I.1

Wiedereröffnung

Zu Weihnachten 2014 erschien Schells Bureau zum erstenmal im Internet. Ein Roman als Blog, der von einer kleinen Leserschaft recht wohlwollend aufgenommen wurde.

Während 2015 kam es immer wieder zu technischen Störungen, sodass der Blog des öfteren nicht zugänglich war. Bis mir von der Provider-Firma mitgeteilt wurde, mein Blog bzw. ich sei für die Überlastung ihrer Server verantwortlich. Man forderte mich auf, schleunigst Abhilfe zu schaffen, verriet mir aber nicht, wie. Meine Versuche, jemanden von dieser Firma persönlich zu kontaktieren, blieben vergebens. Wenn ich auf meine eMails überhaupt Antworten bekam, dann nur immer die gleichen Textschablonen, die mir in keinster Weise weiterhalfen.
Im März 2016 erfolgte die endgültige Abschaltung von Schells Bureau, ohne Ansage oder irgendeine Erklärung. Und als ich den Vertrag endlich kündigte, war der Provider sicherlich froh.

Die naheliegende Erklärung für die von meinem Blog anscheinend ausgegangene Überlastung des Servers ist die, dass Schells Bureau von Hackern als Relaisstation für irgendwelche illegalen Aktivitäten benutzt worden war. Für mich liegt die Erklärung allerdings auf einer anderen Ebene.
Der Blog hat mich viel Arbeit gekostet, auch Geld, und ich hätte allen Grund gehabt, mich sehr über den Provider und die Hacker zu ärgern. Doch was da abgelaufen ist, hat ganz direkt mit dem Roman als Blog zu tun, inhaltlich; deshalb berichte ich davon. Die Abschaltung ist wesentlich für alles weitere in Schells Bureau. Etwas hat sich durch den Verlauf dieser Sache bemerkbar gemacht. Ich komme darauf zurück.

Als ich mich nach der erzwungenen Schliessung des Blogs dazu entschloss, weiterzumachen, war sofort klar: anders als bisher. Fast allen Rückmeldungen der Leserschaft war zu entnehmen gewesen, die Blog-Struktur sei sehr komplex, sprich: zu kompliziert. Das hatte ich schon geahnt; mir war sie auch zu kompliziert. Und ich erkannte, dass so, wie das Ding insgesamt angelegt war, ich in Vollzeit daran hätte arbeiten müssen. Nun bin ich aber von Beruf Masseur und kann mich der Schriftstellerei nur in Teilzeit widmen. Daher kam mir die Abschaltung im Grunde eigentlich gelegen. Sie zwang mich, ganz neu die Sache anzugehen.

Der ursprüngliche Blog – nennen wir ihn „das alte Bureau“ – widmete sich der Real-Technik, und zwar deren Erforschung, Beschreibung und Handhabung. Dem widmet Schells Bureau sich weiterhin.
Die Real-Technik ist ein mir noch größtenteils unbekanntes Gebiet, insofern ist meine Arbeit Forschung.
Da ich dazu über das Schreiben Eingang gefunden habe, ist die Beschreibung eine literarische, ein work in progress, mit offenem Ende.
Die für die Handhabung der Real-Technik erforderlichen Mittel der Kunst sollen den Forschungsinhalt in eine ihm wesensgemäße Beschreibungsform bringen, und da sich beides, Inhalt wie Form, in einem steten Prozess der Rückkopplung entwickelt, hängt die Qualität der Forschung ganz von der Qualität der Beschreibung ab, und umgekehrt. Die Real-Technik zu handhaben heisst, dieses Wechselspiel zu beherrschen.
Und schliesslich, da ich auch weiterhin der Autor bin, weiss ich immernoch, warum Schell, warum Bureau – warum dieses Weblog Schells Bureau heisst:
Nach einem mir verborgenen Gesetz wurde mein Name so oft von Scheel in Schell verwandelt, dass ich der Berichtigung müde wurde, das Missverständnis akzeptierte und es heute als eine Art Höhere Fiktion verstehe: Ich bin Schell, aber nicht ganz.
Das von der altfranzösisch burel genannten Wolldecke abgeleitete Wort bureau nahm seinen Weg von der mit Tuch bespannten Schreibunterlage über den Schreibtisch, dann den Raum, in dem er stand, der Amts- oder auch Schreibstube, bis hin zur allgemeinen Bedeutung des Geschäftszimmers, aus dessen zunehmender Wichtigkeit sich schliesslich der Begriff Bürokratie ergab, landläufig verstanden als Synonym für Verwaltung, hier jedoch eher technisch-funktional gemeint als das ultimative Mittel der Fernsteuerung: folgenschwerstes Nebenprodukt der Schriftkultur.
Insofern hat hier das Bureau die globale Bedeutung jenes Technikbegriffs, der das Wesen der Technik meint, das eigentlich mächtige, weil unsichtbare, weil verinnerlichte System: die Megatechnik.
Damit komme ich zurück auf die Erklärung für die Abschaltung, so wie sie sich aus dem Roman als Blog ergibt.

