I.11

Suche Passage

Ich sitze also mit Rivera vor dem Cafe am Platz des Entdeckers und trinke schon wieder Rum. Rivera möchte wissen, was ich über Monalisa weiss. „Die hat sich heute Morgen an mich drangehängt; gefordert, dass ich ihr die Stadt zeige. Dabei war nicht herauszukriegen, was sie eigentlich will.“
„Ich weiss nur, was Lemm sagt: dass sie dringend Netz braucht; weil sie erweitert ist; und dass sie deshalb hier nach anderen Erweiterten sucht. Wahrscheinlich wird sie Kontakt zu den Funk-Freaks aufnehmen.“
„Und also bald auch auf die Jenkins stoßen …“
„Dann häng sie doch gleich denen an.“
„Werde ich. Falls sie nochmal bei mir aufkreuzt.“
„Im Grunde kann ich sie verstehen. Sie hält die digitale Technik für etwas so natürliches, dass sie das Prinzipielle daran noch nie hinterfragt hat, und also ihre Abhängigkeit davon ihr bisher gar nicht bewusst war. Und hier in Babaal muss sie nun feststellen, dass dieses anscheinend Natürliche nicht in gewohnter Weise funktioniert. Sich als abhängig zu erleben, ist hart für jemanden, der sich für autonom hält; und da es allerdings absurd ist, wütend auf eine physikalische Anomalie zu sein, richtet sie ihre Wut vernünftigerweise auf mich; weil vor allem ich, wie sie vermutet, Schuld daran habe, dass sich der Kern des Flyshwerks nach hierher ins digitale Abseits verlagert hat.“
„Das hast du auch von diesem – wie heisst er doch, der jungen Mann?“
„Lemm.“ Da fällt mir auf, dass ich noch nicht einmal seinen Vornamen kenne. „Interessanter Vogel. Sehr intelligent. Allerdings noch ein bisschen leblos. Eine Nachwirkung vielleicht. Er war nämlich auch mal erweitert, so wie diese Monalisa.“
„War mal erweitert? Bist du sicher, dass er’s nicht mehr ist? Soweit ich weiss, lässt sich der eingeschleuste Nano-Kram nicht so leicht wieder ausschleusen.“
„Hm, hab ich auch gehört. Muss ihn mal fragen.“ Und auch deshalb, denke ich, muss ich mit Lemm zu Dima. Die soll ihn scannen. Ich tippe auf die vor mir liegende Zeitung, auf jenen Artikel, der das neue Funknetz betrifft. „Davon schon gehört? Ein zukunftsweisender Vertragsabschluss.“
„Darüber schreiben die seit Monaten. Nichts davon mitbekommen?“
„Ehrlich gesagt, ähm, nichts.“
Da lacht Rivera. „Und sowas sitzt im Regierungspalast!“ Dann schlagartig ernst: „Oder sitzt da eben auch nicht. Oder nur selten; viel zu selten.“
„Tja. Ich würde gerne manchmal Zeitung lesen. Nur ist der Binocle ja leider immer ausverkauft. Muss mich allmählich fragen, ob’s den überhaupt noch gibt. Sodass jedenfalls alle immer Bescheid wissen, nur ich nicht.“
„Das klingt, als fändest du das cool. Doch Vorsicht, Schell, da muss ich sagen: Du bist so oft Mann auf der Flucht in letzter Zeit, dass man schon direkt Suchtverhalten darin sehen könnte.“
„Wie sieht’s bei dir in dieser Hinsicht aus, Rivera? Oder nein, sag mir lieber etwas anderes: Wie hast du Wind davon bekommen, dass Brains in der Stadt ist?“ Dass er mir das verrät, glaube ich zwar nicht, doch ist jede Antwort hierauf aufschlussreich.
„Traf kürzlich Paley“, sagt er nur.
„Schon klar. Woher sonst sollte Paley das wissen? Oder willst du mir weismachen, er hätte dich informiert?“
„Ob er mich oder ich ihn informiere, ist doch völlig egal. In der Counter-Intelligence denkt man nicht so kleinkariert.“ Und nun hält er mir einen seiner brillanten Vorträge, bei denen man am Schluss vollkommen überzeugt ist, nur nicht so recht weiss, wovon; in diesem Falle vom Wesen der Information im Allerallgemeinsten.
Ich denke währenddessen an Flyrie; versuche ihn mir in Bangot vorzustellen. In was für ein Labyrinth mag er dort hineingeraten sein? Womöglich in gar keins, sage ich mir zur Beruhigung, oder in eins, das ihm gefällt, aus dem er gar nicht heraus will; sowas könnte es ja auch geben. Oder er hat sich selbst befreit und ist schon nicht mehr in Bangot …
Sucht man etwas, das geheim ist – in diesem Falle den Ort, wo ich den Zugang zu Bangot vermute, das Telesterion, oder den Weg aus Andria hinaus, die Passage –, hat man es immer mit dem selben Problem zu tun: Wie sich schlau machen, ohne dass dadurch auch die schlau werden, die einem auf der Spur sind?
