I.13

Flysh das Spiel

Ist inzwischen klar, dass wir uns hier in einem Spiel bewegen? Klar, meine ich, was das heisst? Was „Spiel“ überhaupt bedeutet?
Was ja im Allgemeinen den Reiz eines Spiels ausmacht, ist der abgesteckte Rahmen, innerhalb dessen andere Bedingungen und Regeln herrschen als die, die man aus der Realität gewohnt ist. Diesen Reiz haben auch solche Spiele, in denen der abgesteckte Rahmen – die Umgrenzung des Spiels – erst entdeckt werden muss, es also darum geht, die geltenden Bedingungen und Regeln kennen und beherrschen zu lernen.
Schon weniger reizvoll, weil um einiges schwieriger, sind die Spiele, in denen man die Bedingungen beeinflussen kann, indem man gegen die gegebenen Regeln eigene, neue Regeln durchsetzt; was allerdings mühsame Arbeit erfordert und daher für viele den Reiz, und damit die Spielfreude, erheblich schmälert.
Noch schwieriger, noch mühsamer, noch weniger als Spiel überhaupt zu erkennen, ist ein solches, dessen Rahmen so weit gesteckt ist, dass er eigentlich im Sinne von Umgrenzung nur hypothetisch existiert, man also nur weiss: es gibt so einen abgesteckten Rahmen – denn ohne einen solchen wäre es kein Spiel –, ohne dass man das jedoch beweisen könnte gegenüber der Behauptung, es gäbe keinen Rahmen und also sei dies auch kein Spiel.
Und das ist nun auch in diesem Flysh genannten Spiel die größte Schwierigkeit: dass der Rahmen, in dem es sich abspielt, derartig groß ist, dass er so gut wie alles umfasst, also in etwa mit den Grenzen der Realität zusammenfällt. Weshalb das Spiel sehr ähnlich, ja nahezu genauso aussieht wie das, was wir gewohnt sind, als Realität zu betrachten. Ernst und Spiel, oder auch: Realität und Fiktion, lassen sich als Kategorien hier gar nicht mehr unterscheiden.
Dann allerdings muss man sich fragen, ob es noch Sinn ergibt, an der Vorstellung eines Rahmens festzuhalten, das heisst bei der Annahme von innen und aussen zu bleiben – dass es, weil es ein Innerhalb gäbe, auch ein Ausserhalb geben müsse –; und kann sich dann auch gleich fragen, wie sinnvoll es ist, noch ernstlich an der Idee „Spiel“ überhaupt festzuhalten.
So ist es verständlich, dass man hier Spieler trifft, sehr viele sogar, die von dem Spiel nichts wissen; und solche auch, die davon nichts wissen wollen, und die, weil ihnen „Spiel“ als etwas überflüssiges, irreales, ja dem Realitätssinn widriges erscheint, dazu neigen, denen, die sich zum Spiel bekennen, Irrationalität oder – weil dies für sie dasselbe ist – Gläubigkeit vorzuwerfen; was die so Missverstandenen oftmals dazu veranlasst, ihnen wiederum dasselbe vorzuwerfen. Man kommt hier also mit der gewohnten Logik und eigentlich mit dem ganzen bisher üblichen Gebrauch der Sprache nicht gut weiter – was für den Schreiber dieser Darstellung eine entmutigende Einsicht wäre, gäbe es nicht immer auch das Andererseits.
Andererseits nämlich ist es ja das, worum es in dem Spiel Flysh wesentlich geht: diese schwierigste der Schwierigkeiten unter sich ständig ändernden Bedingungen und neuen Regeln irgendwie zu meistern. Darum müht der Schreiber dieser Darstellung sich unermüdlich damit ab, in der Erforschung der Real-Technik soweit zu kommen, dass er – nun ja.
„Ja was – hier, wo es um das Ziel seines Bemühens geht, um alles sozusagen, um den ganzen Sinn der Sache, bricht er ab, der Schreiber dieser Darstellung? Er fahre gefälligst fort: – soweit in der Erforschung der Real-Technik zu kommen, dass er –?“
„Dass er bereit ist, jederzeit alles liegen und stehen zu lassen; auch, und vor allem, das aufzugeben, woran er am zähesten hängt: das, was er für seine Persönlichkeit hält. Und zwar dazu bereit sein wird – dann –, wenn es darauf ankommt, alles in die Waagschale zu werfen.“
Dann – wenn es darauf ankommt –: das klingt dramatisch.“
„Weil es das besagt, was auf ihn zukommt: die Zukunft.“ Doch ich spreche nicht aus, woran ich denke bei diesem Dann, nämlich an diese Stelle in einem der Paulus-Briefe, wo es heisst: Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse. Dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich durch und durch erkannt worden bin.
„Der Ernstfall. Darauf also läuft es zu, dieses Spiel Flysh? Dahin zu kommen, wo es ernst wird? Wo das Spiel also aufhört? Dann wäre dies das Spielziel: aus dem Spiel herauszukommen.“
„Das kann man wohl so sagen. Doch wie gesagt, das Spielen – wenn es nicht gerade darin besteht, Neues zu erfinden –, ergibt Sinn nur im Rahmen bestimmter Regeln. Dabei kann es auch zum Spiel gehören, falsch zu spielen. Im falschen Spiel versucht jemand, durch einen Trick die Regeln zu umgehen, und zwar unbemerkt. Dagegen hilft allein, es zu bemerken; und dann muss man entscheiden, wie man weiterspielt: ob falsch gegen falsch oder lieber ehrlich gegen falsch. Hier ist als Beispiel das Pokern interessant, weil es so sehr wie Glücksspiel aussieht, aber es nicht ist; weil der scheinbare Zufall perfekt das Falschspiel tarnt; daher es dabei per se um den Betrug geht: man übertrifft sich im Betrügen, denkt nämlich richtig, das heisst gewinnt, wenn man den Gegner dazu bringt, falsch zu denken. Deshalb hat Forty Operas seinem Grüppchen von Agenten, als die im Service of Intelligence noch Anfänger waren, das Pokern beigebracht.“
„Ja, damals auf Hawaii. Aber das ist sehr lange her. Das war in den 1960er Jahren, und da konnten die das Spiel, Flysh, unmöglich schon gekannt haben.“
„Richtig. Die wussten damals noch nicht einmal, worum es in diesem Service überhaupt ging. Indem sie es allmählich herausbekamen, lernten sie das Spiel kennen; oder umgekehrt: indem sie es zu spielen lernten, lernten sie allmählich ihren Service of Intelligence verstehen. Und was Forty Operas angeht, so wusste der damals natürlich, dass es dieses Spiel gab. Er wäre sonst nicht MDO gewesen, und nicht Chef des SI; und da er als solcher nicht nur sehr weit voraus, sondern auch sehr weit zurück blickte, wusste er, dass das Spiel selbst, auch wenn es heute erst in seiner aktualisierten Version unter dem Namen Flysh läuft, uralt ist. Davon abgesehen, brauchte damals Forty seinen Leuten nicht groß zu erklären, wie nützlich es für Geheimagenten ist, das Pokern zu beherrschen.“
„Um sich von Falschspielern nicht übertölpeln zu lassen. Nun gut, Poker; auch ein schon altes Spiel. Doch Flysh, sagtest du – oder was als Spiel heute so heisst –, sei uralt, und als eingefleischter Ägyptologe meinst du womöglich: drei-, vier-, fünftausend Jahre alt? Von den alten Ägyptern erfunden?“
„So ungefähr, ja. Um das aber zu beweisen, müsste ich jetzt sehr, sehr weit ausholen.“
„Bitte nicht! Bis wir uns da einer Wahrscheinlichkeit auch nur annähern, kämen wir wohl zu nichts anderem mehr in diesem Leben; und eben deswegen befürchten wir, dass dir das die Logik-Polizei nicht so leicht durchgehen lässt.“
Die hat mich ständig im Visier, sowieso; was mir ehrlich gesagt gar nicht so unlieb ist, zwingt mich das doch, die Zusammenhänge im Blick zu behalten.“
„Was auf die Dauer nicht reichen wird, wenn dabei nicht bald der Zusammenhang zustande kommt, der große, du weisst schon – der erst möglich wird, wenn man klarkommt mit dem, was man im Jargon der Real-Technik den Meta-Nexus nennt. Der das Real-Gefüge überhaupt erst zum Gefüge macht.“
„Der Meta-Nexus – ha!“
„Wir müssen ja nicht gleich alles wissen. Aber so ein bisschen Aufklärung darüber könnte nicht schaden …“
„Dazu müsste man auf Subnum gehen. Und dazu bräuchte man wiederum Cogito. Und dazu müsste man mit A2X27 umgehen können. Und so weiter. Lauter Programme, die nur MDOs zugänglich sind.“
„Aber bist du denn nicht MDO?“
„Nein!“
„Woher weisst du dann so viel über das Spiel?“
„Recherche. Ist ja nicht so, dass unser USchell über all die Jahre in der Technikfolgen-Abschätzung zum Thema Real-Technik gar nichts in Erfahrung gebracht hätte; und es laufen diesbezüglich nun mal alle Fäden in diesem Spiel, in Flysh, zusammen.“
„Das heisst ja wohl: in Schells Bureau. Denn woher wüsstest du sonst, was TFA-Agent USchell alles in Erfahrung gebracht hat?“
„Ich weiss es von woanders. Vielleicht denke ich’s mir auch nur aus. Jedenfalls, was in Schells Bureau läuft – keine Ahnung. Da bin ich aussen vor. Ist mir wie ewig schon verschlossen.“
„Dass da aber die ganze Zeit etwas läuft, heisst das nicht doch, dass du schon MDO –?“
„Nochmals: NEIN, bin ich nicht.“