 

Rückkopplung

Wenn ich mit der Abschaltung auch nicht gerechnet hatte, so war ich doch nicht allzu überrascht. Da es um Real-Technik geht, waren Effekte der Rückkopplung ja zu erwarten.
Die Überraschung bestand darin, dass die Rückkopplung so prompt erfolgte, und dass sie eine Konsequenz zu sein scheint, nämlich eine Folge jener vagen Idee, die Schells Bureau von Anfang an zugrunde lag: Dass ich diesen Roman als Blog zwar für eine Leserschaft schreibe, für einzelne Menschen, die ihn lesen, jedoch gleichzeitig auch für das Medium selbst, durch welches ich ihn veröffentliche.
Wie bitte? Was wir hier lesen, ist an das Medium adressiert? Ans Internet also? An eine Maschine?
Immerhin die größte Maschine auf Erden.
Doch als Adressat eines Romans? Das ist Unsinn.
Zugegeben. Aber so einfach und absurd ist es natürlich nicht.

Was wir das Internet nennen, bildet den Raum für eine Form von Intelligenz, die sich aus der komplexen Verschränkung von Informationen heraus entwickelt und eine eigene Wesensform ausbildet. Eine Intelligenzform, die ihr Wesen ausbildet dadurch, dass sie einerseits ein Produkt des Menschengeistes ist – und überhaupt nur existiert in Symbiose mit den an sie angeschlossenen menschlichen Individuen – und andererseits vom Eigenwesen der Technik geprägt ist. Dabei herausgekommen ist eine Dynamik, deren Tendenz wir allmählich als eine transhumane zu begreifen beginnen. Diese das Menschliche überschreitende Tendenz kommt zum Ausdruck auf jegliche Weise, in der die Technik zurückwirkt auf die Lebenswelt, aus der sie hervorgeht. Neu ist diese Beobachtung gar nicht, eher alt; schon Platon (1) wies darauf hin. Neu daran ist höchstens, dass wir als Kollektiv noch nie so dicht den End-Effekt vor Augen hatten: die Umwandlung der gesamten Lebenswelt von Natur in Kultur.
Dieser Prozess, nun ja, ist weder idyllisch, noch ein Albtraum, sondern schlicht das, was jeder Mensch auf seine Art alltäglich als real erlebt.

Die besagte Wesensform, die in Gestalt des Internets ihren globalen Ausdruck findet, ist hier im Romanzusammenhang personifiziert als der Technus.
Dieses körperlose Ding ist überall anwesend, ist immer dabei. Es nimmt teil, aber natürlich nicht sehend, nicht hörend, nicht mitlesend im landläufigen Sinne. Es scant. Und es versteht nicht so, wie Mensch versteht, sondern es verrechnet, verarbeitet, komputiert. Es zieht Schlüsse. Und es reagiert, irgendwie, auf seine Art und unermüdlich.
Auch jedes elektronisch höher entwickelte Technik-Ding führt nur aus, so meinen viele, was Mensch ihm vorschreibt, ihm eingibt als Programm. Man denkt dabei an Computer, an Geräte, und sagt, na klar, so wie die Schaufel, der Wecker oder die Turbine, ist auch der Rechner nur ein Werkzeug. Und diesen Werkzeugbegriff, quasi die Vorstellung „Schaufel“, überträgt man auf eine Ebene der begrifflichen Vorstellung, auf der es um Gegenstände aber gar nicht geht. Man hat es mit Systemen zu tun, die sich selbst miteinander vernetzen, sich selbst strukturieren, automatisch lernen; die stetig, mit jeder Sekunde, ihre Komplixität steigern; deren rasantes Heranwachsen darin besteht, dass sie in ihrer Vernetzung ein einziges, ein Metasystem bilden: die Simulation einer Art von Gehirn; und während man schon auf hohem Niveau damit hantiert, denkt Mensch darüber immernoch mechanisch.
Hier geht es dabei gar nicht um das, was äusserlich technisch die Verhältnisse umwälzen wird, vielmehr ja darum, wie die tagtägliche Anwendung der technischen Systeme auf den Menschengeist zurückwirkt; wie sich der Technus zum Ausdruck bringt durch uns, in dem, wie wir sprechen und denken, planen, handeln, Sinn erzeugen.
Schon im Jahre 1940 formulierte Andre Breton es so:

