S.1

Und plötzlich Istanbul

Es klingelt.
Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt zum Telefonieren. Ich renne gerade volles Tempo, nachts, auf einer langen Brücke, und zwei Mongolen knattern auf einer Vespa neben mir her und schiessen auf mich.
Das Klingeln kommt aus meiner Jackentasche, laut und deutlich, und ich denke, das kann nicht sein, ich hab doch gar kein Handy. Aber es klingelt weiter. Habe jetzt keine Zeit dafür. Diese Brücke ist lang, sehr lang. Sie überspannt den Bosporus.
Ich renne gerade von Asien nach Europa hinüber. Zum Glück ist da dieses Geländer zwischen mir und den Verfolgern. Der Schütze auf dem Sozius des Rollers ist jetzt mit dem Nachladen seiner Pistole beschäftigt.
Wieso plötzlich hier? Weiss ich nicht. Doch weiss ich, wie diese zwei Typen heissen: Sgyulus und Sprosbral.
Es klingelt weiter. Zu meiner Rettung etwa? Oder ist das womöglich eine Höllenmaschine? Ist ein Versuch wert … Ich rupfe mir das klingelnde Ding aus der Tasche und schleudere es übers Geländer auf die Fahrbahn.
Es prallt an einem der Mongolen ab und eine Sekunde später kracht es. Ein kurzes Abheben, ein Schub nach vorn … Die Druckwelle. Aber ich bleibe auf den Füssen. Renne weiter. Und meine Verfolger?
Sind gestürzt, soweit ich erkennen kann; rappeln sich aber schon wieder auf. Der eine zerrt an dem Motorroller herum, der andere versucht mir nachzusetzen, allerdings stark humpelnd. Was ihn nicht am Weiterschiessen hindert.
Wielange wird man hier als Fußgänger unbehelligt mit einer Pistole herumballern dürfen? … Ich renne weiter auf Europa zu. Und da setzt Empörung ein:
Das ist absolut illegal! So fängt kein normales Real an. Nur eines, das mich umbringen soll, beginnt so abrupt in einer Action-Szene auf Leben und Tod. Ich bin auf sowas nicht vorbereitet, ich habe das nicht gebucht!
Üblicherweise fangen die Reale gemütlich an, mit einem Besuch im Archiv zum Beispiel, bei dem ich mich über das Thema der anstehenden Mission informieren kann. Oder zumindest kommen rechtzeitig Hinweise auf die Art der Gefahren.
Aber das hier … Wem fällt sowas ein? Ich blicke zurück. Sehe sie nicht mehr. Hab ich sie abgehängt? Renne lieber weiter volles Tempo.
Was für eine Sauerei – mir Sprengstoff ins Sakko zu pflanzen!
Allerdings, wie sonst hätte ich diese Mongolen abgewehrt? Noch interessanter die Frage: Warum wollen die mich killen? Ich kenne die eigentlich gar nicht. Nur ihre Namen, denn die sind ja nun wirklich einprägsam: Sgyulus und Sprosbral.
Urzeiten ist es her, dass ich mit denen mal zu tun hatte … Irgendeine verworrene Sache in Zürich … Waren auch damals schon so komisch, die beiden, so extrem entschlossen, so mechanisch, und doch irgendwie chaotisch.
Ich werde langsamer. Kann einfach nicht mehr.
Wach auf. Oder finde einen anderen Ausweg. Dieser Stress ist ungut. Ganz schlecht für die Gesundheit. Soll wahrscheinlich ein Training sein. Oder eine Lektion in Sachen Halluzination und Voreingenommenheit.
Mir reicht’s jedenfalls.
Die Welt ist doch sowieso voller Spannung, voller thrill, und man darf sich ruhig mal fragen, ob es eigentlich erstrebenswert ist, noch dauernd zusätzlich gethrillt zu werden.
Der übliche thrill basiert auf einem einfachen Reaktionsmuster, das systematisch auszulösen Sache von Spezialisten ist, und die, wie alle Spezialisten, ob Kraftfahrer oder Konzernlenker, Priester oder Pianisten, sind den Automatismen ihrer Branche unterworfen.
Automatismen lassen sich in der Regel austricksen. Daran sollte man sich unbedingt erinnern, falls man in einem Real landet, das auf thrill angelegt ist; man könnte sich sonst vor Angst in die Hosen machen, oder das Herz könnte aussetzen, unnötigerweise.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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