I.10

Eine Runde mit Lemm

Im Regierungspalast ist heute zur Abwechslung mal richtig was los, zumindest in diesem Trakt des Gebäudes; regelrecht ein Gesumm in der Eingangshalle, Leute im Eilschritt, Leute beieinander stehend, munter debattierend; auch auf den Treppen und oben entlang der ganzen Galerie. Das Verstaubte, Düstere, die ganze Atmospäre der Verlassenheit, die hier normalerweise lastet, ist wie weggeblasen. Ich nicke grüßend da- und dorthin, Kollegen zu, die ich schon mal gesehen zu haben meine, und entnehme dem, was ich unterwegs zu meinem Büro an Geprächsfetzen aufschnappe, dass anscheinend in ganz Babaal seit nun schon vierundzwanzig Stunden die Stromzufuhr stabil ist.

Ich will mich nicht ablenken lassen, will von all dem, was ich dauernd vergesse, das Wichtigste wenigstens festhalten, so wie es mir eben beim Frühstück in der Bar gekommen war: Nicht vergessen, dass ich andauernd vergesse! – Das ist ja wohl – sag mal, bist du blöd? Ich lache: Weiss ich noch nicht; ist erst zu beurteilen, wenn ich mich besser erinnere; wenn es ist, wie ich hoffe: dass es nur das Schell-Etikett ist, was mir das Gedächtnis verklebt, und dass es, da es sich schon loszulösen angefangen hat, sich auch weiter abziehen lässt.

Die Aufgabe, die vor mir liegt, lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Der offizielle Teil: Detective Brains aufstöbern. Wobei meinem Vorgesetzten Paley nicht wirklich daran gelegen ist, wie ich vermute; nur daran, dass es mir nicht gelingt, sodass er einen Anlass hätte, mich wegen Versagens aus der Abteilung auszusondern. Der inoffizielle Teil: Monton Flyrie aus Bangot herauszuhelfen. Doch um von hier nach Bangot zu finden, würde ich Brains‘ Hilfe brauchen. Ausserdem habe ich hier noch den jungen Lemm einzuarbeiten, als meinen Nachfolger; vorher kann ich hier nicht weg.

Vor lauter Schwung halte ich gar nicht, wie sonst, respektvoll inne vor der hohen dunklen Tür, sondern bezweifle keine Sekunde, dass sich dahinter mein chaotisches Büro befindet. Und weil ich da also eintrete, ohne daran irgend etwas zu bedenken, ist es auch tatsächlich so. Nur habe ich nicht erwartet, dass jemand am Schreibtisch sitzt – der junge Lemm – und dass da der Computer läuft. „Tag, Lemm. Monalisa nicht da?“ „Nö.“ „Sehr gut. Woher hast du die Zugangsdaten?“ „Verstehe nicht.“ „Um da reinzukommen“, ich deute auf den Computer, „Passwort und so.“ „Ähm, wer braucht sowas?“ „Braucht man gar nicht? Ach …“ „Aber ist wirklich ein Witz, das Netz hier.“ „Nicht mehr lange. Wie es aussieht, gibt’s Fortschritte in der Stromversorgung.“ „Nur ist die ja nicht das Problem.“ „Nicht? Dachte ich immer.“ „Deebee hat hier stark investiert in den letzten paar Jahren. In Windkraft, Sonne, was weiss ich; Energie ist längst genug da.“ „Deebee?“ „Deadler/bloom. Buttert Geld hier rein, seit sich die Chinesen auch für diese Inseln interessieren.“ „Du hast dich informiert, Lemm … Hey, und bist mit dem Ding jetzt etwa online?“ „War ich kurz; bis wieder Schluss mit der Verbindung war.“ „Was treibst du dann?“ „Versuche, was zu schreiben. Gedanken. Sollte ich mir doch machen, sagten Sie.“ „Sagte ich? Kann sein. Lies vor.“ „Hab bis jetzt nur den Titel: Banal wie existentiell.“ „Komischer Titel.“ „Ist von Ihnen. Frage, was das heissen soll. Ob existentiell wie banal das gleiche bedeuten würde.“ „Ob existentiell wie banal genauso banal wie existentiell ist? Klingt nach Schwachsinn. Oder soll das was Philosophisches werden?“ „Eher nicht. Geht um den Elektromagnetismus. Warum der in Andria nicht so funktioniert wie sonstwo auf der Welt.“ „Das ist interessant, Lemm. Darüber halte mich bitte auf dem Laufenden. Ansonsten – wie geht’s mit dem Entzug? Dem Netz-Entzug meine ich.“ „Kein Problem. Bin nicht erweitert. Nicht mehr.“ „Erweitert?“ „Modifiziert. So wie Monalisa. Die ist mit Implantaten vollgestopft, gechipt und alles. Hat unglaubliche Möglichkeiten. Nur hier, ohne Netz, natürlich nicht.“ „Deshalb kam die mir auch gleich so posthuman vor … Und warum du nicht?“ „Nicht jeder verträgt so Implantate. Epilepsie und so weiter. Hab mir alles wieder rausmachen lassen.“

Ich sage mit einem Rundblick über das Chaos: „Unsere Top-Priorität heisst Aufräumen, und entweder bedienen wir uns eines Schredders oder wir machen auf sportlich und schleppen alles zur Vernichtung in den Keller. Aber einen so schönen Tag wie heute sollten wir nicht damit vertun; und da du sowieso baldigst mit Babaal vertraut werden solltest, drehen wir jetzt erstmal eine Runde.“