„Hörst du mir eigentlich zu, Schell?“
„Na klar, na klar – das alles führt uns zu der Frage: Wie das Geheime enträtseln, ohne es zu verraten?“
„Äh, indirekt ja, könnte das die Frage sein. Denn wie ausgereift der Kontrollapparat ist, weiss man ja nie.“
„Wobei gerade in Babaal man doch oft überrascht ist, mit was man durchkommt und mit was nicht.“
„Wir haben beide ausgetrunken“, stellt Rivera fest, „ich schlage vor, wir gehen Pavel besuchen.“

Die Andrianer gehen gern ins Kino, und natürlich ist die Hauptstadt mit Lichtspielhäusern besonders reich bestückt. Auch pflegt hier ein sogenannter Filmclub die Kinokultur, indem der Direktor, Pavel, dafür sorgt, das kaum ein Abend vergeht, an dem in seinem Cinema Eclectique nicht das Werk irgendeines alten Meisters zu sehen ist. Obwohl Pavel’s Auffassung von Meisterwerken sehr weitreichend und in der Tat eklektisch ist, so haben doch auf jeden Fall die Freunde der Filmkunst über die Jahre in seinem gemütlichen alten Kinosaal, indem sie mit den unterschiedlichsten Meistern bekannt wurden, mit Lubitsch etwa oder Kurosawa, oder Exoten wie Brodi Snackwart, wundersame Einblicke in die Welt der bewegten Bilder bekommen.
Über Pavel, den Exil-Tschechen, der als Priester des Kinokults natürlich beste Beziehungen zu Filmarchiven in aller Welt unterhält, wäre einiges zu sagen, hier aber nur soviel, dass er insgeheim, wie so mancher, der im Kulturleben von Babaal eine Rolle spielt, dem hiesigen Royalismus anhängt, und dass er einer der Köpfe ist, die hinter The Binocle stecken, jenem beliebten Revolverblatt, das die gutbürgerlichen Leser des Bright Day gern verboten sähen. Er ist mit Rivera befreundet, und beide wiederum sind gute Freunde von Jasper Walden, dem Gründer des Binocle, einem umtriebigen Mann, von dem noch oft die Rede sein wird.

Auf dem Weg zum Filmclub: „Hey, hörst du das?“ Wir bleiben stehen, hören: „Das ist doch dieses Flötenstück von Bach!“ „Die Suite in H-Moll.“ „In der Orchesterversion sogar!“ „Wo kommt das her?“ Wir biegen schnellen Schrittes um die nächste Ecke und da steht – wir schauen uns zunächst betroffen, dann enthusiastisch an – „Ein Leierkastenmann!“
Wie die Blinden, die hier überall Lotterielose verkaufen, gehören auch die alten Drehorgelspieler noch zum typischen Straßenbild, und ohne ihre alten Melodien wäre die babaalianische Geräuschkulisse einfach unvollständig. „Dass die ihr Repertoire auch mal in Richtung klassischer Musik erweitern würden …“ „Lässt das nicht hoffen?“ „Uns ja, die wir nun mal so anfällig für Nostalgie sind.“ Wir kramen nach Münzgeld; halten aber inne und schauen uns tadelnd an; und legen dem Alten dann Scheine in das Körbchen auf dem Leierkasten.

So, zu dritt, haben wir schon des öfteren in Pavel’s Büro gesessen und Rum getrunken, und so wie heute läuft es meistens: Irgendwann drückt Pavel mir etwas zu lesen in die Hand – kurze Textentwürfe fürs Programmheft, über die Filme, die er demnächst zu zeigen gedenkt – und zieht sich mit Rivera, mit dem er irgendetwas zu besprechen hat, in den Hintergrund zurück.
Obwohl es, wie ich sehe, um gewisse Terry Gilliam-Filme geht, Brazil, Twelve Monkeys – laut Pavel aus aktuellem Anlass –, wird meine Aufmerksamkeit plötzlich von etwas ganz anderem beansprucht. An der Wand gegenüber, zwischen lauter Schauspieler-Portraits, fällt mir ein Bild auf, das ich hier zuvor noch nie gesehen habe, das vom Häuptling nämlich, vom alten Sitting Bull – die Daguerreotypie! Jawohl, die gleiche, die auch im Studierzimmer hing – nein, dieselbe: Denn kaum habe ich sie genauer fixiert, schon sehe ich den bunten Wandteppich dahinter – und gelange durch dieses indianische Stoffgewebe ins Refugium Gran Puertito, in das Apartment mit der großen Dachterrasse überm Meer. Und weil ich auch diesen abrupten Transit nicht erwartet habe, bin ich erstmal geschockt; verharre regungslos. – Wie still es hier ist! Und nun höre ich eine Stimme, und dann eine zweite; weit weg zwar, aber ganz deutlich: „Ist alles schon angekommen.“ Die Stimme von Rivera. Und darauf die von Pavel: „An keinem sicheren Ort, will ich hoffen.“ „Nein. In Istanbul. Wo jetzt richtig schön ein Wirbel darum gemacht wird. Sämtliche Dienste im Alarmzustand.“ Und da versteh ich schon: hier in Puertito bin ich hellhörig
Jeder von den Orten, die mir zu Refugien wurden, hatte eine mir unbewusste dunkle Seite, und an der, jeweils unbemerkt, hat sich eine bestimmte Fähigkeit entwickelt; im Falle des Puertito-Refugiums zum Beispiel der Umgang mit Paranoia …
Wie nett ich damals, als ich nach Gran Puertito zog, den Mann fand, dem so gut wie alles in dem hübschen kleinen Ort gehörte. Kaum hatte ich mich dort eingelebt, war ich quasi schon mit ihm befreundet; und konnte es zuerst nicht glauben, dass dieser Patron, wie sich bald herausstellte, der Boss der lokalen Drogenmafia war. Ich lernte die Zeichen zu lesen und entdeckte nun Machenschaften überall; musste feststellen, dass diese verträumte Idylle dort ein durch und durch kriminelles Milieu verbarg; und in der Folge wurde mir eigentlich alles suspekt. Als ich dann bemerkte, wie ich so immer tiefer ins Paranoide geriet, unternahm ich gezielt Anstrengungen, das in den Griff zu bekommen. So wurde ich zu einem gewissen Grade hellhörig: lernte, das allgegenwärtige Element der Verschwörung zwar auch in feinster Verdünnung zu erfassen, jedoch es nicht als bedrohlich auf mich persönlich zu beziehen.