Hier erinnere ich mich an eine Unterredung mit Forty Operas, in der es auch kurz um das multi-dimensionale Operating ging:
„Aber warum ich, Forty? Weshalb soll ausgerechnet ich das machen?“
Schweigen.
„Das könnte doch jeder machen!“
Schweigen.
Ach, deshalb – weil ich jeder bin.
Diese immense, diese undenkbare Verantwortung, die es bedeutet, mich als jeder wahr zu nehmen: dass ich mich damit nämlich auch als jeder wahr zu geben hätte, – schon die bloße Möglichkeit derartiger Verantwortung verursacht mir ein solches Gefühl der Schwäche und dabei eine solche Klarheit über das Unvermögen meiner Denkkraft, meiner Moral, ja überhaupt die ganze Unzulänglichkeit meiner Person, dass mir die Vorstellung: ich als MDO, wie der reinste Witz erscheint.
Oder ist etwa die Arbeit eines multi-dimensionalen Operators gar nicht eine so gewaltige, wie ich mir vorstelle?
Der – oder die – MDO, obwohl er – oder sie – mit im Spiel ist und also auch den Spielregeln unterliegt, kann sich, wann immer es ihm – oder ihr – nötig erscheint, an jenen Ort versetzen, aus dem der ursprüngliche Plan für das Spiel einmal hervorgegangen ist und seitdem hervorgeht, immernoch, ständig. Denn was im Spiel geschieht, hat Konsequenzen für den Plan, immerzu. Das Wo – von einem Ort zu sprechen, wirkt hier komisch –, das Wo also, es ist, so stelle ich mir vor, die Sphäre der Allwissenheit. Und eben diese Sphäre ist es, wie Agent USchell herausgefunden hat, von der ein Team aus sogenannten Kreatoren eine aussergewöhnlich realistische Simulation hergestellt hat, Das Reich genannt; und der daran beteiligte Schell ist natürlich der mit dem R, der Reichs-Schell. Und da dieses „Reich“ die Sphäre der Allwissenheit so aussergewöhnlich realistisch simuliert, ist es auch für MDOs nicht leicht zu durchschauen. So ist das „Reich“ für einen unerfahrenen MDO die Falle, in die er nicht nur tappen kann – so USchell’s Einschätzung aus Sicht der TFA –, in die er sogar tappen muss, nämlich zur Prüfung seiner Reife.
Es gibt also die echte Allwissenheit, das sozusagen wahre Reich, und dem gegenüber ein falsches Reich: die scheinwahre Allwissenheit. Was das heisst, ist zu ermessen, sobald das Reich, und zwar das wahre wie das falsche, als die Sphäre verstanden wird, in der das Spiel nicht gespielt, sondern ersonnen, erfunden, gemacht wird; denn dann ist klar: im Reich sind die Spieler zuhause, das Reich ist für sie die eigentliche Realität – auf welche aber das Spielgeschehen zurückwirkt! Das heisst, das Spiel verändert die eigentliche, die heimatliche Realität, und weil somit die Spieler gleichzeitig die Kreatoren des Spiels sind, ist es von größter Bedeutung, das Scheinbare vom Wirklichen unterscheiden zu können, das Spiegelbild vom Gespiegelten, oder eben: das Simulierte als solches zu durchschauen. Das zu lernen, darin erfüllt sich überhaupt der Sinn des Spiels.

„Wenn du also nicht MDO bist, was bist du dann? Wie heisst dein Status?“
„Gute Frage; zur Zeit für mich die aktuellste … Ich weiss es nicht.“
„Dann sage uns: Wieviele spielen denn überhaupt Flysh? Das heisst lohnt sich das Spiel? Was ergibt die Marktanalyse?“
Ist das ein Verhör? Verhört mich hier etwa die Logik-Polizei? Detective Brains? Hallo? Hören Sie mit? Natürlich antwortet der nicht. Einen immer schön im Ungewissen lassen; darüber vor allem, wessen man verdächtigt wird. Egal. Ich verrate hier ja nichts Geheimes. Und so verhört zu werden, wer weiss, hilft vielleicht, meinen Status zu klären …
„Ensprechend der enormen Anzahl der mobilen Online-Geräte dürften die, die solche Geräte nicht benutzen, die Offliner, nur schätzungsweise ein Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Und wohl nur Offliner spielen Flysh; also quasi niemand spielt es. Diesen Eindruck jedenfalls habe ich manchmal. Womöglich sind es aber auch mehr als gedacht; man weiss es nicht. Viele hingegen, sehr viele, soviel ich weiss, sind mehr oder minder in das digitale Flysh verwickelt, in die Games; nicht unter „Flysh“ natürlich, sondern unter unzähligen anderen Namen.“
„Wie kommt dann jemand dazu, das nicht-digitale Flysh überhaupt zu finden?“

Die Ebene, auf der man ins Spiel einsteigt, heisst für jeden: Meine Wirklichkeit. Nämlich dass das fragwürdig ist, was ich als das Wirkliche erlebe; dass das nicht die Wirklichkeit ist; dass man also seine Wirklichkeit nicht mehr mit dem verwechselt, was objektiv wirklich ist – das ist der Anfang, die initiale Erkenntnis. Sobald das soweit verstanden ist, dass man es nicht mehr vergisst, dass es vielmehr zum ständigen Bewusstsein wird, bemerkt man, dass damit das Spiel gerade einmal begonnen hat. Man schreitet voran, weiss jedoch: Immer ist eigentlich Anfang. Dann spielt der Unterschied zwischen meiner und der Wirklichkeit auf einmal gar keine Rolle mehr, dafür die Frage, was ist das überhaupt: Wirklichkeit? Was ist das, was wirkt? Es wird klar, man erlebt nur Wirkungen; lebt nur in der Wirkung; ist selbst nur ein Bewirktes. Das ist die schrittweise Erfahrung in dem Spiel. Und nichts und niemand hindert mich an dieser Erfahrung des Erkennens: die Erkenntnismöglichkeit ist grenzenlos, im Prinzip; nur in realiter natürlich nicht: ich begrenze mein Erkennen, ja bin die Grenze selbst. Und klar, dass hier das Spiel den Spieler in die Selbsterkenntnis überführt, und klar wohl auch, dass es da ernst genug für jeden wird, um sich zu fragen, was denn daran noch „Spiel“ sein soll.
Wer spielt denn hier eigentlich?, ergibt sich daraus als die notwendige Frage. Und dies ist ein wichtiger Moment, der wichtigste vielleicht; wo man begreift: Ich spiele ja gar nicht – der eigentliche, der wirkliche Spieler ist ein Anderer. Ich bin nur der Ausführende, derjenige, durch den dieser Andere, der eigentliche Spieler, sei er „da oben“ oder „da draussen“ irgendwo, mir jedenfalls unsichtbar, „hier unten“ oder „hier drinnen“ sich verwirklicht, und zwar indem er mich ausführen lässt, was seiner Rolle in dem Spiel entspricht. Kurzum, man begreift sich als Werkzeug, oder als Stellvertreter, oder als Avatar, als eine Hülle sozusagen, und als unfrei also.
So wie es Grundbedingung eines jeden Spieles ist, zu wissen, dass es ein Spiel ist, gehört auch im Falle von Flysh dazu, sich dabei bewusst zu sein, eine Rolle zu spielen; nur dass man sich hier seine Rolle sehr umfassend vorzustellen hat, als eine „Hülle“ eben, die nicht einem selbst, sondern einem Anderen dient. Und dies als Tatsache zu akzeptieren, fällt einer mit Ich-Bewusstsein ausgestatteten Persönlichkeit verständlicherweise nicht leicht. Verständlich dann auch, dass man wissen will, ja wissen muss – nämlich um seine Rolle richtig und sinnvoll spielen zu können –, wen man da „umhüllt“, das heisst von wem man sozusagen dirigiert wird. Und hier ist der Punkt erreicht, an dem viele nicht mehr weiterspielen wollen, oder können, und lieber aussteigen; an dem es für manche aber erst spannend wird. Denn auf diesem Stand der Bewusstheit kommt unweigerlich das Freiheitselement ins Spiel: Man stellt sich dem Gegebenen entgegen, wird Opponent, verwirft das ganze Regelwerk und versucht sich in eigenem, selbständigem Spiel; oder man versucht, mit dem Anderen – oder mit dem, was einen dirigiert – in Übereinstimmung zu kommen. Insofern ist man frei an dieser Stelle, und allerdings auch in Gefahr. Denn wie auch immer die Entscheidung ausfällt, kann man ab hier, wenn man nicht aufpasst – geistig sich nicht wach erhält, heisst das –, in eine Endlosschleife geraten, ein sogenanntes Happy Endless, das Schlimmste im Grunde, was einem in Flysh passieren kann.
„Du hast dich für letzteres entschieden, für den Versuch der Übereinstimmung: dich mit dem Anderen zu identifizieren, das heisst – mit mir. Und es ist aus meiner Sicht natürlich die richtige Entscheidung. Doch ob es auch in Wirklichkeit die richtige ist? Das ist noch nicht entschieden, noch lange nicht.“
„Ich weiss. Das wird sich erweisen, indem sich unsere Übereinstimmung verwirklicht. Und diese Prozedur, Body Job genannt, ist ja in vollem Gange.“

