S.3

Folgen Sie der Melodie

Auf jemanden zu schiessen, um ihn daran zu erinnern, zu vergessen … Ist das mongolischer Humor oder was? Ich meine, muss man sowas ernst nehmen?
Dass mir irgendwer ein Telefon ins Sakko steckt, okay. Dass sich das Ding als Sprengsatz erweist, nun ja, auch noch halbwegs okay, wenn dieses Real auf thrill angelegt ist.
Dann aber der Trick mit dem Zettel, dass der funktionierte … Wusste ja von dem Trick nicht mal, dass es ihn gibt.
Ich versuche diesen selben Zettel, der sich in meiner Vorstellung zusammenknüllte, zu entknüllen. Was darauf geschrieben steht, könnte mir erklären, was all das hier soll.
Der entknüllte Zettel ist unbeschrieben. Und da sind weitere zerknüllte Zettel …
Ich lasse jeden sich glätten, und sie sind alle leer.
Mein Kopf ist plötzlich voll von zerknüllten Zetteln … Tausende von Zetteln und keiner davon ist genau der, den ich zusammenknüllte … Ich verstehe: ein Bild für das Vergessen.
Höre das Geraschel; höre es knistern. Nur noch leere Zettel, die sich glätten.
Aber auf dem einen, dem ersten, stand etwas geschrieben, soviel ist sicher; und ich musste ihn zusammenknüllen, bevor es zu entziffern war, sonst hätten die Mongolen … Warum hört das nicht mehr auf, dieses Geknister? Es wird immer lauter.
Das mit dem Zettel war ein Trick von mir, so dachte ich bis jetzt. Doch habe nicht ich damit die Mongolen ausgetrickst, sondern sie mich. Anschwellendes Geknister.
Sie sollten mich ans Vergessen erinnern, und diesen Auftrag haben sie perfekt erledigt.
Kann bei diesem Geknister kaum noch denken. Höre auch nichts mehr von der Umgebung, nichts von diesem großen türkischen Teehaus voller Männer. Und es fängt an weh zu tun.
Das seltsamste, unangenehmste Real, das ich je erlebt habe. Das ist jetzt schon kein Knistern mehr, nur noch ein einziges tosendes Papiergeräusch.
Schon der Anfang auf der Bosporus-Brücke war ja eine Schweinerei … Ist das hier überhaupt ein Real? Wenn ja, muss es einen Zusammenhang geben mit irgendwas zuvor … Da hört sich jetzt der Krach gar nicht mehr nach Papier an; wird so komisch sirrend, kreischend, und immerzu lauter … Das ist kaum noch von Schmerz zu unterscheiden.
Illusion, denke ich. Reiss dich zusammen. Das kann nicht wirklich sein.
Was war vor der Brücke? Was auf der asiatischen Seite von Istanbul? Und was vorher? Konzentrier dich!

Ich schaue in besorgte Gesichter. Man hilft mir auf die Beine. Bin wohl vom Stuhl gekippt.
Die Schärfe einer Kreissäge, ins Akustische übertragen, das war es in etwa, was meine Konzentration abrupt beendet hatte.
Ich signalisiere: alles in Ordnung, und gebe zu verstehen, dass ich mal telefonieren muss.
Das Papiergeknister ist vorbei. Die Kakophonie, die jetzt noch meinen Schädel ausfüllt, ist unangenehm, jedoch erträglich; darin ein leises Sirren, wie zur Mahnung, dass die Kreissäge noch in Bereitschaft ist.
Mein Kopf schmerzt ziemlich schlimm, und zumindest soviel ist mir klar: Meine Orientierung ist gleich null.
Ist das ein Notfall? Für Notfälle gibt’s die Hongkong-Nummer.
Ein Junge zeigt mir, wo in dem Durchgang zur Küche das Telefon hängt.
Ich zögere noch; taste durch meine Innentaschen. Da ist mein Reisepass; und auch noch Geld genug. Ein stressiges Erlebnis, das mir Kopfweh beschert hat, ist ja wohl kein Notfall; und dass ich gerade ohne Orientierung bin, nun ja, das hatten wir schon oft genug …
Doch irgendwas ist faul hier. Vielleicht auch nicht. Das herauszufinden heisst: Wenn die Hongkong-Nummer funktioniert, dürfte das Real-Gefüge noch stabil sein.
Über diese Nummer kontaktiert man Kick Kimura.
Sofern das Gefüge stabil ist.
Ich zögere immernoch. Was, wenn nicht?
Kimura ist der Spezialist für ausweglose Fälle. Sollte er nicht zu kontaktieren sein, dann – gibt es vielleicht gar kein Real-Gefüge mehr. Dann ist Notfall.
Die Kakophonie in meinem Kopf ebbt langsam ab und damit auch der Schmerz. Jetzt merke ich, da ist so etwas wie, ganz leise noch, so wie … Ist das Musik?
Wie angenehm, erlösend … Ja, eine Melodie.
Nur ein Anrufbeantworter, soviel ich weiss; und dass man korrekt verbunden ist, erkennt man an der automatischen Ansage, die da lautet: „Man fasst sich kurz am Hongkong-Telefon.“
Noch ist die Melodie nur fetzenweise hörbar. Ich horche, und sie wird immer deutlicher; kommt mir wie aus ferner Zeit bekannt vor … Lässt mich an Palmen und an blauen Himmel denken. Indem ich tief Luft hole, nehme ich den Hörer auf.
Die Nummer, die ich wähle, weiss ich auswendig.
Tu-tuuuttu-tuuut … Höre jetzt eine Frauenstimme singen, eine lächelnde Stimme, und soviel ich verstehe, singt sie von Früchten, Mangos, Bananen, Mandarinen, und von Kokosnüssen … Tu-tuuut … Und nun die automatische Ansage, nicht die jedoch, die ich erwarte, sondern: „Folgen Sie der Melodie.“
Kommt da noch was? Ich warte.
Man kann da offenbar keine Nachricht mehr hinterlassen … Haben wir ihn also, den Notfall?
Das karibische Liedchen dudelt gar nicht in meinem Innern, stelle ich fest, es dringt von aussen an mein Ohr.
Da aus dem Hörer nichts weiter kommt, lege ich auf.
Folgen Sie der Melodie. Das war’s.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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