„Und das Original-Zeug? Davon noch was im Umlauf?“, höre ich Pavel fragen. „Höchstens noch ein bisschen MoGum“, sagt Rivera, „und vielleicht noch ein paar von den Kapseln. Nichts, was noch irgendwie relevant werden könnte, wie Jasper meint. Da sich ja mit dem Original-Zeug sowieso niemand mehr auskennt.“ „Auch Schell nicht?“ „Den interessiert das nicht mehr. Für den ist MoTech nur noch Kinderkram, bestenfalls Folklore. Der will nur noch raus. Und da er jetzt anscheinend einen Nachfolger hat, wird er nicht zögern abzuhauen, sobald sich ihm eine Lücke zur Passage auftut.“ „Sicher?“ „Sicher.“ „Warum gibt dann Geo Rey nicht das Signal? Worauf warten wir noch?“ „Irgendwas in Frankfurt, wie ich hörte. Ein Rest von Risiko, das noch geklärt werden muss. Jasper kümmert sich darum.“
Diese Unterhaltung interessiert mich tatsächlich nicht besonders. Ich zoome mich mühelos in Pavel’s Büro zurück.
Benötige ich eigentlich noch die Objekte, die vormals im Studierzimmer versammelt waren? Ich konzentriere mich auf die Vorstellung des Säbels, und siehe da: ich sehe sofort die Vogelfeder und bin wieder in jenem hohen Zimmer im Hotel Olympia. Und bin auch von dort genauso schnell wieder zurück in Pavel’s Büro. Ich schliesse die Augen und probiere dasselbe mit der Daguerreotypie; und es funktioniert ebenso einfach. So wie ich also den alten Säbel als konkretes Objekt nicht mehr brauche, um in das Refugium Hotel Olympia zu gelangen, brauche ich nun, um ins Refugium Gran Puertito zu kommen, auch dieses Objekt nicht mehr. Und dann probiere ich das auch gleich mit den anderen Objekten, mit der Maske, dem Wappen der Royalisten und dem Renaissance-Gemälde …
Doch als ich mir diese Objekte vorstelle, sehe ich sie nur so, wie ich sie aus dem Studierzimmer kenne; das heisst was ich eigentlich sehe, ist das Studierzimmer, hingegen was darin ist, bleibt abstrakt, leblos, deutlich als konstruierte Vorstellung erkennbar. Muss ich also diese Objekte – Maske, Wappen und Gemälde –, damit sie so wie der Säbel und das Sitting Bull-Portrait auch per Erinnerung funktionieren, erst irgendwo ausserhalb des Studierzimmers konkret entdecken? – So sieht’s aus. – Aber wie? Aber wo? – Wohl nur so, wie du vorhin den Säbel und nun den Häuptling entdeckt hast. Vertraue dem Zufall.
Erwähnte Rivera nicht eben die Passage? … Anders als die Refugien, die sich anhand der Objekte öffnen lassen, kann sich die Passage, nach allem, was ich bis jetzt darüber weiss, jeden Moment öffnen, irgendwie, wahrscheinlich gerade wenn man’s nicht erwartet. Falls mir auf diese Weise – plötzlich, unkontrolliert – das Abhauen von Andria gelingt, werde ich anschliessend kaum wissen, wie es mir gelungen ist. Hier haben wir wieder unser Dilemma: Wie so ein Rätsel lösen, ohne es zu verraten? Dafür ist ein Zaubertrick vonnöten, und der einzige in der Gegend, dem ich zutraue, solche Zaubertricks zu beherrschen, ist Brains.
Ich stelle das leere Glas ab und bemerke, wie große Müdigkeit mich überkommt. – Sehr bequem, dieser Sessel, warum mir nicht ein Schläfchen gönnen?

Als ich aufwache, immernoch allein in Pavel’s Büro, ist schon Abend, und siedend heiß fällt mir das Konzert ein …
Als ich als letzter in den Saal schlüpfe, haben die drei Musiker ihre Plätze auf der Bühne bereits eingenommen, und während man gerade dem Chef des Musikvereins für seine einführenden Worte Applaus spendet, wähle ich rasch einen der freien Plätze in der hintersten Reihe und halte kurz nach bekannten Gesichtern Ausschau. Das, was ich sehe, ist zwar nicht, wie erhofft, das von Detective Brains, doch auch dieses, nämlich Murphy’s Gesicht, habe ich wahrlich schon lange nicht mehr gesehen.
