B.1

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Die hohe Tür, alt, aus dunklem Holz, kommt mir bekannt vor; und wie ich da stehe, lauschend, nachdem ich gerade angeklopft habe, fühlt sich das wie ein Deja-vu an. Wie neulich, wie damals, wie vor drei Jahren …
Diesmal erwarte ich keine Antwort auf mein Klopfen. Frage mich stattdessen: Ist das wieder der Ausgang? Damals bin ich hierher gesteuert worden, durch ein labyrinthisches Gebäude, Telesterion genannt; das sich in Babaal befand, der Hauptstadt von Andria … Woher komme ich diesmal?
Bin aber auch damals nicht zum erstenmal hier eingetreten … Wer weiss, wieviele Male mir diese Tür schon zum Ausgang von irgendwo diente …
Werde womöglich da drinnen wieder genau das erfahren: woher ich diesmal komme.

Abendlicht. Die beiden hohen Fenster geschlossen. Stille. Niemand ausser mir im Raum. Kein Tabakduft diesmal. Und nicht wie damals jene Atmosphäre, als sei noch eben jemand hier gewesen.
Auch in diesem Halbdunkel ist alles sofort wiederzuerkennen: links der Schreibtisch mit dem Lehnstuhl vor der Bücherwand; rechts der Sessel, das Teetischchen, das Sofa und das Renaissance-Gemälde.
Ich war mir damals sicher, noch nie hier gewesen zu sein, und es verwirrte mich, dass trotzdem alles sich im einzelnen vertraut anfühlte. Ich war ein Besucher, davon ging ich aus, und da niemand da war, kam ich mir in diesem privaten Studierzimmer wie ein Eindringling vor. In der Annahme, dass die Person, die hier arbeitete, gleich wiederkäme, nahm ich in dem Sessel Platz und wartete.
Nach einer logischen Erklärung für diese merkwürdige Situation suchte ich vergebens. Es lief auf die Frage hinaus: Wie wirklich war das Ganze?
Es kam mir dabei seltsam vor, dass ich das Seltsame gar nicht bedrohlich fand. Und woran ich mich ausserdem erinnere: Ich hatte gegen eine enorme Müdigkeit anzukämpfen.
Jetzt bin ich keineswegs so müde; aber fühle mich auch diesmal von der Seltsamkeit der Situation nicht irgendwie bedroht. Ich weiss, wo hier die Lichter angehen; knipse die Stehlampe beim Sofa an, dann die am Schreibtisch, dann noch eine Wandleuchte zwischen den Bücherregalen.
Damals, nachdem ich lang genug gewartet hatte, kam ich zu dem Schluss, dass der, auf dessen Rückkehr ich wartete, wahrscheinlich niemand anderer als ich selbst war. Trotzdem wagte ich nicht gleich, herumzustöbern; vielleicht, weil ich zu müde dazu war. Deshalb wagte ich es schliesslich, mich auf dem Sofa auszustrecken.
Ich habe zwar wieder das Gefühl, ein Besucher zu sein, aber diesmal warte ich nicht. Auch wenn das ein Traum sein sollte, denke ich, bin ich hellwach. Erinnere dich: Was hat es mit diesem Studierzimmer auf sich?
Was sind das da zwischen den Bücherregalen für Objekte? Was bedeuten sie?
Das Wappen der Royalisten.
Der historische Säbel.
Die Maske.
Die Daguerreotypie.
Und fünftens, vis-a-vis an der Wand überm Sofa, das alte Gemälde.
Jetzt weiss ich’s wieder – das Gegenbild-Prinzip!
Diese fünf Objekte sind Schleusen. Sie bringen mich, wenn ich sie auf richtige Weise sehe, an meine alten Rückzugsorte, in die Refugien. Dort befinden sich die Gegenbilder dieser Objekte, und durch sie gelange ich – auch wieder das richtige Schauen vorausgesetzt – von dort hierher zurück. Fünf Refugien, heisst das, sind in diesem Raum enthalten, und dieser Raum selbst, das erkannte ich damals, stellt ebenfalls ein Refugium dar.

Das Gemälde – 16. Jahrhundert, schätze ich – zeigt die Kreuzigung Christi. Später Abend, Gewitterstimmung; rätselhaft, was dem verfinsterten Himmel diese enorme Höhe und Tiefe verleiht. Unten im Dunkel die Figuren, wie sie auf zahllosen Darstellungen der Golgatha-Szene zu sehen sind: Soldaten, Priester, Klagende und Gaffer, alle klar umrissen und doch nur Schattengestalten. Und sehr klein eigentlich in der ganzen Düsternis, doch leuchtend – genau aus der Mitte zwischen Himmel und Erde herausleuchtend –: der nackte Leib des Gekreuzigten.
Da hindurch bin ich damals in eine Dachkammer geraten, in das Refugium „Mansarde“.
Durch die Daguerreotypie, welche den berühmten Sioux-Häuptling Sitting Bull zeigt, bin ich in ein Apartment am Meer gelangt: Refugium „Gran Puertito“.
Die Maske, die immer wieder andere Gesichter zeigt – offenbar ein magisches Objekt –, versetzte mich in ein mit interessantem Kram gefülltes Haus in Frankreich: Refugium „Kunst-Ruine“.
Der altertümliche Säbel brachte mich in eine Hafenstadt in tropischen Gefilden: ins „Hotel Olymp“.
Durch das fünfte Ding schliesslich, das Wappen der Royalisten, landete ich in einer Berglandschaft, wo das Refugium aus einem hübschen Holzhäuschen bestand, der „Haiku-Klause“.