Wann immer vom Body Job die Rede ist, wird die Logik-Polizei besonders hellhörig. Denn das betrifft ein Gebiet, das im Flysh-Spiel von zentraler Bedeutung ist: die Verkörperung; ein Gebiet, auf dem es bei der Erforschung, der Beschreibung und erst recht bei der Handhabung so garantiert und prompt wie auf kaum einem anderen Gebiet in diesem Spiel zu Widersprüchen, Missverständnissen und Unwahrscheinlichkeiten kommt. Weshalb sich gerade hier die Beaufsichtigung durch die Logik-Polizei als unverzichtbar erweist; wobei es in der Regel schon reicht, zu wissen, dass sie die Ausführungen, die theoretischen wie die praktischen, permanent kritisch verfolgt.
Aktiv einzugreifen hat die Logik-Polizei immer dann, wenn irgendwo im Real-Gefüge die sogenannte Wahrscheinlichkeitsregel nicht eingehalten wird. Diese wichtige Regel soll verhindern, dass die Kreatoren pfuschen, das heisst Dinge ins Spiel einbauen, die unerklärlich sind und die man also, da sie dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit widersprechen, einfach als Wunder hinnehmen müsste. (Immer verdächtig zum Beispiel sind solche magischen Artefakte, wie sie oftmals Gegenstand der Livermore’schen „Berichte“ sind; die nur deshalb von der Logik-Polizei toleriert werden, weil sie der Kategorie Entertainment zugehören.)
Wo also Ungereimtheit, logischer Widerspruch, Zusammenhangloses auftaucht, prüft die Logik-Polizei, ob es sich um einen ABR-Fall handelt, das heisst um einen Verstoß gegen die sogenannte Anti-Bullshit-Regel, und auch, ob es jeweils ein versehentlicher oder ein bewusster, vorsätzlicher Verstoß ist. Und sie kann überall eingreifen, auf jeder Ebene, denn sie verfügt über einen MDO, und zwar in Gestalt von Detective Brains.

Es war ein Sonderfall, mit dem vor über dreissig Jahren das Flysh-Spiel begann, als nämlich Kick Kimura sich als eine Romanfigur erkannte. Dieser Sonderfall verstiess damals gegen keine Regel, da dann erst, durch das Spiel, das Regelwerk entstand; und dann es auch erst nötig wurde, die Logik-Polizei zu etablieren.
Als viele Jahre später sich etwas ereignete, das ähnlich einschneidend war und auch gegen keine bestehende Spielregel verstiess, war das zwar ebenfalls ein Sonderfall, wurde aber nicht als solcher, sondern als ein „Fall Ypsilon“ bezeichnet – das sogenannte Ereignis nämlich: Schell’s Entdeckung von Schells Bureau im Internet.
Seither versteht man unter einer Y-Situation eine solche, in der das Regelwerk des Spiels so fundamental erschüttert, so grundsätzlich in Frage gestellt ist, dass jeder Spieler, wenn er das Spiel fortsetzen will, sich wie an einer Weggabelung entscheiden muss für entweder den einen oder den anderen Weg.
In der ursprünglichen Y-Situation – die damals noch „Sonderfall“ hiess – traf Kimura die Entscheidung, aus seiner Entdeckung die volle Konsequenz zu ziehen, nämlich, um seine Existenz zu retten, Einfluss zu gewinnen auf den Roman, in welchem er eine Figur war, und das heisst, seiner fiktiven Existenz soviel Realität wie nur irgend möglich zu verschaffen. Wobei ihm natürlich klar war, dass so wie die Entdeckung seiner Romannatur, ebenso und erst recht auch die Entscheidung, sein Schicksal, wenn schon nicht selber bestimmen zu können, so doch zu beeinflussen, eine starke Rückwirkung auf den Autor des Romans haben musste. Und in der Tat nahm dann von jener Ur-Y-Situation das Geschehen dahingehend seinen Lauf, dass irgendwann sich eben eine zweite Y-Situation ereignen musste: dass der Autor Schell, der eine, indem er Schells Bureau entdeckte, sich selber, weil selbst nun zur Romanfigur geworden, darin wiederfand. Während er für uns, die Leser, auch gar nicht mehr der eine ist, wir ihm vielmehr in jener dreifachen Gestalt begegnen: als entweder HSchell oder RSchell oder USchell.
Hier kommen die Body Jobs ins Spiel. Über die weiss Brains, der Detektiv, so viel wie wir darüber wissen, und wahrscheinlich noch ein bisschen mehr. Der eine Body Job, der sich spontan in Istanbul ereignete – die Fusion von USchell und Kimura –, ist von der Logik-Polizei, sprich von Detective Brains, zwar akzeptiert worden, doch bedeutet das nicht automatisch, dass nach diesem Muster nun alles akzeptabel ist. Noch ist Brains in dieser Sache zu keinem endgültigen Schluss gekommen; zu vieles ist da zu bedenken. Doch schon bahnen sich weitere Fusionen an, zwei mindestens – bei H- und bei RSchell –, und was Brains – und uns – bereits klar sein dürfte: wenn die Folgen eines Body Jobs schon unabsehbar sind, wie unabsehbar erst, was aus drei solcher „Jobs“ alles erfolgen kann … So dürfte hier schon abzusehen sein, dass eine nächste große Y-Situation unausweichlich ist.