Auch er hat mich gleich erkannt. Ich nicke ihm zu, so als fänd ich’s völlig normal, dass er plötzlich hier in Babaal zu einem Schubert-Abend aufschlägt. Murphy der Fälscher. Der Amerikaner. Der eigentlich Russe ist. Vollprofi. Service of Intelligence. Aber bevor es nun losrattert in meinem Schädel, schliesse ich kurz die Augen und denke: Ich bin vor allem gekommen, um mir diese immer wieder interessante Es-Dur-Sonate anzuhören.
Man muss ja sagen, dass ein Publikum von Andrianern sich in der Regel auffallend undiszipliniert gebärdet. Um so erstaunlicher, wie schnell es sich nun hier beruhigt und sich schon beim zweiten Satz, dem Andante con moto, faszinieren, ja geradezu in Konzentration versetzen lässt. Und entsprechend frenetisch fällt der Beifall aus, mit dem sich am Schluss die Begeisterung Bahn bricht.
Der Rest des Konzertprogramms interessiert mich nicht so sehr. Ich blicke zu Murphy hinüber. Wir nicken uns zu. Ich stehe auf und verlasse den Saal; postiere mich im Foyer; wo nur einige schweigsame Bodyguards herumlungern; und dann kommt auch gleich Murphy heraus. Klar, wir suchen die nächste Bar auf.
„Brains in der Gegend?“, frage ich. Murphy tut erstaunt: „Wieso Brains?“
„Dachte nur. Dass der sich das Konzert, wenn er schon mal hier ist, nicht entgehen liesse. Weil doch der Geiger des Trios anscheinend eine echte Guarneri spielt. Und Brains doch das Geigenspiel und die Geige als solche so liebt.“
„Schubert“, sagt Murphy, „die ganze Romantik überhaupt, ist nicht so sein Fall, glaube ich.“
„Dann geht’s hier also nur um diese Guarneri …“
„Frag doch gleich, wie’s läuft.“
„Wie läuft’s?“
„Nicht gut. Der alte Forty hat stark abgebaut.“
„So stark, dass ihr jetzt sogar so ‘ne alte Fiedel klauen müsst?“
„Tja, sogar den Old Hickory haben die geschafft zu kapern.“
„Die?“
„Paulson und seine Leute. Der neue Service.“
„Und wo kommt Brains dabei ins Spiel?“
„Wo Unbestechlichkeit gefragt ist. Wir müssen wissen, auf wen noch wirklich Verlass ist.“
Damit meint er mich, ist klar; und nach einer Sekunde Pause fügt er hinzu: „Im übrigen haben wir Brains mal aus der Patsche geholfen. Und nun kann vielleicht er uns aus der Patsche helfen.“
Dass Forty Operas, der Chef des Service of Intelligence, offenbar senil geworden sei; dass man abgeschnitten sei von der zuverlässigsten aller Finanzquellen, dem Old Hickory Trust; dass es einen reformierten SI gäbe, angeführt von Tyrus Paulson; und dass man sogar angewiesen sei auf die Hilfe von jemandem wie Detective Brains, einem Mann von Interpol – wie das alles so freimütig ausgeplaudert nach Klartext klang, signalisiert mir, dass es auch genauso klingen sollte. Ich kenne den SI gut genug, um mir sicher zu sein, dass mir Murphy da nicht irgendwelche Lügen aufgetischt hat. Aber über was will er mich informieren? Was hat er mir da so schön in Klartext verpackt? Wenn mich das alles nichts anginge, würde er ganz bestimmt nicht diese Unterhaltung mit mir führen.
„Ich versteh nur Bahnhof, Murphy.“
„Klar, Desinformation ist dein Geschäft“, er grinst, „arbeitest hier ja für die Regierung.“ Und nun typisch Murphy: In einer einzigen flüssigen und in keinem Detail überflüssigen Bewegung gleitet er vom Barhocker, lässt Geld auf den Tresen fallen, tippt sich an die Hutkrempe, dreht sich und ist weg. Schade, hätte ihn gern noch gefragt, ob ich da eben im Konzert eine echte oder eine falsche Guarneri gehört hatte.
Ich will nun nachhause, nicht schon wieder saufen; mich der Körperpflege widmen und ins Bett. Als ich aber auf dem Heimweg in einer Bar noch einen letzten Drink nehmen will, wen treffe ich da, rein zufällig, schon wieder? Rivera.

So wie es bei Tage ein Vergnügen ist, mit Rivera eine Runde durch Babaal zu drehen, so macht’s auch immer wieder Spaß, die Nacht hindurch mit ihm von Bar zu Bar zu ziehen. Bemüht, dabei uns von der Rum-Wirkung nichts anmerken zu lassen, gilt andererseits für das, was wir an Leichtsinn da vom Stapel lassen, das entschuldigende Argument, dass wir ja wohl betrunken sind. So, als Gelaber am Tresen verpackt, lassen sich Dinge verhandeln, die sich nüchtern nicht gut besprechen lassen. Das Thema Passage zum Beispiel; das Suchen überhaupt …
„Wie es läuft“, sagt Rivera, „hängt davon ab, zu was für einem Bild ich mir die gesammelten Informationen zusammensetze.“
Zu dieser Binsenweisheit weiss ich nichts zu sagen. „Dir auch noch einen?“ Worauf er nickt und ich dem Barkeeper bedeute, uns bitte nachzuschenken.