„Gestern habe ich dir gedroht, du müsstest viele Bücher lesen. Blödsinn, musst du nicht. Wichtiger ist, du schaust dir die Insel an; und nicht nur diese hier, die größte; auch die kleineren Inseln sind interessant. Zum Beispiel von Fair Island schon gehört?“ „Die Trauminsel.“ „Genau. Wo die Hotels Shambala oder Ocean Park oder The Regent heissen. Heile Welt, ein Paradies der Reichen. Gepflegtes High Life, intakte Park-Natur. Idyllisch, sauber, sicher. Pure organic. Beliebt bei Tauchern, bei Atlantis-Forschern, Walfisch-Guckern und Gourmets. Musst du unbedingt mal hin. Auch wenn du Hochkultur brauchst – da gastiert die Oberliga, des Jazz und auch der klassischen Musik. Doch zu Fair Island das Kontrastprogramm, nämlich ein Besuch auf Konkju oder Antaros, ist auch sehr lehrreich, da gibt’s Tourismus auf brutal, die All-inclusive-Masse: Fast Food, Club-Kultur, Müll und Kriminalität. Interessant ist vor allem aber Lavienta, die entlegendste der Andrianen. Die Doppelgesichtige genannt; quasi das Hollywood von Andria. Übrigens die einzige Insel des Archipels, die Livermore nicht beschrieben hat; die er nur flüchtig erwähnt. Ach ja, das Andria-Buch von Linval Livermore, das allerdings musst du lesen. Und das werden wir dir jetzt besorgen.“

Wir sind jetzt auf Babaal’s Prachtstraße, der breiten, sehr langen Avenida Etyma. Ich steuere einen der Zeitungskioske an. „Den Binocle, bitte.“ „Bedaure“, entgegnet der Verkäufer. „So ist das mit dem Binocle“, sage ich zu Lemm, „so gut wie immer ausverkauft. Dann muss uns wohl der Tag reichen.“ Der Verkäufer grinst und ich nehme ein Exemplar der Tageszeitung vom Stapel. Im Weiterschlendern erläutere ich: „The Bright Day, den gibt’s immer, hier und überall auf den Inseln. Der spiegelt wider, wie Andria aus Sicht des Bürgertums sein sollte: fortschrittlich, aufstrebend, seriös. Das Wochenblatt hingegen, The Binocle, wird vom Fußvolk gelesen, und das will wissen, was der Tag verschweigt, und will vor allem sich vergnügen. Wenn du’s öde willst, liest du also den Tag, und den Binocle, wenn du’s lustig möchtest; nur ist der eben immer sehr schnell weg.“

Das Flirten gehört für Andrianer so zum Alltag, wie für die Online-Menschen anderswo der Blick ins Smartphone. Als ich bemerke, dass Lemm auf die Frauen, die uns anflirten, kein bisschen reagiert, sage ich: „Monalisa, die ist ja recht hübsch. Findest du sie eigentlich anziehend?“ „Sexuell, meinen Sie? Nein. Ich bin asexuell.“ „Ach –“ da wäre ich fast stehen geblieben. „Das behaupte ich ja auch immer gern von mir. Aber du? In deinem Alter?“ „Weiss nicht, was Sie meinen.“

Wir sind vor einer Buchhandlung angekommen. „Hier geh ich mal kurz rein. Siehst du den, der da an der Ecke Avocados verkauft? Der hat die guten, die’s nicht alle Tage gibt. Hol uns bitte zwei davon. Hast du Andria-Dollars?“ Lemm nickt.

In der Buchhandlung frage ich nach dem Andria-Buch von Linval Livermore. Die Verkäuferin zieht es sogleich aus dem Regal. Ich schüttle leicht den Kopf. „Haben Sie es?“ Und sie versteht. Nämlich dass ich keines von den neuen will, das heisst keins von der bereinigten Sorte, von der jeder Buchladen in Babaal jede Menge vorrätig hat. Für Lemm brauche ich ein Exemplar der alten, der Original-Version. Die ist zwar nicht direkt verboten worden, nur verschwand sie einfach irgendwann und wurde durch die neue Version ersetzt; und nach einem alten Exemplar zu fragen, ist inzwischen eine heikle Angelegenheit. Ich kenne die Buchläden von Babaal und mehr oder weniger auch deren Besitzer und ihre Angestellten; sodass es nicht lange braucht, bis das Schwätzchen, das ich mit der Verkäuferin halte, an den Punkt kommt, wo die in Andria allseits beliebte Floskel angebracht ist: „Sind wir nicht alle Patrioten?“ Worauf dann der Witz folgen kann, der nun auch hier folgt: „Besonders alle.“ Sowie darauf der Zusatz: „Und ganz besonders nicht alle.“

Wir grinsen uns an und sie verschwindet; kehrt nach einer kleinen Weile zurück und überreicht mir ein als Geschenk verpacktes Buch. Ich bedanke mich, bezahle das andere, das neue, und während sie es ins Regal zurückstellt, wünschen wir uns einen schönen Tag.