Detective Brains … Allgemein beliebt ist der ganz sicher nicht, nirgendwo. Auch unter seinen Polizei-Kollegen, das heisst bei Interpol, hat er keine Freunde. Man findet ihn humorlos, kalt, unmenschlich, ja sogar irgendwie bedrohlich; und seine sehr hohe Erfolgsquote, seine aussergewöhnliche Effizienz als Ermittler, macht ihn nur noch unbeliebter; auch bei seinen Vorgesetzten, denen seine Effizienz gar nicht in den Kram passt; die ihn sogar deswegen gern los wären, dies nur bisher noch nicht geschafft haben; einfach weil seine vorausberechnende Intelligenz der ihren tatsächlich haushoch überlegen ist. (Dass es ihm Freude bereitet, diese Intelligenz spielen zu lassen, kann man sich vorstellen; doch welche Art von Freude, das ist nicht ohne weiteres vorstellbar.)
Und übrigens ist es gar nicht Strenge oder polizeilicher Übereifer oder etwa eine rigide Auslegung der Gesetze, die unangenehm an ihm auffallen. Was die Leute provoziert, ist sein Gleichmut, dieses offenkundige Desinteresse allem gegenüber, was normale Menschen aufregt; und dass er immer nur das eine will, und das mit nervtötender Beharrlichkeit: Erklärungen. Was die Erklärung wiederum dafür ist, dass man ihn einst auf diesen Posten abgeschoben hat, auf dem er als Ein-Mann-Abteilung de facto nichts weiter zu tun hat, als dieses eine Spiel namens Flysh im Auge zu behalten; in der Hoffung, es sei dies der unwichtigste Posten überhaupt bei Interpol; ein Posten, auf dem er deren Cyber Crime-Aktivitäten nämlich gerade da, wo man ganz und gar nicht auf Erklärungen erpicht ist, nicht mehr in die Quere kommen würde – so, oder ähnlich, hatte man in der Chef-Etage wohl gedacht und damit also dies spezielle Spiel ganz anders eingeschätzt als der Detective. Welcher diesen Job als „Logik-Polizei“ nur widerwillig auf sich nahm, zumindest so wie’s aussah. Doch sieht ja alles widerwillig bei ihm aus. Wie sehr es ihn im Stillen freute, drückte er so aus: „Wenn’s niemand andern dafür gibt, okay, mach ich’s.“
Seitdem, und das ist lange, lange her, hält er diese besondere Position im Spiel, und wenn er generell auch alle stört, so weiss doch jeder: Brains, die Logik-Polizei, muss sein. Denn man kann sich denken: Zu wissen, es gibt sie, und sie greift ein, wenn’s sein muss, hat dazu geführt, dass alle, die als Kreatoren aktiv sind, das heisst an Flysh bewusst arbeiten, sich eine Selbstbeaufsichtigung angewöhnt haben, nach der Devise: Nur Brains nicht provozieren! Allerdings weiss man auch, dass der nie vorschnell eingreift; dass er sehr gründlich prüft, sich für jede Untersuchung Zeit lässt, abwartet, wie sich die Dinge in puncto Wahrscheinlichkeit entwickeln; dass er allen, auch sich selbst, großen Spielraum lässt, und niemals, niemals in Eile ist.
Dabei ist einem Durchschnittsverstand wie meinem im Voraus unberechenbar, was sich aus der Logik Brains’ ergibt; das – ob sie eingreift oder nicht – erschliesst sich immer erst im Nachhinein. Wie oft ich mich schon bei diesem oder jenem fragte: ob das wohl geht? – und schon fest damit rechnete, dass eingegriffen würde –, und doch unbehelligt blieb … Deshalb vielleicht, weil es Brains auch oft den anderen MDOs überlässt, logische Korrekturen vorzunehmen? Oder weil seine Aufgabe ihm schon längst über den Kopf gewachsen ist, das heisst er die Logik womöglich gar nicht mehr im Griff hat?
Wie sieht’s zum Beispiel aus mit jenem Exilanten-Anzug, dem Exoot? Wie kann so ein Ding regelkonform sein? Und was ist mit all den anderen Erfindungen von Onkel Mo, dem Thema MoTech überhaupt? Was mit dem Raumschiff, in dem Azuma zur Erde kam? Was mit Azumas mysteriöser Auflösung? Und so weiter – was mit Rosa Aschenheim? Was mit dem Jenseits? Und was noch alles, wo man sich fragen müsste, wie’s da um die Wahrscheinlichkeit steht … Ganz zu schweigen von jenem Mord ohne Leiche, betreffend den Fall „Liebestod“, in dem Brains seit bald dreissig Jahren schon ermittelt …
Dass er bei all diesen doch eher unwahrscheinlichen Dingen nur selten eingreift, ist erstaunlich, und ich kann es mir nur so erklären:
Was da alles für einen Normalverstand wie den meinen so disparat, so irgendwie nebeneinander erscheint, ist in seinem Denken so angeordnet, dass es wechselseitig sich erklärend, sich also gegenseitig stützend, einen solchartigen Zusammenhang ergibt, in dem ein Einzelnes immer nur vorübergehend unwahrscheinlich ist, nur solange nämlich, bis es als ein missing link, ein bisher fehlendes Puzzle-Teil, erkannt wird, welches einer anderen Einzelheit, die auch nur als solche, das heisst isoliert betrachtet, unwahrscheinlich erscheint, die nötige Wahrscheinlichkeit verleiht, um im Sinne einer Fortentwicklung einen Zuwachs an Zusammenhängendheit zu ergeben, oder an Bedeutungstiefe, könnte man auch sagen.
Kurzum, Brains – alias die Logik-Polizei – überblickt als multi-dimensionaler Operator das Ganze und weiss, da er die Gesetze der Entwicklung kennt, auch über das Ziel des Spiels Bescheid, das wahre Ziel, das jenseits der Spielumgrenzung liegt. Und da seine Arbeit als MDO sich nicht aufs Überblicken beschränkt, sondern gerade darin besteht, dem Überblick einen Sinn dadurch zu geben, dass er der nie nachlassenden Tendenz der Chaotisierung entgegenwirkt, indem er das Geschehen möglichst in seiner ganzen Bandbreite in einen auf das Ziel sich hinordnenden Zusammenhang bringt, kann man also wohl sagen, dass er wirklich sehr viel zu tun hat. Aber das liebt er ja. Und es sind besonders die Verkomplizierungen – sogar solche, die sich daraus ergeben, dass die eigene Behörde ständig seine Ermittlungen zu sabotieren versucht –, die ihm das Vergnügen im Grunde nur vergrößern.
Dass er übrigens keine Akten braucht, weil er zu jedem seiner Fälle sämtliche Fakten im Kopf hat, ist verständlicherweise manchen unheimlich, und man muss jenen Kreatoren, die gegenüber Brains ablehnend eingestellt sind, durchaus recht geben, wenn sie sagen, mit seinem phänomenalen Gedächtnis verstieße allen voran doch er selbst gegen die Wahrscheinlichkeitsregel. Und immer wieder wird auch der Verdacht laut, dass die Chaotisierung, die seit jeher das Spiel bedroht, tendenziell von diesem unangenehmen Detective ausgeht. In Wahrheit, denke ich, bezweifeln wir deshalb die Autorität der Logik-Polizei – fragen deshalb immer wieder misstrauisch, wem dieses detektivische Superhirn eigentlich unterstellt, wem wirklich Rechenschaft pflichtig ist –, weil es uns auf die Nerven geht, ständig unsere Einfälle lang und breit erklären zu müssen; weil es uns solche Mühe kostet, zum Beispiel zu erklären, warum der Body Job keineswegs ein launiger Einfall ist, sondern geradezu als das Herzstück der Real-Technik verstanden werden muss …

Brains hat bis hierhin aufmerksam gelauscht. Er sitzt an einem der Traumstrände von Fair Island, bequem in einem Klappsesselchen auf der Wasserlinie, die Füße umspült von den lauen, schaumig prickelnden Ausläufern der Brandung, sein gelbes Hemd leicht flatternd in der milden Brise, sein Kopf von einem Strohhütchen beschattet. Der hübsch von kleinen weissen Cumuli betupfte Himmel blau, der Strandbetrieb ringsum zwar durchaus noch vorhanden, jetzt jedoch am späten Nachmittag in angenehmstem Abstand. Die Überschrift ganz unverkennbar: Brains im Urlaub; eine Postkarte sozusagen, die Botschaft an alle: Sehr schön, sehr erholsam hier; bin völlig normal.
Denn Detective Brains, wiewohl die Unterscheidung von „dienstlich“ und „privat“ für ihn noch nie eine Rolle gespielt hat, pflegt den vertraglich festgesetzten Mindesturlaub stets pflichtgemäß zu absolvieren, zumindest pro forma, einfach um kein Misstrauen zu erregen; diesmal auf Fair Island, und zwar aus einem im wörtlichsten Sinne naheliegenden Grund: weil diese Insel zum Andrianischen Archipel gehört und also nicht weit der Hauptinsel Andria liegt; wo er dieser Tage in Babaal, der Hauptstadt, sowieso dienstlich zu tun hat.
Wo er in diesem Moment allerdings wirklich anwesend ist, hängt ohnehin von keinem geographischen Ort ab. Wovon es abhängt, heisst Subnum, oder besser: in subnum, denn das ist ein Zustand, der wie ein Ort erscheint; ein fester, real gesicherter Ort – wie diese Stelle an einem Sandstrand auf Fair Island zum Beispiel –, ohne den man nicht dort sein könnte, wo Brains – genauer: sein Geist – gerade anwesend ist, im Meta-Nexus nämlich. Und deshalb kann man sich dort nicht aufhalten, ohne in subnum zu sein, weil es auf menschliches Empfinden, auch auf das eines MDO, auch auf Brains also, über alle Maßen gewaltig wirkt. Wie der Ozean, sagt man. (Der Ozean von innen, versteht sich.) Wobei übrigens das Gewaltige, sofern es einen nicht überwältigt, immer entweder den „pazifischen“ oder den „atlantischen“ Beigeschmack hat (bei Brains in diesem Falle den letzteren).
Aber noch etwas fand in diesem Zusammenhang bereits Erwähnung: Cogito. So nennt man im Umfeld der Real-Technik die Methode, den In subnum-Zustand herzustellen. Die, derer sich Brains bedient – es gibt auch andere solcher Methoden –, ist die Musik. Er hört sie nicht von aussen, folgt ihr vielmehr so, genau so, wie sie in ihm geschieht, so konzentriert, das heisst so schweigend wie nur irgend möglich; bis alles innere Geplapper völlig zum Erliegen kommt; und dann so weiter, und immer tiefer und tiefer schweigend. Bis das In subnum sich einstellt. Dann gibt es kein durch Assoziationen noch abgelenktes kleines Selbst mehr – dem der „Ozean“ nämlich sofort den Garaus machen würde –, sondern nur noch das diesem Ozean verwandte Ich, das nun sozusagen surft, präzise vom Meta-Nexus selbst dorthin geleitet, wo es jeweils hin soll. Man überlässt sich, könnte man auch sagen, der ganz großen, der objektiven Weisheit, vollständig darauf vertrauend – in Ganzkörpereinsatz, mit Haut und Haaren sozusagen –, dass es sie gibt, diese Ganz Große Objektive Weisheit, und dass es sie nicht nur gibt, sondern sie als Idee des Realen sogar realer existiert als das Reale selbst, ja das Realste überhaupt ist. Anders als in solcher Vollständigkeit ernstgenommen ist die Ganz Große Objektive Weisheit, und damit auch der Aufenthalt im Meta-Nexus, gar nicht auszuhalten; anders ist sie einfach nur unglaublich, was soviel heisst wie nicht vorhanden – bestenfalls; wenn sie einen nicht sogar, im Falle sie nur halb oder gar nicht ernstgenommen wird, schwer beschädigt; oder einen in die Endlosschleife schickt. Oder im Wahnsinn untergehen lässt.