Unseren Rum nippend, schweigen wir eine Weile in gegenseitiger Betrachtung: Gegenspieler, die wir sind …
Seit ich mich, so diskret wie irgend möglich, kundig mache über die Passage, gab es immer wieder Hinweise darauf, dass noch jemand, ebenso diskret wie ich, sich diesbezüglich informiert; und ich weiss, dass Rivera diesen Jemand meint, als er sagt: „Du suchst jemanden.“ Ich frage nicht, woher er das weiss. Nach soundsovielen Jahren in der Counter-Intelligence muss er so etwas wissen.
Rivera lächelt jetzt, und ich merke, er wartet.
Endlich macht es bei mir klick: „Du?“
„Wie lange du manchmal auf der Leitung stehen kannst …“
„Hm, ja. Nicht dass ich dir keine Ambitionen in dieser Richtung zugetraut hätte; aber dass du dir das je anmerken lassen würdest …“
„Über die Passage macht sich keiner schlau, ohne dass es irgendwann irgendwer mitkriegt.“
„Damit ist das Sich-schlau-machen schon direkt Teil der Passage.“
„Wenn nicht sogar der entscheidende Teil.“
„Doch nicht so sehr was“, sage ich, „sondern wie wir wissen, bestimmt den Verlauf.“
„Und wie wir wissen – das weisst du schon?“
„So, dass wir’s glauben. Aber der Glaube ist bei euch in der Counter-Intelligence wohl ein Problem, oder?“
„Gar kein Problem. Entweder Glaube. Oder Counter-Intelligence. A propos – Livermore. Glaubst du dem?“
„Auch der sieht die Welt natürlich durch seine spezielle Brille; macht passend, was ihm nicht ganz passt, und hat natürlich auch manches missverstanden. Doch dass er seinen Lesern Lügen auftischt? Nein; höchstens da, wo’s um die eigene Person geht. Dass er am Klavier je gut genug war, um sich, wie er behauptet, auf Fair Island als Bar-Pianist durchzuschlagen, glaube ich zum Beispiel nicht.“
„Glaubt niemand; jedenfalls kein echter Livermore-Fan. Und das muss ihm, als er das schrieb, bewusst gewesen sein. Also wollte er damit erreichen, dass man sich fragt: Warum verrät er nicht, wie er sich wirklich auf Fair Island durchgeschlagen hat?“
„Vielleicht weil man ans Nächstliegende denken soll: dass er auch dort mal wieder in einer Tauchschule gejobt hat.“
„Genau – und dabei wieder einmal in etwas Supergeheimnisvolles verwickelt war.“
„Andeutungen, die Sensationelles ahnen lassen, sind nun mal seine Masche, als Schriftsteller Geld zu verdienen. Doch bedenke, wie oft etwas nach Show aussieht, das im Grunde gar nicht Show ist.“
„Noch häufiger stellt sich als Show heraus, was zunächst tief ernst daherkommt. Auf diese Erkenntnis“, setzt er grinsend hinzu, „läuft quasi die ganze Counter-Intelligence hinaus.“
Da geht das Licht aus. Stromausfall.
„Endlich mal wieder“, sage ich; einerseits weil ich einfach die Stromausfälle schon vermisse, andererseits weil sich so das Thema gut beenden lässt. Wann immer nämlich die Rede auf Linval Livermore kommt, muss ich sehr vorsichtig sein. Denn wie gut ich ihn tatsächlich kenne, weiss niemand, auch Rivera nicht; und wenn ich erklären sollte, woher überhaupt ich Linval kenne, wüsste ich nicht, wie. Auch wenn diesbezüglich Hinweise schon vorkamen, dürfte das der Leserschaft nun reichlich kryptisch erscheinen, jedoch an dieser Stelle bleibt mir leider nur die Bitte um Geduld.

Was auch oft andermals geschah, wenn wir so von Bar zu Bar zogen, geschieht auch diese Nacht mehrmals, nämlich dass das Kino-Spiel unser Gespräch unterbricht. Wir schauen beispielsweise einem Streit zu, der auffallend gespielt wirkt, und die Prügelei, die sich daraus ergibt, erscheint uns dann so kunstvoll, so präzise durchgeführt, dass wir uns mit allen Zuschauern bald einig sind: hier wird ein Jackie Chan-Film nachempfunden, und zwar eindeutig Drunken Master.