Als ich herauskomme, steht Lemm da mit zwei Riesenavocados in den Händen, und wie er die so mit angewinkelten Armen in Brusthöhe hält, muss ich lachen. „Mein lieber Lemm, das sieht aber gar nicht asexuell aus!“ Er wirkt kurz verdattert, dann: „Soll ein Witz sein? Okay, verstehe.“

Wir spazieren weiter. „Die Andrianer sind große Patrioten, muss man wissen. Allerdings ist ihr Patriotismus recht speziell; nur zu verstehen, wenn man etwas über den hiesigen Royalismus weiss, wenigstens das Grundlegende.“ Ich klopfe auf das verpackte Livermore-Buch. „Nur können wir nicht warten, bis du das gelesen hast. Denn wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Und ich denke: Deshalb muss ich ihn baldigst in den Royalist Club einführen.

„Zeit? Bitte um Erklärung, Chef.“ „Chef? Das ist witzig, Lemm! Ist dir das klar?“ „Äh, nee – das nennen Sie witzig?“ „Weil ich als Chef sowas von nicht der Chef bin. Aber egal; und egal auch, warum uns nicht viel Zeit bleibt. Worauf’s ankommt ist, dass du schnell kapierst. Nicht nur, was Real-Technik überhaupt ist, sondern auch, wie man sie handhabt.“

Ich schwenke das Buch vor und zurück. „Worauf wir wandeln – solche schönen langen Prachtstraße gibt’s ja so in aller Welt –, heisst hier Avenida Etyma. Wichtig daran: du kannst sie auch anders nennen. Aber nicht irgendwie anders; nur so, dass der Name, den du ihr gibst, möglichst genau besagt, was du von ihr erkennst: was für dich ihr Wesen ist.“ Ich deute hinter uns. „Dieser Berg da in der Ferne, mit der Spitze in den Wolken, ist der Ras Azuma. So nennen die Leute ihn; auf der Landkarte heisst er Mount Malvalo. Und diese Avenida ist der letzte Abschnitt einer geraden Linie zwischen der Bergspitze dort und einer Stelle da –“ ich deute nach vorn, die Avenida hinunter –, „wo du am Ende das Denkmal siehst.“

Lemm starrt suchend in die gewiesene Richtung. „Sehe aber kein Denkmal.“ „Irgendwas siehst du doch, oder?“ „Ein paar Palmen – und dann nur noch das Meer.“ Ich nicke. „Denk einfach mal: Meer.“ „Ach so, denk mal – klar. Was heisst Etyma?“

„Merk dir die Frage. Ganz unermesslich übrigens, was ich über Babaal, überhaupt über Andria, nicht weiss. Daran erkennt jeder eingeborene Andrianer immer auf Anhieb den Fremden. Denn egal wie tief man hier auch eintaucht, wenn man Andria nicht schon mit der Muttermilch in sich aufgenommen hat, bleibt man immer einer von auswärts. Dabei ist die Rolle, in der man hier auftritt, erstmal gar nicht entscheidend; was vielmehr zuallererst geprüft wird, ist: Weisst du um das Besondere von Andria? Weisst du, dass es ein Geheimnis gibt? Erst wenn die Leute das entschieden haben – und das geht blitzschnell bei denen – differenzieren sie: Gehörst du zu den Ausnutzern? Oder bist du einer von denen, die hier lernen wollen? Und in beiden Fällen ist die nächste Frage: Weisst du es selber? Das heisst bist du dir der Ausnutzerei oder andererseits des Lernenwollens bewusst? Oder bist du überhaupt ein Ahnungsloser? Dementsprechend nämlich begegnen sie dir. Mach dir das klar, Lemm. Sonst wunderst du dich, falls du hier Ärger bekommst.“

Ich lege eine Pause ein. Ob er das soweit verstanden hat? Ich muss lachen – wie er mit diesen beiden riesigen Avocados seine liebe Mühe hat. So in jeder Hand eine, sieht es aus, als ob sie ihn im Gleichgewicht halten.

Wir sind jetzt in einer kleinen Seitenstraße. „Hier haben wir so einen typischen babaalianischen Trödelladen, eine Art Pfandleihe. Hier kann man loswerden, was man für wertvoll hält. In der Regel sehr enttäuschend, was man an Geld dafür bekommt. Aber selten, dass man in solchen Läden nichts interessantes findet.“

Ich brauche eine Weile, bis ich in der Masse von zusammengewürfelten alten Dingen das hutzelige Mütterchen entdecke, das den Plunder bewacht. Ich nicke ihr zu. „Nur mal –“, „Jaja“, krächzt sie, „immer nur gucken, nix kaufen.“

Und schon werde ich fündig: Der Säbel!

Ich nehme ihn aufs genaueste in Augenschein: Wirklich der Säbel? Der historische, der im Refugium Studierzimmer an der Wand hing? Nicht nur erkenne ich gewisse markante Scharten an der Klinge; auch taucht, sobald ich den Blick unscharf stelle, das Gegenbild dieses Objektes vor meinem geistigen Auge auf: die Vogelfeder; und damit finde ich mich sogleich in einem der alten Refugien wieder: im Hotel Olympia.

Bin allein dort in dem hohen Zimmer. Sommerhitze; grelle Helligkeit zwischen den Lamellen der geschlossenen Fensterläden; und auch alles übrige wie immer; Siesta-Atmosphäre. Da auf dem Tisch, sehr einladend, die Schreibmaschine. – Halt! Verlier dich nicht. Kehr nach Babaal zurück. Und es funktioniert; sogar ohne dass ich die Vogelfeder erst fixieren muss. Schon habe ich den alten Säbel wieder vor mir.