Verweilen wir noch ein wenig bei Detective Brains, wirft das doch, zumindest exemplarisch, Licht auf die Arbeit eines MDO, die ja für unsere Erzählung von einiger Bedeutung ist.
Bei der Cogito-Methode, derer sich Brains bedient, um das In subnum herzustellen, kann er nicht irgendeine Musik wählen, nur eine solche, die er bis ins Letzte auswendig kennt. Denn sie funktioniert nur, wenn sie geschieht, das heisst in ihm, und zwar kein bisschen weniger real, als tönte sie akustisch von aussen an sein Ohr; und dass sie so geschieht, dafür ist das Bis-ins-Letzte-Kennen die wichtigste Voraussetzung.
In diesem Falle ist, was geschieht, die zweite der drei Violin-Partiten von Johann Sebastian Bach, genauer deren letzter, fünfter, aussergewöhnlich langer Satz, eine Ciaconna, deren besondere Merkwürdigkeit darin besteht, dass sie so oft endet und wieder neu beginnt, dass man ihr das schliessliche Ende nicht glaubt, oder anders gesagt, sie den paradoxen Eindruck hinterlässt, als habe sie sich wie zu einer Art endgültigem Anfang geschlossen. Und weil darin für Brains irgendwie das Geheimnis allen Beginns verschlüsselt erscheint und dadurch das Gefühl in ihm auslöst, gleich kommt’s!, jetzt entschlüsselt es sich mir!, beschleunigt sich jedesmal, wenn er den Schlusssatz dieser Partita Nr. 2 „geschehen lässt“, sein Herzschlag; eine Wahrnehmung, die ihm zuverlässig gegenwärtig macht, dass er gerade in subnum ist, es hier also nicht um Musikgenuss geht, und nicht um die Konzentration um ihrer selbst willen, und gar nicht um ihn und sein Erleben; dass das alles – seine Person, die Konzentration, die Violin-Partita, das Subnum – nur Mittel sind, die Mittel nur, um zu ergründen, was in diesem Augenblick der Meta-Nexus „will“.
Solche Wahrnehmungen wie die seines Herzschlags, solche also, die ihn warnen, sind nicht überall, wo er in den Meta-Nexus eintaucht, notwendig; hier aber ist er besonders darauf angewiesen, sich das Subnum zu vergegenwärtigen, denn diese Umgebung, weil sie so angenehm, so einlullend ist, birgt in hohem Maße die Gefahr, sich im Cogito, in der Methode, zu verlieren – das heisst in seinem Falle: im Geschehenlassen der Musik –, und erfordert also in ebenso hohem Maße die konkrete Selbstwahrnehmung, die „Erdung“, das „Grounding“.
Von jenen Werken aus der Violin-Literatur, die er gut auswendig kennt – sie deshalb so gut kennt, weil er die Geige so sehr liebt –, hat er diese spezielle Ciaconna also gewählt, weil er sicher weiss, dass sie ihn aufregt; dass sie, indem sie sein Herz schneller schlagen lässt, ihn dazu aufruft, bewusst Gleichmut zu bewahren. Dass dergleichen so wie erwartet auch gelingt, ist niemals garantiert. Jeder Aufenthalt im Meta-Nexus birgt das Risiko, dass die Methode – weil vielleicht plötzlich defizient geworden – versagt; dass man damit das jeweilige Subnum – den Boden unter den Füßen – verliert und damit im Meta-Nexus – im Geist-Ozean sozusagen – untergeht. Kein Trip also, den man einfach so unternimmt, ohne zu wissen, warum und wohin; nicht aus Neugier etwa oder zum Spaß; und nie ohne sich zuvor der Stabilität des Subnums zu vergewissern.
Das Subnum ist umso zuverlässiger stabil, je weniger verlockend exotisch es ist, und entsprechend bietet, wie gesagt, diese spezielle Umgebung, Fair Island, wenig Verlass. Leicht kann man hiervon süchtig werden, von dem Klima, den Düften, der allgemeinen Unbeschwertheit. Im Inselinnern gibt es Dschungel, Flüsse, Wasserfälle; überall schwirren die Kolibris und gaukeln die prächtigsten, seltensten Schmetterlinge in großer Zahl; in den von blühenden Parks umgebenen Grand Hotels konzertieren die gefragtesten Musik-Ensembles der Welt, fast jeden Abend eines; und da das hiesige nautische Museum ein besonderes Archiv alter Logbücher beherbergt, kreuzen hier die interessantesten Typen auf, Schatzsucher, und sind entsprechend die Marinas ständig voll der tollsten Yachten. Und die Casinos nicht zuletzt, die man sich stilvoller kaum vorstellen kann, vermögen auch aus denen, die noch nicht spielsüchtig sind, Spielsüchtige zu machen.
Auch deshalb kommt man nach Fair Island gern, weil jeder hier inkognito, das heisst mal „ganz normal“ ist, und also sich auch die Berühmtesten und Geldmächtigsten hier zwanglos jenseits aller offiziellen Protokolle treffen können. Und sicher ist man, weil Zugang nur hat, wer entweder sehr vermögend ist oder über eine seltene und daher unbezahlbare Kompetenz verfügt (so wie unser Interpol-Detective). Und wodurch ist man hier geschützt? Etwa durch ein besonders effizientes Kontrollsystem? Das wohl auch, zusätzlich; vor allem jedoch durch Propaganda, durch all die Filme nämlich, die jeder kennt: in denen irgendein paradiesischer Ort solcherart realistisch dargestellt wird, dass die Realistik eindeutig als gestellt, als inszeniert erscheint, sodass kein vernünftiger Mensch so ein Paradies für wirklich real halten kann. Was man nennt: Die Realität hinter ihrer Inszenierung verbergen (eine Manier, die es auch leider möglich macht, dass durch das Inszenieren das Verborgene sich auflöst).
Deswegen, kurz gesagt, haben hier normale, das heisst von der Propaganda normal geprägte Menschen, Normalmenschen, keinen Zutritt: weil sie ihn nicht finden; weil für sie Fair Island gar nicht existiert und sie also gar nicht erst auf die Idee kommen, es besuchen zu wollen; weil ihnen die entsprechende Filmserie, wenn sie genügend unterhaltsam ist, vollkommen reicht.
Insofern ist übrigens auch auf die unerschöpfliche Kraft jenes uralten, immerzu aktualisierten Mythos Verlass, welcher uns lehrt, dass es ein Paradies, in dem man absolut sicher wäre, nicht gibt und geben kann, einfach weil alles sich bewegt, alles in Entwicklung ist. Das vergessen Normalmenschen vor lauter Normalität nur allzu leicht, im Unterschied zu jenen, die als „Sondermenschen“ zu Fair Island nicht nur Zutritt haben, denen die Insel – und ja nicht nur diese – schlicht gesagt gehört. Und die gerade dieses nicht eliminierbare Quantum an Unsicherheit, an potentieller Lebensgefahr, als besonderen Reiz empfinden. Wodurch erklärlich ist, warum es hier von Hochstaplern geradezu wimmelt. Hier als ein solcher aufzutreten, allein das schon zeugt von Mut und einiger Begabung, sodass Hochstapelei, auch wenn sie auffliegt, mit Gnade rechnen kann; ja dass die Kategorie „enttarnter Hochstapler“ gar einem Status gleichkommt. Eigentlich sogar, könnte man überspitzt auch sagen, stapeln hier alle hoch, und die Beurteilung im einzelnen Falle hängt nur davon ab, welche Definition von Hochstapelei gerade die allgemein gängige ist.
Jedenfalls stelle man sich Fair Island alles andere als langweilig vor.