Nach Mitternacht, beim zweiten Stromausfall, fällt mir wieder ein, dass ich es eigentlich sehr eilig habe, und also sag ich einfach zu Rivera: „Es gibt hier in Babaal ein Telesterion, das weisst du sicher.“
„So eine richtige Einweihungsstätte meinst du? Hier? In Babaal? Ist ja hochinteressant. Und bemerkenswert, dass man das neuerdings so unverblümt auch anspricht.“
„Weisst du, wo es ist? Würdest du es finden?“
Worauf er tief Luft holt. „Du hast keine Zeit mehr zu verlieren, wie? Dachte mir schon, dass du unter Druck stehst. Paley?“
„Von dem nur der übliche Druck, der, den er routinemäßig ausübt. Eine Farce.“
„Paley ist ein Schattenspieler, unterschätze ihn nicht.“
Ich nicke; dann sage ich aufs Geratewohl: „Du suchst doch auch das Telesterion.“
„Wie kommst du denn darauf? Das wusste ich ja nicht einmal.“
„So sage ich’s auch immer … Im Ernst, Rivera.“
„Nein. Leider nein, ich weiss nicht, wo es ist.“
„Und sonst? Was weisst du übers Telesterion?“
„Nur was alle wissen, die Nachforschungen darüber anstellen; was dir nämlich jeder andrianische Hellseher darüber sagen kann: dass es sich angeblich genau in der Mitte von Babaal befindet; dass es überhaupt der Mittelpunkt sei. Aber auch Mittelpunkt ist für diese Leute ein dehnbarer Begriff, die arbeiten hier ja alle mit der Unschärfe.“
Was ich nur bestätigen kann: „Damit solche Informationen nicht Typen wie uns dazu verleiten, Unheil anzurichten.“
Wir schweigen eine Weile.
„Und?“, frage ich dann. „Wie gedenkst du ihn zu finden? Ich meine den Mittelpunkt von Babaal.“
„Ihn ernsthaft zu suchen, dürfte einen alle Ressourcen kosten, denke ich. Aber ob sich das lohnt? Ich weiss nicht“, und mit einer allumfassenden Geste: „Schätze, man müsste dieses ganze wunderbare Andria aufzugeben bereit sein.“
Da hat er recht, das ist die Frage: Sollte man das? Will man das? Kann man das?
„Wenn ich das richtig interpretiere“, fährt er fort, „nimmst du an, dass wenn du das Telesterion findest, du damit automatisch auch Zugang zur Passage hast. Falls es so ist – weisst du eigentlich, was dich da erwartet? Die Passage sei riskant, sagt man.“
„Sagt man, ja. Aber ich weiss darüber nur Gerüchte.“
„Immerhin sind sich alle darin einig, dass die Passage über jene Insel des Archipels führt, die man die Doppelgesichtige nennt.“
„Ich weiss. Damit ist Lavienta gemeint. Alias Matoxa.“
„Dort ist, wie man hört, ein Bürgerkrieg im Gange. Und dann muss man da auch noch irgendwie die Besichtigung einer Fleischfabrik überleben …“
„Ja, und dann sich zum Reservat der Ureinwohner durchschlagen; und dort an der Küste schliesslich die eine richtige Bucht finden. Von wo man angeblich das Archipel verlassen kann, irgendwie. Das sind so die Gerüchte.“
„Ohne Verbündete, heisst es einerseits, sei das nicht zu schaffen, andererseits solle man sich auf niemanden verlassen.“
„So hab ich’s auch gehört: Man ist absolut auf sich allein gestellt und kommt doch allein nicht durch. Offenbar hat man es an den entscheidenden Stellen immer mit Paradoxien zu tun.“
„Jedenfalls kann man wohl sagen, dass diese sehr ungefähren Informationen wenig bis gar keine Hoffnung auf ein Durchkommen bieten.“

Zunächst kommt’s für Rivera nicht infrage, mit mir, verwahrlost wie ich aussehe, das Haus von Madame Greta aufzusuchen; und ich kann ihm darin nur beipflichten. Denn wenn auch auf sonst nicht viel, auf dieses eine legt Madame den höchsten Wert: dass die Fassade stimmt. Zu vorgerückter Stunde allerdings, als die Facon auch bei Rivera schon sichtlich nachgelassen hat und wir genötigt sind, einfach uns dem Ausnahmezustand hinzugeben, begehren wir dann doch dort Einlass, mit dem Argument: „Schau uns an, Bobby“ – Bobby ist der Torwächter –, „was du siehst, hat gar keine Bedeutung mehr –“ „Ist Maja! Illusion!“ „Quatsch! Hör gar nicht hin, Bobby, der ist betrunken. Was ich sagen will –“ „Schon klar“, sagt Bobby, „so wie ihr ausseht, zählen für euch nur noch die inneren Werte. Kenne euch in kaum einem anderen Zustand. Kommt mit.“ Wir schwanken ihm hinterher in die größere der beiden Bars im Erdgeschoss. Dort setzt er uns ans leere Ende des Tresens. „Hier bleibt ihr sitzen, klar?“ Und unisono sagen wir: „Danke, Bobby, alles klar!“
Auch der Barkeeper scheint uns bedenklich gut zu kennen. „Gentlemen?“, begrüßt er uns und stellt zwei Gläser und eine Flasche Rum vor uns hin.
Für dieses Haus gibt es allerlei Bezeichnungen, und von denen passt, wie ich finde, das altmodische Etablissement am besten, denn ja, es ist zwar ein Bordell, aber nun mal nicht nur das. Man konferiert hier, so wie wir jetzt, oder spielt um Geld, illegal natürlich; hauptsächlich Poker, aber auch Roulette.
