S.2

Sei Maske, Gesicht!

Nach einer Busfahrt bis zur Entstation meine ich mich nun am nördlichen Rande von Istanbul zu befinden. Der nur von den Scheinwerfern einiger Fahrzeuge spärlich beleuchtete Platz, den ich aufs Geratewohl überquere, scheint ein Park zu sein, und trotz der späten Stunde herrscht da unsichtbar unter den schwarzen Bäumen ein reges menschliches Treiben.
Was ich suche, ist ein Lokal. Ich brauche dringend etwas zu trinken; und wenn ich mir meine nächsten Schritte überlegt habe, werde ich sicher telefonieren müssen.
Kaum habe ich es mir konkret genug vorgestellt – inklusive einiger Typen in Uniform, die mich, als ich hereinkomme, kurz taxieren – sitze ich schon an meinem Tischchen, ringsum Männer, palavernd bei Tschai und Wasserpfeife, und höre aus dem Fernseher, der hinter mir an der Wand hängt, eine amerikanische Schauspielerstimme sagen:
„Worüber so empört, mein Freund? Ich bin keine Bestie, nur Geschäftsmann. Zwinge mich nicht, das zu vergessen.“
Und ein paar Sekunden später dieselbe Stimme: „Tun Sie, was nötig ist.“
By any means necessary … Der Kill-Befehl unter Gringos.
Warum von all den Standard-Formeln höre ich jetzt gerade diese?
Ich bin alarmiert, und das heisst: Ich befehle meinem Gesicht, eine Maske zu sein.
Das habe ich lange nicht mehr gedacht. Meine private Formel, die mir früher in peinlichen Momenten half, mein Schamgefühl zu verbergen. Sie machte mir mein Gesicht bewusst, ohne dass es erst heiß und rot werden musste. Routine inzwischen. Ich brauche den Befehl nicht mehr, mein Gesicht wird Maske ganz von selbst. Wenn sie noch hin und wieder aufblitzt, diese Formel, so immer mit leiser Wehmut verbunden, erinnernd an die Zeiten jugendlichen Leidens, als Scham noch eine Empfindung war, die brannte.
Doch wo ist hier der Auslöser? Wo ist die Frau?
Keine Frauen weit und breit, das Lokal ist reines Männer-Territorium. Und gerade deshalb komme ich darauf, na klar – weil so auffällig ist, was hier gänzlich fehlt.
Was man versteckt, wird unsichtbar, geheimnisvoll, und nur umso begehrenswerter, je weniger man davon weiss. Man weiss nur: rund, warm, weich.
Vor mir auf dem kleinen quadratischen Holztisch ein Gläschen und eine silbrige wohlgeformte Teekanne. Geometrie, denke ich, und sehe ein schwarzes Objekt vor meinem geistigen Auge, das Gegenbild: eckig, kühl, hart.
Ich muss an die Kaaba denken, das schwarze Quadrat, Allerheiligstes der islamischen Welt, strengstens geschützt im Zentrum des heiligen Mekka, von Millionen Menschen aufs innigste verehrt; und an einer ihrer vier Ecken der berühmte schwarze Stein.
Als Rätsel gedacht? Als Prüfstein für den wahren Glauben? O nein. Ganz im Gegenteil.
Ich erstarre. Das darfst du nicht wissen.
Da kommen sie humpelnd zur Tür herein: die beiden Mongolen.
Kein Zweifel, es sind genau die: Sgyulus und Sprosbral.
Schon haben sie mich entdeckt; steuern grinsend auf mich zu; lassen sich ächzend rechts und links an meinem Tischchen nieder. Der eine sagt: „Vorhin auf der Brücke, das war gar nicht so ernst gemeint“, und der andere: „Anders als vielleicht nächstes Mal.“
Wie sehr ich da versteife, bekomme ich erst tags darauf in meiner Nackenmuskulatur zu spüren. Ich schaue zu den Uniformierten hinüber. Doch die beachten uns nicht.
Sei Maske, Gesicht!
„Was wollt ihr von mir?“
Die beiden schauen sich an. „Wollen wir was von ihm?“ Sie schütteln die Köpfe.
„Ich will wissen, warum ihr mich verfolgt.“
„Du hast uns mit was beworfen und das ist explodiert.“
„Ihr habt versucht, mich zu erschiessen!“
„Wie gesagt, das war nicht so gemeint.“
„Aber warum? Warum habt ihr mich angegriffen?“
„Wir sollen dich daran erinnern, zu vergessen.“
Ich blicke entgeistert vom einen zum andern. „Und was zu vergessen?“
„Kennst du Ronin, diesen alten Gangsterfilm?“
Ich seufze nur und nicke.
„Da jagen die doch wie wild einem Köfferchen hinterher und murksen sich ab, aber es bleibt ein Rätsel, was da eigentlich drin war.“
Ich zucke ratlos die Achseln. „Ja, und?“
„Idiot! Denk nach! Was war da drin?“
„Na, vielleicht ein Zettelchen, auf dem stand: Hollywood.“
„Bingo!“ Und die beiden strahlen mich begeistert an.
Nun bewegt der eine langsam seinen Zeigefinger auf meine Stirn zu, mit den Worten: „Und was ist da drin? Auch so ein Zettelchen?“
Jetzt werden sie mir erst so richtig unheimlich, diese zwei Mongolen. Sind das überhaupt Mongolen? Sie reden und benehmen sich wie Gringos.
Ich sehe nun das Zettelchen in meinem Kopf schon vor mir; sehe da etwas Geschriebenes, und wie die sich langsam nähernde Fingerspitze genau darauf zielt … Und begreife endlich, was hier eigentlich läuft.
Bevor ich entziffern kann, was auf dem Zettelchen steht, und das heisst gerade bevor die Fingerspitze meine Stirn berührt, lasse ich das Zettelchen sich abrupt zusammenknüllen.
Sofort zieht der Mongole seinen Finger zurück. Er wechselt mit dem anderen einen Blick, dann stehen sie wortlos vom Tisch auf und humpeln in die Nacht hinaus.

Es ist nicht immer leicht auszumachen, wer gerade bewusst im selben Real ist wie ich. Klar wird mir das in der Regel erst, wenn ich mit jemandem in der universalen Sprache der Real-Realität kommuniziere; wozu ich aber nur befähigt bin, sofern mir nicht nur der Real-Zustand bewusst ist, sondern auch der Zustand meiner Bewusstheit.
Kann man sich im Real-Zustand auch seiner Unbewusstheit bewusst sein?
Darum ging es bei dem Duell mit den Mongolen.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
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  • Kellner
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  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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