Diesmal nehme ich nicht in dem Sessel Platz, sondern am Schreibtisch. Da steht sie, die alte Reiseschreibmaschine, und auch jetzt erinnert sie mich sofort wieder an alte Zeiten – an Jamaika, wo ich auf genau so einer Maschine herumgehämmert habe – oder auf derselben? – Ach, war das ein Vergnügen, immerzu bis tief in die Nacht, tick-tick-tick, in die Ozeanbrandung zu hämmern! – Ach schweig, verdammte Nostalgie!
Als ich damals durch die fünf Objekte hindurch in meine alten Refugien hineinschaute, stand dort in jedem, wie im Zentrum, so ein Schreibgerät mechanischer Art – noch nicht vernetzt, heisst das, noch fern vom Netz; noch nicht, wie es damals hiess, „am Draht“. Auch dies Detail, scheint mir, ist von Bedeutung.
Ich prüfe die Stimmung. Sie ist ganz ähnlich der, an die ich mich erinnere: friedvoll, gemütlich, in Ordnung. Nur dass ich jetzt vor Müdigkeit nicht wie betäubt bin; und dass ich weiss, was hier damals vor sich ging: dass ich die Entstehung eines neuen Refugiums erlebte.
Ausser einer Schreibmaschine gibt’s in jedem Refugium auch einen Spiegel, prinzipiell, und es brauchte damals eine Weile, bis ich entdeckte, was hier die Funktion des Spiegels erfüllt, nämlich die Maske. Dieses unheimliche Ding, das sich andauernd verändert … Ein interessantes Requisit, das, so denke ich, sicherlich noch Überraschungen zu bieten hat.
Neben der Schreibmaschine ein Stapel beschriebenes Papier, beschwert von einem Aschenbecher aus dunklem Speckstein. – Der Aschenbecher, der ebenfalls in keinem der Refugien fehlt: Hinweis auf das Klischee des qualmenden Schriftstellers. Ein Denkmal. Hier in Form einer schlichten ovalen Schale, die ich eigentlich nur deshalb als Aschenbecher klassifiziere, weil eine halb gerauchte Zigarre darin liegt. – Noch derselbe Stumpen? Sieht so aus. Nur dass der damals noch gequalmt haben musste, kurz bevor ich hier eintrat, denn es hing noch ein Rauchschleier im Raum und ein Zigarrenduft. Davon ging der erste Eindruck aus, den ich bei meinem damaligen Eintritt hatte, und der die ganze Atmosphäre weiterhin bestimmte: dass eben noch jemand hier gewesen war.
Ich versuche mir diesen speziellen Geruch zu vergegenwärtigen; erinnere mich, dass er mir vage bekannt vorgekommen war. Süßlich-erdig, eindeutig aber nicht der Duft einer normalen, einer kubanischen Zigarre zum Beispiel …
Und jetzt hab ich’s: Mapacho. Dschungelkraut. Der „starke Tobak“ der Schamanen Südamerikas.
Ich kenne nur einen, der sowas raucht: Forty Operas.
Damit wird die Sache schon klarer. Forty O. ist ein Multi-Dimensional Operator, ein MDO, und nur einem solchen ist es überhaupt möglich, sich auch auf einer Ebene wie dieser herumzutreiben. Und daraus ist zu schliessen, dass damals er es war, Forty Operas höchstpersönlich, der mir dieses neue Refugium eingerichtet hat.

Ich habe es bis jetzt vermieden, meinen Blick auf das in die Schreibmaschine eingespannte Blatt zu werfen. Ein Gefühl sagt mir, dass es in diesem Refugium darauf ankommt, mich zu beherrschen; weil es genau das war, woran es mir in den fünf früheren Refugien fehlte: Selbstbeherrschung.
Diese Neugier zu zügeln war mir damals immerhin auch gelungen. Obwohl mich extrem interessierte, was auf diesem eingespannten Blatt wohl stehen mochte, hatte ich mich damit begnügt, nur der anderen großen Versuchung nachzugeben, nämlich mich auf dem Sofa erstmal auszuschlafen.
Ich wachte dann im Dunkeln auf, in einer Koje, auf einem Schiff, bei heftigem Sturm … Und war dann lange wach; ging in Babaal von Bord, auf der Insel Andria, und machte ein paar sehr merkwürdige Erfahrungen. Bis mich die Begegnung mit einer leibhaftigen Löwin zum Ausweichen zwang und ich dadurch in so ein labyrinthisches Bauwerk geriet, ins Telesterion, und dann von dort aus hier herein, wieder an den Anfang, gewaltig ermüdet von diesem paradoxen Überholmanöver in der Zeit. Eine Traumgeschichte eigentlich; nur dass ich sie nicht träumte …

Das Blatt steckt so in der Maschine, dass nur höchstens zwei oder drei Zeilen darauf getippt sein könnten. Schau nicht hin, sage ich mir, du wirst enttäuscht sein, höchstwahrscheinlich steht da nämlich – noch gar nichts.
Ich wende mich dem Stoß Papier zu, dem Manuskript. Das von mir stammt, wie ich vermute. In dem vielleicht zu lesen ist, was ich wissen muss; zum Beispiel von woher ich diesmal hier herein gekommen bin.
Ich stelle die Specksteinschale, die zur Beschwerung dieses Stapels loser Blätter dient, beiseite, mit kurzem Frageblick auf den Zigarrenrest – wohin mit dir? –, bevor dann doch mein Auge zufällig erfasst, dass auf dem eingespannten Blatt nicht nichts steht, sondern zu meiner Überraschung tatsächlich etwas:
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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

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  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
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  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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