Ich sage: „Vielleicht ist das der wahre Grund, warum ich hier weg muss: die Sauferei.“
Rivera nickt. „Ausserdem wird man auch hier demnächst auf das wichtigste kulturelle Element verzichten müssen: die Stromausfälle.“
„Genau. Weil ohne die ja die ganze Elektrifikation im Grunde ein langweiliger Scheiss ist.“
„Das, äh – deine Besoffenheit in allen Ehren, lieber Schell –“
„Oh, bin ich entgleist? Wollte dir nur zustimmen; was ich meinte: Dass die vielen kleinen Stromausfälle gewährleistet haben, dass hier bisher die Kultur nicht von der Elektrizität abhängig war. Stimmt doch wohl, oder?“
Dann kommen wir auf das Thema Passage zurück: „Nehme an“, sage ich, „auch du hast noch von keinem gehört, der’s geschafft hat.“
„Nein. Aber das heisst nur, dass nicht unbedingt stimmt, was man so hört. Denn was können einem Leute erzählen, die es nicht geschafft haben?“
„Nur, wie es nicht zu schaffen ist.“
„Und deshalb, wie ich heute irgendwann schon sagte, hängt alles davon ab, zu welchem Bild wir uns die Informationen zusammensetzen.“
„Und zwar vorher. Bevor es losgeht. Und da es nicht erst irgendwann losgeht –“
„Weil’s ja längst schon losgegangen ist – haben wir längst unser Bild.“
„Und jede neue Information fügt sich dem ein, ohne es im Ganzen zu verändern.“
„Sicher?“
„Nein. Gibt ja Informationen, die man deshalb als falsch verwirft oder einfach vergisst, weil sie einem das ganze Bild verändern würden.“
„Was nur sein kann, weil das Bild eine Illusion ist.“
„Wäre also ratsam, das Bild von der Sache komplett zu löschen. Was übrig bliebe, wäre real.“
„Theoretisch.“
„Eine Theorie immerhin, die erklärt, warum wir hier immernoch herumsitzen, als würden wir auf etwas warten.“
„Darauf, dass das Bild verlöscht, und zwar gefälligst von allein. Der reinste Schwachsinn ist das. Entmutigend. Wenn nicht völlig aussichtslos.“
„Sogar niederschmetternd.“
„Die berühmte hoffnungslose Situation.“

Von Greta’s Etablissement spazieren wir im Morgengrauen – es wird gerade die Tageszeitung ausgeliefert – in Richtung Zentrum, zum Paradeplatz, wo in der alten, von einer Riesenkuppel überdachten Markthalle schon einiger Betrieb herrscht; lassen uns da vor einer der Cafe-Bars nieder und studieren, während wir nach dem ersten Frühstück gleich ein zweites verschlingen, den noch druckfrischen Bright Day.
„Sag einmal –“ staunt Rivera: „Signale aus dem All! Sowas bringt neuerdings der Tag? Damit machen die aber dem Binocle gefährlich Konkurrenz!“ „Lies nur weiter, am Schluss zitieren sie sicher den vernünftigen Physiker vom Dienst.“ Rivera liest; dann schmunzelt er: „Ganz recht. Ist alles, heisst es hier, eine Theorie, die nur auf Messfehlern beruhen kann.“ „Gibt’s noch was interessantes?“ „O ja, das hier: Eine neue Epidemie in China. Da hat man gleich mal eine ganze Millionenstadt abgeriegelt.“

Und jetzt bemerke ich etwas. Dass ich mich nämlich die ganze Zeit beobachtet fühle; und zwar von da drüben, aus dem Schaufenster eines bestimmten Ladens heraus. Von einer Maske; einer solchen, wie sie zum Beispiel bei rituellen Tänzen irgendwo getragen wird … Was ist das für ein Laden?
„Muss mir da mal was anschauen“, sage ich zu Rivera.
Aus der Nähe erkenne ich sie wieder: Das ist ganz eindeutig die Maske aus dem Studierzimmer. Und gerade denke ich noch: So so, nach dem Säbel und der Daguerreotypie nun also, ganz logisch eigentlich – da hat mich ihr Anblick schon nach anderswo versetzt, vor einen Spiegel, jenen großen, rundum beleuchteten Schminkspiegel; und der ist so real, dass ich mich ganz klar als den erkenne, der davor sitzt, inmitten einer Masse interessanten kulturellen Gerümpels. Das heisst ich bin hier in dem alten Landhaus, in einem der Refugien, der sogenannten Kunst-Ruine. Der Spiegel, Gegenbild zur Maske, ist hier das Objekt zum Transit – alles klar!, und durch diesen Spiegel kehre ich sogleich ins Hier und Jetzt zurück. – Inzwischen geht das so leicht! Das stimmt mich zuversichtlich.
Und da ist plötzlich die Maske gar nicht mehr. Denn Argus-Augen haben mich vorm Schaufenster bemerkt, und wohl erkannt, was ich da so interessiert betrachtet habe. Und nun ist da an Stelle der Maske ein Menschengesicht erschienen: das eines alten Mannes – welcher mir jetzt zuzwinkert und gleich darauf aus dem Fenster verschwindet.