„Was soll denn das sein?“, höre ich Lemm fragen. Er steht, mit den Avocados in den Händen, über ein Glaskästchen gebeugt.

Ich staune: „Eine A-Kapsel – na sowas!“; blicke zu der Alten hinüber: „Ist die verkäuflich?“ „Teuer, teuer! Hundert Dollar“, gibt sie zur Antwort. Ich strecke ihr umgehend einhundert Andria-Dollars entgegen; doch da rümpft sie nur die Nase. „Merika-Dollar.“

„Hast du US?“, frage ich Lemm. Hat er. Und nachdem sie den US-Dollar-Schein, den er ihr reicht, eingehend geprüft hat, öffnet sie das Kästchen. Ich hole die kleine Kapsel heraus und halte sie Lemm vor die Nase. „Ist jetzt deine. Ich bewahre sie nur erstmal für dich auf.“ Worauf er nur mit den Achseln zuckt. „Brauch ich die?“ „Wer weiss.“ Wir verlassen den Laden.

„Kaum in Andria, schon bist du im Besitz einer A-Kapsel! Das ist großartig.“ „Wieso A? Was macht man damit?“ „A wie Azuma. Weil solche Dinger im Zusammenhang mit dem Mythos von König Azuma eine Rolle spielen. Demnächst – falls uns noch Zeit bleibt – fahren wir mal in die Berge, da gibt’s so einen alten Knacker, Heimito Wunschel, der ist in Sachen Azuma der Kenner schlechthin; weiss bei weitem mehr als ich darüber, und auch mehr noch“, ich klopfe auf das Livermore-Buch, „als hier drinsteht.“

Und was mir noch mehr die Laune hebt: dass ich den Säbel gesehen habe; also jetzt wenigstens von einem der fünf Objekte aus dem Studierzimmer schon mal weiss, wo es gelandet ist, konkret – was mir bestätigt, dass jenes Refugium nicht nur in meiner Einbildung existiert hat; und vor allem mir den Verdacht bewahrheitet, dass ich das Studierzimmer einfach deshalb nicht mehr wiederfinde, weil es sich aufgelöst hat und mir nun an Stelle dessen nur immer das chaotische Büro im Regierungspalast zur Verfügung steht.

An dieser Stelle wollen wir nicht verschweigen, dass es Andria wirklich gibt. Nur schieben sich in der Beschreibung dieser Inseln Erinnerungen an andere Inseln auf eine Weise vors geistige Auge, dass da verschiedene transparente Schichten zu einem einheitlichen Tableau werden, welches alles, was darunter an Realem liegt, vollständig überdeckt.

Wenn man einmal kennt, was Linval Livermore als den „besonderen andrianischen Zustand“ beschrieben hat – den Sightwise Accord, wie er ihn nennt, den Sichtweisen Einklang –, wenn der einen nicht mehr erschreckt, er einem vertraut geworden ist, dann kann man ihn im Grunde überall erleben, auch fernab von Andria. Doch Vorsicht, diese Erlebensweise ist untrennbar mit der sogenannten Triade verknüpft …

„Lemm, du weisst, dass es in Andria spezielle Geister gibt?“ „Hab nur von so ’nem Dämon gehört.“ „Das ist der Schutzgeist Andrias, und der ist dreigestaltig, besteht aus Lug Imago, Maya Tongue und Nominah. Wenn diese drei ihres natürlichen Zusammenhangs entbunden sind und einzeln ihr Wesen treiben, dann wirken sie dämonisch; können gar nicht anders. Dann führen sie die Unvorsichtigen auf Abwege, indem sie sie die einfachste aller Tatsachen vergessen lassen: dass die Welt zwar für uns alle wahr ist, jedoch für jeden einzelnen auf verschiedene Weise. Sodass man, wenn man unvorsichtig ist, nur noch die Welt, die man selber wahrnimmt, für wahr hält.“

„Wie kriegt man das mit? Solche Wesen stellen sich einem doch wohl nicht vor.“

„Jedes dieser drei erkennt man daran, dass es in irgendeiner Form Schutz anbietet vor den beiden anderen. Denn sie wissen nicht, dass sie zusammenwirken. Sie haben nämlich gar kein Eigenleben, kein Bewusstsein ihrer selbst, sie tun nur so; und wenn sie sich auch wissend geben, so sind sie eigentlich doch dumm.“

„Verstehe, wie KIs“, sagt Lemm. „Oder sind’s KIs?“

„Metaphern, Metaphern, was immer man sagt … Ich schlage vor, wir gehen Mittagessen. Gleich hier um die Ecke haben wir die Bar Quijote.“

Diese Bar ist ein Schauplatz, und zwar für eines der Lieblingsspiele der Andrianer: In der vage nachempfundenen Szene aus irgendeinem berühmten Film beginnt einer, in der Regel ohne Ansage, eine bestimmte Rolle zu spielen, und wer den entsprechenden Film zu erkennen meint, steigt darauf ein, wenn er Lust hat; und es wird gespielt, bis klar ist, ob die Beteiligten denselben Film vor Augen haben oder jeder einen anderen, oder ob man dabei vielleicht schon in einen Streifen geraten ist, an den noch keiner der Beteiligten gedacht hat, oder der womöglich noch gar nicht gedreht wurde.