Was Detective Brains nun insgesamt zum Thema Body Job vor Augen hat, ist kurz gefasst in etwa dies:
Die Schell-Vereinung, bisher nur eine Theorie, erscheint nun plötzlich als ein ausgereifter Plan, an dessen Verwirklichung, wie’s aussieht, ernsthaft gearbeitet wird.
Nachdem schon die Dreiteilung Schells als logisch nachvollziehbar und also zulässig eingestuft worden war, spricht im Prinzip nichts dagegen, auch die geplante Wiedervereinung Schells zu akzeptieren; und der erste Schritt dazu ist ja mit dem Body Job von USchell und Kick Kimura bereits vollzogen worden – allerdings ohne dass es Brains hatte kommen sehen; was ihn aber auch nicht wundert, denn bislang hatte er noch keine Sache, in die Kimura involviert war, kommen sehen.
Die sich anbahnende Vereinung Schells ist also nicht das Problem; was bei der Logik-Polizei Alarm ausgelöst hatte, sind die undurchsichtigen Begleitumstände, vor allem, dass nun plötzlich ein vierter Schell im Spiel ist: Tschell. Dieser ist in Krakl aufgetaucht, jener altdeutschen Kleinstadt, die für RSchell das inoffizielle Zentrum seiner Real-Kreation und damit die Hauptstadt sozusagen dessen ist, was er unter dem Reich versteht; welches er – eher unbewusst als insgeheim – für sein Reich hält.
So wie USchell immer sehr viel unterwegs war, und zwar in Ureal, um für die Technik-Folgen-Abschätzung seinen Horizont an Wissen und Erfahrung zu erweitern, ist auch RSchell meistens unterwegs gewesen, um, so könnte man es nennen, sein „Reich“ auszudehnen; dies nun allerdings seit längerem schon nicht mehr, da er in Babaal in Regierungsgeschäfte geraten war und damit in ein Chaos, das er inzwischen nicht mehr beherrscht, das ihn daher festhält in Babaal. Deshalb Krakl, allzu lange nun schon ohne die Manipulation durch RSchell, wie verwaist daliegt, schutzlos, unbedeutend, schon gar nicht für irgend jemanden noch „Reichshauptstadt“, und damit de facto ausgeliefert jeglicher neuen Interpretation. So betrachtet, das ist klar für Brains, hätte Tschell ja gar nirgendwo sonst auftauchen können.
Hinzu kommt: Bent.
Der dürfte eigentlich nicht da sein. Nach dem, was bekannt ist, hat er damals in Las Vegas den Weg nach Shoot-Out City genommen. Dorthin geht man, um sich zu entleiben, das heisst sich aus der Welt beziehungsweise aus dem Spiel schaffen zu lassen. Wo sich demnach Bent befinden müsste, heisst hinterm Großen Spiegel oder auch: im Jenseits (des Spielfeldes). Das ist die eine Ebene, die auch für Detective Brains tabu ist, nämlich diejenige, so darf man vermuten, auf der die Spieler als solche, das heisst real sich befinden. Daher diese Ebene hier vorläufig nur einfach „Jenseits“ genannt werden kann, wird sie doch verdeckt von etwas, das bisher noch nicht bis zur Beschreibbarkeit erforscht werden konnte.
Dass es jemandem gelingt, den Großen Spiegel zu durchdringen – meist per Zufall –, kommt vor, jedoch nur äusserst selten; und dass jemand von dort zurückkehrt, ist auch schon vorgekommen. Aber dass einer als der zurückkehrt, der er vor dem Großen Spiegel war, der also erneut den Spiegel durchdringt, von der anderen Seite aus, von hinten sozusagen, und dabei unverwandelt bleibt, das heisst als derselbe wiederkehrt – das hat es, soweit sich Brains erinnern kann, seit dem Bestehen von Flysh noch nie gegeben. Mag es woanders, zu anderen Zeiten, unter anderen Bedingungen, wohl schon vorgekommen sein, nicht aber im Rahmen des Flysh-Spiels. Daher es auch keine Regel gibt, die das explizit verbietet; dennoch es auf Seiten der Logik-Polizei natürlich Widerwillen erregt.
Aber noch hat Manes Bent nicht mehr Substanz als ein Phantom, und ob die Sache schliesslich von der Logik-Polizei als wahrscheinlich genug, das heisst als regelkonform eingestuft werden kann, wird wohl davon abhängen, wie dieser Bent sich in nächster Zeit macht; ob wirklich nachvollziehbar wird, dass es ohne ihn nicht geht; ob er also nur Phantom bleibt oder mehr aus ihm wird. Phantome just for fun wird Brains nicht auf die Dauer akzeptieren.
Und auch davon hängt es ab, wie Tschell sich macht; ob dieser –
Und hier wird der Plan ersichtlich: Bent würde durch einen Body Job mit Tschell durchaus an Substanz gewinnen – und Tschell doch ebenso. Und dieser würde nach der Body Job-Verschmelzung höchstwahrscheinlich wissen, was Bent erfahren hat über das, was hinter dem Großen Spiegel ist – das heisst wir würden – – übers Jenseits aufgeklärt! Eine sogar für Brains fast aufregende Aussicht.
Der Meta-Nexus zeigt an dieser Stelle, was eine Fusion per Body Job, so wie sie da in Krakl zur Zeit in vollem Gange ist, ermöglichen könnte: die Vereinung der drei Schells zu Einem und zugleich, dadurch bedingt, das In-Erscheinung-Treten von Bent und Tschell als Derselbe.
Und in noch weiteren Verästelungen zeigt sich dieser ganze Komplex:
Wie auch Amusio und Amuza zur Wiederherstellung des verlorenen König Azuma eine Vereinung durchzumachen haben; und wie gleich der einstigen Aufspaltung jenes Azuma dereinst auch der Jung-Schriftsteller (heute der Verfasser dieser Darstellung) sich aufspaltete in die zwei Romanfiguren Manes Bent und Linval Livermore; und wie schliesslich auch auf Meta-Ebene – repräsentiert durch klein-h und Groß-H – die Teilung stattgefunden hat um der Wiederganzwerdung willen.
Und drittens zeigt sich, wie er selbst, Brains, mit all dem in Zusammenhang steht, und also welcher konkrete Schritt seinerseits der nächste zu sein hat:
Während der eine der drei „Schell-Jobs“ – die USchell-Kimura-Fusion – als bereits vollzogen gelten darf, und der zweite „Job“ – HSchell’s Fusion mit Spetz Feynsinn alias Frau Doktor – schon quasi unaufhaltsam im Gange ist, hapert es, immernoch, beim dritten, bei RSchell’s Job, gar sehr; so sehr, dass ein Eingreifen der Logik-Polizei – hier allerdings im Sinne eines Nachhelfens – unvermeidlich erscheint.

RSchell glaubt immernoch, das Chaos sei zu meistern. Das glaubt man, solange man Angst vor dem Chaos hat. Ist man noch in dieser Angst und gibt sich doch dem Chaos hin, weil man meint, es nur so, durch Hingabe, meistern zu können, landet man so gut wie sicher in einer Endlosschleife, und genau das bahnt sich bei RSchell an. Das sieht Brains; er kennt es aus Erfahrung, so ist er selbst einmal in eine Endlosschleife geraten, damals das Brains-Kontinuum genannt. Damals lernte er, den Glauben, das Chaos sei zu meistern, aufzugeben. So erfuhr er, dass über die Angst vor dem Chaos nur das hinausführt: sich selbst zu meistern. Und wie im Chaos übrigens, so ist es auch im Meta-Nexus: Nur ohne diese Angst, nur gleichmütig, kann man darin bestehen.
Dass nicht das Chaos selbst, nur die Angst davor gemeistert werden kann, dazu muss diese Angst einem erstmal bewusst werden. RSchell ist sie noch nicht bewusst. Er ist noch cool, sieht das Chaos als lediglich ein Problem, wenn auch schon als das Problem.
Er hat genug von Babaal, will raus aus seiner Beteiligung an den undurchschaubaren „Regierungsgeschäften“, raus aus dieser „Scheinwelt“. Er sucht den Ausgang – was man dort die „Passage“ nennt –, sucht mit allen Mitteln, bereit, sich ins Ungewisse zu stürzen, sich dem Chaos, wie gesagt, hinzugeben. Wie kann er – über das hinaus, wovor er Angst hat: das Chaos – das wahre Problem erkennen: seine Angst davor? Wie bringt man ihm das Fürchten bei?
Das Chaos mag wohl das Böse sein und man muss, ja soll sich davor fürchten, dazu ist es da. Damit man Zuflucht sucht im Guten. Um das Gute als solches zu erkennen; als solches; nämlich nicht nur im Gegensatz zum Bösen, als welches es bloß ein Abstraktum ist, eine dialektische Funktion, nicht weniger relativ als das Böse und damit ebenso irreal wie dieses; das Gute vielmehr als wesenhaft, als real zu erkennen, das heisst als ohne Gegensatz, als das Absolutum jenseits der dualistischen Logik; es zu erkennen, kurz gesagt, als das, wodurch man selbst, verbunden mit jenem „Ozean“, dem Geist, über das dem Normal-, dem Gehirn-Verstand Erfassbare hinausreicht.
Wie also bei RSchell die Angst, die ihm noch nicht einmal bewusst ist, in Gleichmütigkeit verwandeln, und zwar auf die Schnelle? Denn wenn er vorher die Passage findet und so womöglich nach Matoxa gerät, dürfte das sein sicherer Untergang sein. Dann käme die Schell-Vereinung, wenn überhaupt, nur unvollständig zustande, und das wäre ungut, denn das käme einer Illusion gleich, und eine solche könnte nur zu einer nächsten, zu einer besonders beständigen, ja womöglich unauflösbaren Illusion führen, mithin zu einem zweiten Tod