Komisches Ding, diese Maske; mir schon immer das unheimlichste von den Transitobjekten. Ich will mich gerade abwenden, da öffnet sich die Ladentür und es erscheint der alte Mann, der mir eben zugezwinkert hat, und krächzt: „Nur herein, Meister!“ Worauf ich mit abwehrender Geste sage: „Ich brauche nichts!“ „Ja, ja, nicht jetzt vielleicht – und ein Geschenk werden Sie doch wohl annehmen?“ Er tritt in den Laden zurück und ich folge ihm zumindest die drei Schritte bis zur Türschwelle. „Sie wollen nichts dafür?“ „Nichts. Hat keinen Preis so eine Maske.“
Der ganze Voodoo-Kram, der den kleinen Laden anfüllt, wirkt in dem fahlen Neonlicht einheitlich bräunlich-grau. Der Alte hat das Ding schon in eine Plastiktüte gesteckt. Nun kommt er nah heran, drückt sie mir in die Hand und zieht sich schnell zurück, und schliesst mit einem „Schönen Tag noch, Meister,“ die Tür vor mir.

Rivera grinsend: „Beute gemacht?“ Ich reiche ihm die Tüte: „Schenk ich dir.“ Er schaut hinein und reicht sie mir zurück: „Dutzendware. Brauch ich nicht.“ „Ich auch nicht.“ Ich winke dem Kellner und sage zu Rivera: „Los jetzt, an die Arbeit!“ „Jawohl, nutzen wir den Tag!“ Wir zahlen und gehen, jeder in seine Richtung. Ich bin noch nicht weit, da höre ich hinter mir: „Hey Boss!“ Der Kellner ist einer von den Aufmerksamen und hat leider die vergessene Tüte schon bemerkt.

So schön dieser frühe, noch dämmrig blaue Morgen auch mal wieder ist, jetzt will ich nur noch ins Bett. Vorher würde ich nur gern noch diese Maske loswerden. So ein Objekt allerdings, das ist mir klar, wirft man nicht einfach weg, das brächte Unglück. Da fällt mir ein bestimmter Laden ein, gleich hier um die Ecke: der Kostümverleih; die Institution in Sachen Verkleidungskunst; von einem Chinesen betrieben. Der könnte sogar zu dieser Stunde schon geöffnet haben … falls er je schliesst. Und in der Tat, da drinnen seh ich Licht.
„Habe hier was Interessantes“, sage ich zu dem Chinesen und reiche ihm die Maske. „Was meinen Sie, was ist die wert?“
Er schaut sie sich eingehend an. „Hm. Hm.“ Zwirbelt sich ausgiebig den Spitzbart. „Hm.“ Wackelt mit dem Kopf.
„Und? Interessiert? Passt Ihnen die ins Sortiment?“
„Hm.“ Schliesslich legt er die Maske auf den Ladentisch, taucht rückwärts mit einer knappen Drehung durch den Vorhang aus Perlenschnüren und ist Sekunden später mit seinem Angebot zurück: „Das brauchen Sie, mein Herr!“ Er reicht mir einen Anzug, Hose und Jackett, von undefinierbarer Farbe. Und da werde ich mir peinlichst meiner abgetragenen Kleidung bewusst, wie überhaupt wieder meiner ganzen ungepflegten Erscheinung.
„Haben wir gerade neu hereinbekommen“, sagt der Chinese, „von weither, aus Istanbul.“
Ich befühle den Stoff und stelle eine ganz aussergewöhnliche Feinheit fest. „Aber – von der Größe her?“ „Der passt, Sie werden sehen.“ „Na schön, Sie sind der Fachmann.“ Ich stopfe die beiden Teile in die leere Tüte. „Danke sehr!“
Nur jetzt auf dem schnellsten Weg in meine Höhle! Wie schrecklich ich wohl inzwischen aussehe! Doch vor allem bin ich froh, die unheimliche Maske los zu sein.

Ich wache auf und höchstens eine Stunde ist vergangen, seit ich mich in meinem verdunkelten Apartment aufs Bett geworfen habe. Doch ist an Weiterschlafen nicht zu denken; nicht des Lärmes wegen, der aus der Gasse heraufdringt und gar beträchtlich ist; es ist die Unruhe in mir, die mich, unausgeschlafen und noch halb betrunken, wieder auf die Beine bringt.
Nach sorgfältigster Körperpflege ziehe ich zu einem frischen Hemd den neuen Anzug an und freue mich, wie sehr gut er mir tatsächlich passt. Ich betaste mit neuerlicher Bewunderung diesen überaus feinen Stoff und finde dann auch durchaus gut, was ich im Spiegel sehe; und als ich der Reihe nach die Taschen untersuche, fällt mir sogleich deren kühle, glatte, merkwürdig geräumige Beschaffenheit auf, und da kommt mir der Verdacht: Habe ich’s hier etwa mit einem Exoot zu tun? Und wenig später, als ich den Weg ins Büro unterbreche, um mir von einem Friseur die Haare kurzschneiden zu lassen, frage ich mich, dort in den Spiegel glotzend, warum wohl der Chinese Istanbul erwähnt hat.
Da merke ich schläfrig, wie mich in diesem gemütlichen Friseursessel der Tatendrang verlässt, und ganz sicher bin ich mir, dass mich gleich im Büro nichts als das Sofa in Anspruch nehmen wird.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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