Ich begrüße den Chef der Bar und erbitte ein Messer, zwei Teller und zwei Löffel, sowie Salz und Pfeffer. „Und dieses Prachtexemplar ist für Sie, Don Miguel.“ Damit überreiche ich ihm eine der Avocados. „Der junge Mann hier übrigens heisst Lemm.“ Darauf Miguel nur finster: „Lemm.“ Und ich zu Lemm: „Nimm’s nicht persönlich. So ist Miguel. Hat einfach keine freundliche Seite. Muss man sich mit abfinden.“

Wir verziehen uns ans leere Ende des langen Tresens, wo wir ungestört nun das andere Prachtexemplar verspeisen, während ich Lemm weiter über den andrianischen Royalismus informiere, den Royalist Club genauer gesagt:

„Den gibt’s schon seit drei- oder vierhundert Jahren, seit Anfang der Kolonialzeit. Immer eine politisch neutrale, allseits respektierte Institution, der es nie um etwas anderes ging, als die andrianische Identität im Auge zu behalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als auch Andria sich langsam zu modernisieren begann, ging’s mit der Diffamierung los. The Bright Day erwähnte die Royalisten grundsätzlich nur noch mit dem spöttischen Zusatz: die Ewig Gestrigen. Dann verschärfte sich der Ton, man bezichtigte sie einer undemokratischen Gesinnung, und es dauerte nicht lang, da warfen Politiker und Day-Journalisten ihnen antidemokratische Umtriebe vor. Dabei hatte sich der Club keineswegs politisiert; war genau das geblieben, was er schon immer war: der Kulturverein, der das Gedenken an den legendären König Azuma pflegte. 1967 deckte man eine sogenannte Verschwörung zum Sturz der Regierung auf, hinter der, nachweislich wie es hiess, die Royalisten steckten; sodass man ihren Club endlich per Gesetz verbieten konnte. Wodurch seine beträchtliche Anhängerschaft sich natürlich nicht in Luft auflöste.“

„Der Royalist Club ist also die hiesige Untergrund-Organisation?“ „Sagen wir so: Die Royalisten sind wie eh und je am Werke, nur heutzutage sehr diskret; das heisst sie sind auf ihre ganz eigene Weise patriotisch.“ Lemm nickt vor sich hin. „Weiss nicht, ob ich das verstehe.“

„Die Avocado schmeckt dir aber, oder?“ „Die ist wirklich gut. Aber von dieser einen Hälfte bin ich schon pappsatt.“ „Ja, von so einer reicht eine Hälfte immer. Merk dir in puncto Patriotismus einfach: Jeder Andrianer sieht sich als Patriot. Aber man prüft sich gegenseitig: Wie ist einer Patriot? Demokratisch oder royalistisch? Offiziell oder inoffiziell? Wobei die Königstreuen, vereinfacht gesagt, unter Demokratie Diktatur verstehen, während für die Demokratie-Fans natürlich das Königreich die Diktatur wäre.“

„Ganz schön verworren“, findet Lemm, „das heisst – eigentlich auch nicht verworrener als zuhause.“ „Falls du mit zuhause Deutschland meinst, kommt da ja sogar noch das Gendern hinzu. Nicht nur frau, auch man weigert sich inzwischen, unter beispielsweise Patriot gleichzeitig auch Patriotin zu verstehen; was ja wissenschaftlich korrekt ist, nur kriegt die Sprache davon so hässliche Pickel beziehungsweise Pickelinnen.“

„Das war jetzt wieder ein Witz, oder?“ „Ein Witz, allerdings.“

Wir verlassen, unter Miguel’s finsterem Blick, die Bar Quijote, und ich bin, während ich uns auf die Etyma zurücksteuere, unschlüssig: Ins Nationalmuseum? Das muss der Junge sehen, klar; doch soll er erstmal Livermore’s Buch lesen, dann hat er mehr davon; dann kann er sich da auch allein umschauen. Wichtiger ist, dass ich ihn Dima vorstelle … Seit ich mich allerdings in dem Wandspiegel hinter Miguel’s Tresen gesehen habe, bin ich mir wieder meines ungepflegten Äusseren bewusst. So unrasiert, so zerzaust und angeschmuddelt kann ich Dima nicht vor die Augen treten; solche Verwahrlosung toleriert sie nicht. Wütend würde sie mich sofort unter die Dusche stellen. Und Lemm hätte von ihr den Eindruck einer Furie.

Wir sind nun hier am Ende der Etyma, da wo sie sich zu einem großen Platz weitet. Ich deute auf die hohen Palmen in der Mitte: „Da stand früher das Denkmal von Andrias Entdecker. Man wurde sich aber nie einig, wer das nun wirklich war, und während irgendeiner Revolution wurde es schliesslich abgerissen. Ein vernünftiger Kompromiss, denke ich, denn dass hier anfangs nur Piraten anlandeten, weiss im Grunde jeder.“

Man kann hier, am sogenannten Platz des Entdeckers, unter den schattigen Bäumen ringsum, wie in Europa, sehr angenehm guten Kaffee trinken. „Schöner Platz, oder?“ „Kenne ich schon. Weil da drüben wohne ich.“ Lemm nickt in Richtung des großen Hotels, dessen unübersehbare Pracht würdig das Halbrund des Platzes gegen die Uferpromenade hin abschliesst. „Du wohnst im Harbour View?“ Babaal’s teuerstes Hotel. Ich staune; hatte wie selbstverständlich angenommen, dass er in irgendeinem preiswerten Guest House untergekommen sei. „Im vornehmsten Haus der Stadt, so so … Wie kommt’s?“ „Mach ich immer so. Buche einfach das Teuerste. Erspart mir die Sucherei.“ „Ach so … Na klar. Setzen wir uns.“ Nicht nur übernachtet der mal in sowas wie dem Harbour View, nein, der wohnt auch gleich da … Und nachdem ich ihn schon zweimal abgeschüttelt habe, findet er mich sogar im fernen Andria wieder … Komischer Vogel; und auch noch asexuell, wie er behauptet … Wird Zeit, sage ich mir, dass du dich mal für ihn interessierst. Denn ob er dir hier nun ein drittes Mal lästig wird, hängt ganz von dir ab.