Das ist an RSchell ja das Eigentliche: die Illusion. Nicht dass er sich für intelligent hielte – er findet sich nicht einmal schlau –, das muss man ihm zugute halten. Nur ist er zutiefst in der Vorstellung befangen, als Kreator von Realen sei er es, der auch das Real-Geschehen kontrolliere. Wo doch schon ein flüchtiger Blick in die Anthropologie lehrt, dass gerade diese menschliche Top-Illusion immer dieselbe Konsequenz hat: Chaos. Und wie der Mensch im Allgemeinen so auch RSchell: ahnt, ja weiss im Grunde, dass es so ist; tut aber – vor lauter Reichs-Illusion –, als wüsst’ er’s nicht. So weiss er zwar, dass nur der Body Job ihn aus Babaal herausbringt, sprich ihm die nächste Ebene öffnet, und weiss sehr wohl auch, dass man nicht bewusst darauf hinarbeiten kann, kommt jedoch nicht los von seiner Vorstellung, wie der „Job“ zu laufen hat. Weil er von der Vorstellung nicht loskommt, es sei dieses Verfahren namens Body Job ja überhaupt seine Erfindung. Weil er sich dieser Vorstellung gar nicht bewusst ist. Und so sucht er also für seinen Body Job, was man nicht suchen, sondern nur finden kann: den Anderen, oder: die Andere. Einen Body Job machen ja nun mal mindestens zwei.
Und die Zeit drängt.
Eine wichtige Voraussetzung dafür, Babaal verlassen zu dürfen, scheint sich bereits erfüllt zu haben: Der junge Axias Lemm könnte sein Nachfolger im Regierungspalast werden. Ferner ist er kurz davor, das refugiale System zu begreifen, ein Riesenthema … Und er trägt jetzt auch schon diesen eigenartigen Exilanten-Anzug, den Exoot …
Oder Rivera, sein Freund und Gegenspieler: jeden Augenblick könnte von dem ein Hinweis kommen, der ihm die Passage öffnet. Und was auch noch eine Versuchung für ihn darstellen dürfte, sind diese Dinger, die so schön Abkürzung versprechen, die Kapseln mit der Azuma-Substanz …

Dies jedenfalls sieht unser Detective im Meta-Nexus klar: wie akut nötig hier sein Eingreifen ist. Ein Brains aber lässt sich von derlei und natürlich auch davon nicht zur Eile zwingen.
Dass von Forty O noch Hilfe kommt, denkt er, ist unwahrscheinlich. Ausgerechnet jetzt zieht der Alte sich aus dem aktiven Dienst zurück … Und Murphy? Hatte nur soviel Zeit, kurz mal RSchell gegenüber mich ins Spiel zu bringen; dreist genug … Und er kommt zu dem Schluss: Gibt nichts anderes, um RSchell zu helfen, als ihm einen Anstoß in Richtung MDO-Level zu verpassen.
Damit zieht Brains sich aus dem Geschehen der Bach’schen Charconne zurück und beendet sein In subnum; erhebt sich aus dem Strandsessel, streckt sich, gähnt, prüft den Stand der Sonne, schlendert davon.
Als er im Hotel nach der Rechnung fragt, bekommt er einmal mehr zu hören, was er auf Fair Island immer zu hören bekommt: „Aber Mr. Brains – ist doch alles längst beglichen!“
Gut. Nun braucht er sich nur noch umzuziehen, sein Köfferchen zu packen und zu Abend zu essen, bevor er die Insel verlässt.
Als er dann in einem der Restaurants am Hafen sitzt, fällt ihm die Sache mit der Guarneri-Geige ein. Was Murphy sich da ausgedacht hatte, ist so undurchsichtig verschachtelt, dass selbst Brains es nicht völlig versteht. Ist die Guarneri wirklich gestohlen worden? Ist die gestohlene wirklich eine echte Guarneri? Gibt es wirklich eine falsche? Ist die falsche wirklich wieder gegen die echte ausgetauscht worden? Und hat dieser Trickbetrug überhaupt wirklich stattgefunden? Das Geld jedenfalls, das Murphy dadurch beschafft, wird dringend vom Service of Intelligence gebraucht, seit dieser auch von seiner wichtigsten Geldquelle, dem Old Hickory Trust, abgeschnitten wurde; was eindeutig von Tyrus Paulson, dem Anführer des neuen SI, veranlasst worden war. Deshalb hat Brains bei der Sache mitgemacht, das heisst sich von Murphy dafür einspannen lassen. Denn er ist dem SI, dem echten, durchaus noch etwas schuldig; zwar eigentlich nur Kick Kimura, doch der gehört dem SI so sehr an, dass er ohne den SI – so wie der ohne ihn – ja gar nicht denkbar wäre.
Klar weiss Brains, dass ihn die Beteiligung an dem Betrug erpressbar macht, weiss aber auch, dass Murphy alles andere als der skrupellose Gangster ist, den er mimt, und Erpressung nicht auf seiner Linie liegt, Brains also sicher nicht Gefahr läuft, irgendwann als der korrupte Bulle dazustehen (zumindest wegen dieser Sache nicht).
Wenn ich, denkt er, auch nicht ganz verstehe, wie dieser Trick mit der Geige tatsächlich funktioniert, und es sich dabei also sehr wahrscheinlich um einen Verstoß gegen die Anti-Bullshit-Regel handelt, kann ich das ja hier wohl schlecht begründen, ohne mich selber als die Logik-Polizei zu disqualifizieren. Das heisst ich muss dieses Dilemma, diesen Interessenskonflikt, einfach akzeptieren.
Wie man daran sieht, ist Detective Brains auch dazu fähig: Ein Nachdenken, wenn es zu aussichtsloser Grübelei wird, einfach abzubrechen. Zwar ist anzunehmen, dass sich ihm im Meta-Nexus auch in dieser Angelegenheit ein klärender Überblick ergeben würde, jedoch stünde dieses maximale Mittel in unangemessenem Verhältnis zu dem doch eher banalen Zweck. Sich um privater Dinge willen in jenen „Ozean“ zu wagen – oder zur Aufklärung solcher Nebensächlichkeiten wie Murphy’s Trickbetrug –, ist für Brains, so wie für jeden echten MDO, tabu.
Um so leichter lässt er das Thema fallen angesichts dessen, dass es nun schon dunkel geworden ist, die Nachtfähre nach Babaal, hell beleuchtet, bereit zur Abfahrt daliegt und es allmählich Zeit für ihn wird, an Bord zu gehen.

S.13

Die letzte Zigarre

Nachdem mich vor einigen Minuten der kosmische Blick von Forty Operas durchdrungen und für einen Moment in den wahren Durchblick mitgenommen hatte, bin ich nun, als das zum zweitenmal geschieht, schon ein wenig darauf vorbereitet.
Blitzartig wieder die Distanzierung von mir selbst, während all mein Persönliches wieder auf eine irrelevante Winzigkeit zusammenschrumpft, zu jener Lücke im Gedächtnis, jenem Pünktlein: der Stelle, die ich als einzige auf der Welt als völlig leer sehe, weil genau an dieser Stelle ich bin.
Diesmal geht es in der Überschau aber nicht um mich, vielmehr um den Technus: auf einen Schlag erfasse ich sein Wesen, und zwar indem ich A2X27 begreife, nämlich das Wort verstehe, Flysh, wie es durch A2X27 codiert ist. Ich seh’ es wie im Spiegel, rückwärts, von allen Seiten, auch von hinten, und sogar zeitlich, wie es entsteht, wie es vergeht. Und bin mir des Fehlers bewusst, der diese Sicht ermöglicht, dass nämlich fehlt, was im Normalfall diese Sicht verhindert: mein Alltagsbewusstsein, das eine solche Sicht unglaublich finden und ein aus ihr Gesehenes einfach nicht akzeptieren würde.
Und ich verstehe, warum Forty Operas damit recht gehabt hatte, dass gar nicht verraten werden kann, was Flysh beziehungsweise A2X27 heisst: Weil das so weit jenseits der gewohnten Logik liegt, dass die Sprache davor schlicht versagt.