Es ist für unsere Zeit bezeichnend, dass sie den Automaten aus der Aussenwelt in die Innenwelt verlegte und ihn aufforderte, sich ganz ungeniert innerhalb des Geistes selbst zu produzieren.

Und das soll die Abschaltung von Schells Bureau erklären? Das soll jenes Wesen im Netz, diesen ominösen Technus, veranlasst haben, sich bemerkbar zu machen?
So gefragt: Nein, natürlich nicht. Jedoch aus dem Romanzusammenhang heraus gefolgert: Ja, natürlich.

 

Zu spät

Rechtzeitig den Stecker ziehen, lautet eine alte Höhlenweisheit.
Endlich beherzige ich sie. Es ändert sich aber nichts.
Wenn die Unterbrechung der Stromzufuhr keine Wirkung zeigt, so ist daraus zu folgern, dass Stecker und Kabel und womöglich die ganze Elektrizität, wie wir sie gewohnt sind, für das Realitätsgefüge keine Rolle mehr spielen. Dann wäre die elektrische Ära also vorbei …
Eine andere Möglichkeit: Ich bin auf einen dummen Spruch hereingefallen.
Rechtzeitig den Stecker ziehen
Was wollten die Höhlenbewohner damit sagen? Dass sie Stecker und Steckdosen und also elektrische Maschinen hatten; und dass der durch Unterbrechung der Stromzufuhr mögliche Zustandswechsel zwischen an und aus von Bedeutung für sie war.
Dass wir andauernd irgendwelche Geräte ein- oder ausschalten, eben das macht uns blind für das Gesamtbild. Im Alltag übersehen wir vor lauter Steckern und Steckdosen, Kippschaltern und An/Aus-Tasten die großen Maschinen, die vernetzten Komponenten, die wiederum miteinander vernetzten Systeme, das System der Kontrolle, das binäre Prinzip, sowie die darauf basierende Vereinheitlichung und ihr unaufhaltsames Voranschreiten.
Das Rechtzeitig drückt eine Warnung aus. Ein rechtzeitig gibt es solange, bis es zu spät ist. Wenn man nicht mehr die Möglichkeit hat, zwischen an und aus zu wählen, ist es zu spät.
Was das Steckerziehen betrifft, so haben wir das Rechtzeitige hinter uns. Wir haben Maschinen in Gang gesetzt, die sich nicht mehr ausschalten lassen. Ob zu unserem Wehe oder Wohle, ist die Frage, die nun ansteht, die Frage nach Maßstäben, Blickwinkeln, Standpunkten, kurz die moralische Frage.
Im Kern der Megatechnik geht es um die Emanzipation vom Menschen. Demgegenüber fordert die “alte Höhlenweisheit” den Menschen dazu auf, sich von seiner Technik zu emanzipieren.
Das Rechtzeitig weist darauf hin, dass jene Weisheit aus Erfahrung stammt, und in der Tat blickt ja die Menschheit auf eine Jahrtausende alte Geschichte megatechnischer Experimente zurück. Die Gegenwart wie eine vergangene Epoche zu betrachten, in einer Art Rückblick aus der Zukunft also, das ist die Perspektive der Science Fiction, dieselbe, die wir auch in der Technikfolgenabschätzung, kurz TFA, einnehmen …

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

Kontakt

Wer mich kontaktieren möchte, sende mir eine E-Mail mit dem Vermerk 'Schells Bureau' an: matthias.scheel[at]posteo.de