Wir nehmen also vor einem der Cafes im Schatten der Bäume Platz.

„Lemm, erzähl: wieso bist du Praktikant?“ „Ihr Typen vom Flyshwerk nennt mich so. Weil ihr jeden nach Status einordnet.“ „Du meinst, das ist für dich, äh –“ „Irrelevant.“ „Ach so. Was interessiert dich am Flyshwerk?“ „Wie’s funktioniert. Weil sonst die Spiele nur was weiss ich sind – Zeitvertreib oder so.“ „Reicht dir nicht.“ „Nö. Bin damit aufgewachsen. Spielen kann ich sie. Auf jedem Level. Wie sie entstehen interessiert mich. Und wozu.“ „Warum deswegen gerade ins Flyshwerk? Gibt doch viele andere Hersteller.“ „Vielleicht weil ich als kleiner Stöpsel mit Azuma marooned angefangen habe“, er zuckt die Achseln, „und mir deshalb auch später die Flyshwerk-Spiele immer am liebsten waren.“ „Aber dich dann ausgerechnet an mich dranzuhängen – gibt im Flyshwerk doch wirklich interessantere Kreatoren. Oskar Pamir zum Beispiel. Der hat Format.“ „Bei dem war ich auch. Nachdem Sie mich das erste Mal abgeschüttelt hatten. Aber was Pamir macht, hat alles sowas Grandioses.“ „Ja, stimmt“, sage ich, „etwas Erhabenes, Unerreichbares. Sein Ideal ist das Perfekte.“ „Sodass man in seinen Realen immer irgendwie der Doofe ist. Und auf der persönlichen Ebene weiss er absolut nicht, was für ein Blödmann er ist.“ Ich lache laut heraus: „Pamir ein Blödmann? Dieser Gigant? Gibt doch gar keinen Gebildeteren als Oskar Pamir!“ „Ja, davon ist er vollkommen überzeugt. Deshalb wird man in seinen superklugen Realen als Spieler letztenendes nur dumm. Und ich war auch bei Götz Kobalt im Praktikum. Nachdem es Ihnen gelang, mich auch ein zweites Mal abzuschütteln. Bei Kobalt ist die Action, klar, und die ist auch genial bei ihm; gibt nirgendwo bessere; ist aber eben nur das: Action. Nur Leerlauf im Grunde. Dabei ganz okay, der Typ, nicht ganz so ein Blödmann wie Pamir. Im übrigen bin ich selber ein Blödmann.“ „Und ich?“ „Sie auch, Schell.“ „Das heisst du hältst uns alle für blöd.“ „Ich halte das inzwischen für die vernünftigste Prämisse, um über die Blödheit hinauszukommen.“

„Du sprichst jetzt so ganz anders, Lemm.“

Worauf er nickt. „So nett wie heute waren Sie noch nie zu mir, Herr Schell. Find ich gut.“ „Bitte entschuldige, dass ich solange dazu gebraucht habe. Wieso hast du nie was gesagt?“ „Hatte nie den Eindruck, dass Sie interessiert, was ich sage, oder weiss, oder wer ich bin. Bei Kobalt und Pamir dasselbe; sodass ich mir dachte, nicht zuzuhören scheint für Kreatoren normal zu sein.“ „Ich staune nur noch … Verstehe zum Beispiel, dass dir ja der ganze Azuma-Komplex schon bestens bekannt ist.“ „Nur auf der Spiel-Ebene, nur theoretisch. Wusste nicht, dass es all das, was ich aus dem Spiel kenne, wirklich gibt; dass es dieses Andria überhaupt wirklich gibt; oder dass sowas wie zum Beispiel die Azuma-Kapseln konkret tatsächlich existieren.“ „Deshalb sind Sie hier, Lemm –“ „Du.“ Er blickt mich scharf an.

Ich straffe mich. Verstehe: er für mich du, ich für ihn Sie, dabei sollten wir bleiben. Denn so ist es perfekt: der zerstreute Hilfskreator und sein traniger Praktikant. Von solch einem Duo ist nichts zu befürchten. Ich lehne mich wieder zurück, schaue herum, tue so als suche ich den Faden eines Gesprächs, das mich nicht sonderlich interessiert. „Nur verstehe ich noch nicht, was dich an ausgerechnet meiner Arbeitsweise interessiert.“ „Das Unfertige. Da bleibt in Ihren Realen immer etwas in der Schwebe, als seien sie alle unfertig, und das sind sie ja wohl auch; sodass ich jedesmal, wenn ich da aussteige, besser drauf bin als vorher, und Lust habe, selber irgendwie daran weiterzumachen.“ „Das ist allerdings ein großes Kompliment. Danke, Lemm.“

Praktikant! – Wie konnte ich nur diesen Kerl so unterschätzen? Was ich an ihm für schlaffe Tranigkeit gehalten habe, für allgemeines Desinteresse – nur weil ich eigentlich von ihm nie etwas wissen wollte! Niederschmetternd geradezu, was ich vor lauter Arroganz für ein Idiot bin!

