real-Technik zum Gesamtzusammenhang verknüpft.
Was hat mich abgelenkt vom Reich? Nichts; ich habe es die ganze Zeit im Hinterkopf. Doch da mir das Refugium Studierzimmer den weitesten Überblick bietet und es also der am besten geeignete Ort zu sein scheint, den Reichsbegriff zu klären, wollte ich da hinein; und fand ja auch die richtige Tür; nur war es nun mal nötig, um sie zu öffnen, vorher diese kleine Exkursion nach Bangor zu unternehmen, die deshalb etwas länger wurde, weil was ich fand, ja gar nicht Bangor war, sondern Bangot. Wo ich auf Ureal gestoßen war und dann entdeckte, dass der Ort, an den ich mich erinnere, einem seltsam pseudo-identischen Ort gewichen ist; der sich quasi im Handumdrehen aufsuchen lässt, während man damals, um Bangor zu erreichen, eine lange Reise unternehmen musste.
Das alles bringt mich etwas durcheinander, zugegeben; jedoch ganz klar daran ist, dass es schon sehr viel mit dem sogenannten Reich zu tun hat und dass insofern diese Bangor/Bangot-Exkursion durchaus kein Umweg war.
Wie scherzt man doch so treffend? Das Ziel ist im Weg. Oder James Joyce etwas umständlicher: Der längste Umweg ist der kürzeste nachhause. Bringt jedenfalls auf den Punkt, was uns der alte Homer von Odysseus erzählt: dass seine Irrfahrt sowohl ein Umweg, als auch kein Umweg war.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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