„Stört mich übrigens nicht, als Depp behandelt zu werden. In dem Zen-Kloster, in dem ich mal ’ne Zeit verbrachte, wurde auch jeder als Depp behandelt; bis man wusste, warum, und es einem egal war. Bei den Sufis, habe ich gehört, gibt’s eine ähnliche Tradition. Und so dachte ich mir, es könnte ja auch im Flyshwerk üblich sein, die Praktikanten erstmal Demut zu lehren; und die, die’s nicht lernen, ist man dann schon mal los.“

„Um ehrlich zu sein, hast du mich einfach nur genervt. Dass man dich benutzt, mich auszuspionieren, dachte ich. Da war’s im Flyshwerk nämlich längst schon so, dass man niemandem mehr trauen konnte.“ „Ja, hab ich gemerkt, in puncto Paranoia läuft’s im Flyshwerk wie in jeder andern Großfirma. Sehr unangenehm.“ „Warum dann mutest du’s dir zu? Wie es aussieht, bist du doch ganz gut bei Kasse.“ „Wegen der Erweiterung. Die ist sehr teuer. Man kann sie von einer der Tech-Firmen bekommen, klar, aber wenn man diese krassen Verträge nicht will, muss man sie natürlich selber bezahlen. Hab deshalb so Ketten aufgebaut, Gastronomien und Autowaschanlagen, und mit der Kohle davon konnte ich einsteigen; und mit zunehmender Erweiterung wurde das Geldmachen natürlich immer leichter. Immobilien, Aktien, Vermarktung von Start-ups.“ „Sagtest du nicht –?“ „Dass ich die Implantate nicht gut vertragen habe. Dass ich sie mir habe rausmachen lassen. Und ungefähr so teuer wie die Erweiterung, war es auch, sie rückgängig zu machen. Doch da war ich mit dem Geld schon an dem Punkt, wo’s nicht mehr weniger, sondern nur noch immer mehr wird.“ „Und nebenher warst du bei mir der doofe Praktikant … Unglaublich, Lemm.“

Ich winke dem Kellner und bestelle einen zweiten Kaffee; während Lenn offenbar an seinem Glas Wasser genug hat.

„Woher wusstest du, dass ich mich nach Babaal habe versetzen lassen?“ „Wusste ich nicht.“

Ah – schon wieder! Habe immernoch nicht begriffen, dass es gar nicht um mich geht. „Hatte nicht vor, Ihnen ein drittes Mal lästig zu werden. Hat sich nur so ergeben.“ „Doch nicht zufällig!“ Lemm zuckt die Achseln. „Als ich im Praktikum bei Kobalt war, hiess es, das Flyshwerk sei verkauft, sei von der Moonrow übernommen oder in irgendwas noch Größeres eingegliedert worden; hätte inzwischen jedenfalls seine Zentrale verloren. Was Kobalt allerdings nicht glaubt; er ist überzeugt, die hätte sich nur still nach woandershin verlagert und sich abgeschottet. Fand ich plausibel; und dass er meinte, da sei nun unmöglich noch reinzukommen, hat mich natürlich gereizt. Hacke mich da also rein, und das war nun wirklich nicht leicht. Bin auf härtestes Ice gestoßen. Ohne Monalisa’s Hilfe – weiss nicht, ob ich’s überlebt hätte.“ „Weil die erweitert ist.“ „Ja, und Wahnsinnsmengen verarbeiten kann.“ „Aber du weisst, dass um nach Babaal zu kommen gar keine Rechenleistung nötig ist?“ „Tja, wenn man das Ziel kennt. Nur wussten wir ja nicht, wo es tickt, das Ding; wussten nichts von Babaal, ich meine dass es das in echt gibt. So ein Online-Spiel wie Flysh ausgerechnet von einem Funkloch aus zu steuern – wer kommt denn auf sowas?“ „Ist ’ne Story für sich.“ „Denk ich mir. Jedenfalls war uns klar, dass wir nicht in den Kern eindringen, ohne dass sie uns erwischen.“ „Und dass du hier sitzt heisst, sie haben euch nicht rausgeschmissen, sondern euch ein Angebot gemacht: Ihr dürft euch weiter in den Kern hineinbohren und dafür informiert ihr uns; oder auf kurz: Praktikum im Regierungspalast.“ Worauf Lemm nickte.

„Der Informant. Gratuliere, Lemm. In der Rolle bist du wirklich gut.“ Und ich denke: Der kennt im Flyshwerk längst die alten und auch ältesten Schichten, vielleicht sogar die Mayer-Tong-Ebene … Ich muss ihn also gar nicht erst zu meinem Nachfolger machen, er ist es schon.

„Und Monalisa und du, ihr seid –?“ „Die ist auch seit ewig im Flysh-Ding unterwegs. Hat so wie ich auch als Kind mit Azuma marooned angefangen. Wir kennen uns von einer – raten Sie mal, von welcher Plattform?“ „Schells Bureau.“ „Das sie am liebsten in die Luft jagen würde, so genervt ist sie davon.“ „So schlimm? Wieso?“ „Muss für ’ne Erweiterte einfach die fürchterlichste Zumutung sein. Diese Langsamkeit.“ „War dann gestern also gar nicht nur der Netz-Entzug, der sie so dünnhäutig machte …“ „Sie sind ihr Hassobjekt. Aber mich hält sie auch kaum noch aus. Die braucht Kontakt zu anderen Erweiterten, und vor allem Netz, sonst geht die demnächst durch die Decke.“

Ich seufze.

Vor mir liegt das als Geschenk verpackte Buch. „Ach ja … Für dich.“ Ich reiche es ihm herüber. „Danke.“ Er packt es aus, klappt es gleich auf und fängt zu lesen an.

Ich bewundere einmal mehr den schönen Einband in mattem Gold, der Nationalfarbe der Inseln. Oben der Titel in Schwarz: Andria. Unten in kleinerer Schrift: Bericht von Linval Livermore. In der Mitte dazwischen, in derselben Zeichnung wie auf der andrianischen Staatsflagge: das Kolibri-Pärchen.

Ich nehme mir den Bright Day vor. HELLE NACHT IN BABAAL, so lautet die Schlagzeile zu einem euphorischen Hymnus auf die Stadtwerke, die es nun tatsächlich vollbracht haben, die ganze Hauptstadt zum erstenmal seit Menschengedenken ohne eine einzige Unterbrechung rund um die Uhr mit Elektrizität zu versorgen.

Der Artikel darunter berichtet gleich von einer weiteren historischen Großtat: Nach monatelangen Verhandlungen zwischen der andrianischen Regierung und einem multinationalen Technik-Konsortium ist gestern feierlich der Vertrag zum Aufbau eines neuen Funknetzes unterzeichnet worden; und dieses spezielle neuartige Netz werde, wie es heisst, trotz der hiesigen Anomalie endlich auch in Andria eine stabile Drahtlos-Übertragung ermöglichen. – Und wieso weiss ich davon nichts? Wo ich doch aktiv in die Regierung verwickelt bin? Dann ist ja klar, warum mein Büro jetzt digitalisiert werden soll!

Aber ist das nicht auch schon egal? Ich will doch sowieso hier raus.

Und dann finde ich noch im Kulturteil etwas interessantes: Weltberühmtes Trio in Babaal zu Gast. Es wird eine Reihe von Konzerten auf Fair Island geben, und der Musikverein ist überglücklich, die Musiker dafür gewonnen zu haben, hier, bevor sie weiterreisen, wenigstens ein Konzert zu geben. Heute Abend. Und weil da steht, dass sie Schubert’s Klavier-Trio in Es-Dur spielen werden, gehe ich da auf jeden Fall hin.

Und dass der Geiger, lese ich, eine Guarneri spielt – worauf ich sofort an Brains denke: Ist nicht seine große Leidenschaft die Violine? – Deshalb, na klar – okay, Paley, ich werd dir erzählen, warum sich Detective Brains in Babaal aufhält.

Da klappt Lemm das Buch zu. „Sind wir fertig für heute? Sonst würde ich gern nach Hause und mir das mal durchlesen.“ „Klar. Gut. Mach das“, sage ich. „Morgen Vormittag irgendwann im Büro.“ Er steht auf, und da sehe ich Monalisa herankommen – und wen hat sie im Schlepptau? Rivera. „O je, Lemm, guck mal!“ „Hi, Monalisa.“ „Was hast du da?“ „’n Buch.“ „Ach du Scheisse, bestimmt von dem da!“ Sie wirft mir kurz einen vernichtenden Blick zu. „Wir müssen reden, los, komm mit!“ Schon hat sie ihn beim Arm gepackt und führt ihn ab; diesen Eindruck macht es jedenfalls. Und Rivera, erschöpft, sinkt mit einem „Ufff“ auf den Stuhl mir gegenüber. Ich grinse ihn an. „Bezaubernd, nicht wahr? So ist Erweiterung.“ „Soll heissen?“ „Implantate. Die junge Dame kann Unmengen von Daten verarbeiten. Wenn sie Netz hat.“ „Hat sie hier aber nicht – ach so! Deshalb ist die so im Overdrive!“ „Die Arme. Hoffentlich macht sie mir jetzt den Lemm nicht kaputt.“

Rivera bestellt Rum. „Noch ein bisschen früh dafür, ich weiss. Aber mir reicht’s für heute. Sag die Wahrheit, Schell: Hast du die auf mich angesetzt?“ „Ich bekenne: Hab daran gedacht; aber dazu kam’s nicht. Sie hasst mich.“

Rivera nickt vor sich hin; denkt nach. Einmal mehr bewundere ich seine makellose Erscheinung: Old School in feinster Vollendung, inklusive dem Veilchenduft verströmenden Tüchlein am Jackett. Er bemerkt meinen Blick. „Was ist?“ „Siehst mal wieder wie aus dem Ei gepellt aus.“ „Du dagegen … Ich muss schon sagen, Schell, wie du herumläufst dieser Tage …“ „Wie ein Penner, ich weiss. Und so komme ich mir auch vor.“

Der Kellner bringt den Rum. „Und bitte diesem Herrn auch gleich einen“, sagt Rivera, „Sie sehen doch, wie der den braucht!“

Ich nicke; und man schmunzelt.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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