Rotgolden füllt jetzt die untergehende Sonne dieses leere ehemalige Büro der Seabed Authority. Und keinen Wunsch verspüre ich im Augenblick so stark wie den, wieder zu glauben, ich sei der, der ich bisher zu sein glaubte; es zu glauben so wie eins und eins ist zwei.
„Was hat Sie denn aber eigentlich wieder nach Istanbul geführt, Operas?“
Er geht darauf nicht ein, nicht direkt; stattdessen: „Wir sprachen von Philosophie.“
Sie, mit Verlaub. Ich halte mich in Sachen Philosophie inzwischen zurück.“
„Ich habe Sie auf Schelling hingewiesen.“
„Schelling schon wieder … Ich sage Ihnen, auch bei dem habe ich herumgelesen, so wie bei Fichte, bei Hegel; aber alles zwecklos. Na klar weiss ich, bei denen lernt man denken – und vielleicht habe ich davon ja irgendwas gelernt, wer weiss.“
„Los, Schell, dann erraten Sie mal meine Definition von Philosophie!“
„Mühe.“
„Jedenfalls hätten Sie sich mit Schelling gut verstanden.“
Das klingt, als hätte er den persönlich gekannt … Dazu Kimura: Das ist nicht so abwegig wie es scheint, denn du hast es hier ja nicht mehr mit Ladenheuser zu tun, sondern mit Forty Operas, und der ist ja schon sehr sehr alt, wie wir wissen.
„Was mich andererseits nach Istanbul geführt hat, ist, dass Flyrie anscheinend in Schwierigkeiten steckt. Hat sich mit dem World Water Council angelegt und sitzt jetzt hier im Gefängnis.“
Monton Flyrie, der Jamaikaner; immer schon dem SI nahestehend, aber nur locker verbunden. Typischer Freerunner.
„Habe ihm zwar geraten, was ich allen immer rate, sich nämlich aus der Politik herauszuhalten, aber natürlich: für einen Dienst arbeiten und sich dabei aus der Politik raushalten, ist viel verlangt.“
„Wie von einem Taxifahrer zu fordern, sich von Straßen fernzuhalten.“
„Er hätte lieber richtig bei uns mitmachen sollen, in Vollzeit sozusagen. Doch wem sage ich das? Sie, Schell, sind ja auch so einer, der nie richtig bei uns mitmachen wollte – und jetzt plötzlich mitmachen muss. Last Exit: Service of Intelligence. Weshalb uns – so wie es schon immer war – für die wahre Geheimarbeit nur Gesindel zur Verfügung steht.“
Man möchte hoffen, dass der ruppige Forty O. mit Gesindel etwas sympathisches meint, das Gegenteil vielleicht … Wir werden hier abgehört, davon gehe ich aus, und verlassen uns darauf, dass in unserer Redeweise Krypt und Klartext nicht zu unterscheiden sind. Wobei ich mir gar nicht mehr sicher bin, ob ich das selber noch unterscheiden kann. Will Operas zum Beispiel glauben machen, er sei hier, um Flyrie freizubekommen? Oder ist geplant, dass der hier erstmal eingesperrt bleibt? Weil er vielleicht, um einen Zugang zu Geo Reys Netzwerk zu finden, an Leute herankommen muss, die man nur im Gefängnis trifft?
Hier schaltet sich nun Kick Kimura ein: „Müsste für Sie doch ein Kinderspiel sein, Flyrie da herauszuholen. Wenn ich daran zurückdenke, wie Sie mich sogar mal aus einer militärischen Einrichtung rausgeholt haben …“
„Sowas kann ich nicht mehr. Und auch ein paar andere Fähigkeiten sind mir mit den Jahren verlorengegangen. Die Müdigkeit, seit je mein großer Gegner, ist immer stärker geworden, und ich immer schwächer, sodass ich immer häufiger den Kampf verliere.“
„Sie schlafen also manchmal? So wie normale Menschen auch?“
„Ja. So habe ich jetzt auch ein Privatleben. Doch zurück zu Paulson. Ich habe ihn unterschätzt. Als ich begriff, dass er schlauer ist als ich dachte, war es zu spät.“ Er bemerkt, wie mich dieses Eingeständnis schockiert, und setzt hinzu: „Tja, Kimura, daran siehst du, wie sehr ich nachgelassen habe. Ich bring’s nicht mehr. Ist insofern ja berechtigt, dass jetzt Paulson den SI anführt.“
Längere Pause.
„Hey, Forty, amerikanische Wissenschaftler haben jetzt herausgefunden …“
„Aber sind gleich wieder reingegangen. Ich weiss. Soll ein Witz sein, ist es aber nicht. Denn die damit auf den Punkt gebrachte Misere der heutigen Wissenschaft ist in ihren Folgen kein bisschen lustig.“
„Ach, kommen Sie, wann wollen Sie endlich mal lachen?“
„Erst wenn die Geschichte zuende ist.“
„Ob dann aber die entsprechende Muskulatur noch mitmacht?“
Dazu kursiert im SI folgende Überlieferung: Vor langer, langer Zeit war Forty Operas sich einmal sicher, seine Geschwätzigkeit endgültig unter Kontrolle zu haben, und prompt kam da der Moment, in dem er auf keinen Fall hätte geschwätzig sein dürfen: gerade da aber liess er sich hinreissen. Und darüber untröstlich, hatte er dieses Gelübde abgelegt: nicht mehr zu lachen, das heisst radikal aus sich einen Anderen zu machen.
Die Sonne ist untergegangen. Nun wird das Büro von den Leuchtwerbungen der gegenüberliegenden Fassaden erhellt, abwechselnd violett, dann gelb, dann türkis: Barocco Om&OmGrandsome WestJuju Mitsu Kybio … immerzu in dieser Reihenfolge.
„Es ist also aus mit uns?“ frage ich.
„Hier ja. Hier ist nur noch Ureal. Auf dieser Ebene ist nichts mehr zu erreichen.“
„Aber auf einer anderen Ebene …“
„Wenn du sie findest.“
„Das heisst es gibt sie immerhin.“ Doch ich weiss: das hängt von mir ab. Ich trage sie in mir, diese andere Ebene. Oder auch nicht. Wenn ich sie da nicht finde, dann ist sie – für mich jedenfalls – nirgends.
Forty nun: „Hast du gelegentlich das Gefühl –“ beobachtet zu werden?
„Ja, irgendwie –“ ist da ständig ein Publikum anwesend.
„Weil das –“ alles hier sich im Kontrollbereich abspielt.
„Deswegen –“ reden wir auf einmal so komisch.
„Hm, ja.“ Um nicht missverstanden zu werden, verlässt du dich lieber nicht auf das hier: Plötzlich sehe ich vor ihm auf dem Tisch ein Smartphone liegen. Lag das vorher schon da?
Worauf wir uns stattdessen verlassen, weisst du?
Ja, aber das kann ich noch nicht. Oder meinen Sie etwa – „Ich kann es schon?“
Du hast es hier schon zweimal erfolgreich praktiziert.
Aber doch nur mit Ihrer Hilfe, Forty. Es war beide Male ein Blick nicht eigentlich durch meine eigenen, sondern durch Ihre Augen.
Die brauchst du nun zu dieser Art Sehen nicht mehr. Du bist ab jetzt autorisiert.
Und nun, diesmal nicht durch Forty’s Blick vermittelt, stellt sich die kosmische Sicht wie von selbst ein, wenn auch wieder nur für einen Moment: Wieder das große Bild, das Riesengroße, und wieder die leere Stelle darin, der Ort, an dem ich gerade nicht bin – die Gedächtnislücke –, nur diesmal sehr viel deutlicher als vorhin, nicht einfach abstrakt wie ein Punkt, sondern konkret: eine ausgebrannte Feuerstelle.
„Das Große Bild im Kleinen“, sagt er. Was wir im SI das Big Picture nennen.
„Unglaublich, Boss. Mir reicht’s.“
„Eins müssen wir noch klären –“ das Wichtigste: wie du an verschiedenen Orten gleichzeitig sein kannst.
„Sie meinen –“ Bilokation?
Trilokation. Mindestens; doch für den Anfang reicht das.
„Moment, Chef, lassen Sie mich mal verschnaufen.“
Worauf er nickt und ausgiebig zu gähnen anfängt.
„In letzter Zeit mal was von Wayne gehört?“, frage ich.
Wayne, der Buddha genannt … Ich denke an die alten Tage zurück, habe die San Francisco Bay vor Augen, im Nebel, und Wayne’s Bar, The Happy End, am Ende des Piers …
„Wayne hat den Dienst quittiert. Was man ihm an Weisheit unterstellte, so teilte er mir mit, sei doch nur Einfalt gewesen.“
„Hm. Da widerspricht sich doch diese Einfalt irgendwie … Hat er noch seine Bar?“
„Ja; damit schon ein paar Jahre in Port Dumas ansässig; die Anlaufstelle, wie man hört, für ehemalige Alkoholiker.“
„Soll heissen, Wayne bekehrt in seiner Bar die Säufer?“
„Genau. Allerdings ohne das Zertifikat der Anonymen Alkoholiker. Dafür gilt das Happy End inzwischen als die Adresse in puncto Bibel-Exegese.“
„Sicher für die Welt ein Gewinn – und ein guter Grund, mal wieder in Port Dumas vorbeizuschauen –, doch für den SI wohl ein herber Verlust.“
Forty nickt. „Inzwischen hat der sogenannte SI soviele Agenten wie noch nie. Dafür habe wir fast niemanden mehr.“
„Was ist mit Trisha Percival?“
„Verschollen. Schon seit längerem. Dabei sollte sie bloß in Andria etwas abliefern.“
„Und Murphy? Mit dem hatte ich unter dieser Adresse hier eigentlich gerechnet.“
„Treibt Geld auf. Denn im Zuge der Umstrukturierungen hat man’s leider auch irgendwie geschafft, uns vom Old Hickory abzuschneiden. Wir sind jetzt finanziell auf Selbstversorgung angewiesen.“
Ich versuche mir das vorzustellen. „Aber Rumco, so will ich hoffen –“
„Ist noch dabei, klar, und wie immer natürlich völlig überlastet.“ Mit einem Blick auf das Smartphone, das da immernoch zwischen uns auf dem Schreibtisch liegt, fügt Operas hinzu: „Er hat da was konfiguriert. Muy especial. Du hast auch sowas, will ich hoffen?“
„Klar.“
„Eingeschaltet?“
„Weiss nicht.“ Ich hole es aus dem Rucksack, „Ja, eingeschaltet“, und lege es neben Forty’s Gerät. „Das reicht schon“, sagt er, und ich nehme an, da überspielt sich jetzt wohl irgendwas von seinem Gerät auf meines.
Derweil überlege ich: Einblick ins Big Picture … Den hatten doch bisher nur MDOs … Jetzt brauche ich auf einmal Forty gar nicht mehr dazu? Und das auch noch in Verbindung mit Trilokation … An drei Orten gleichzeitig zu sein: das ist doch Multi Dimensional Operating in Reinkultur … Und dass ich jetzt autorisiert sei … Da läuft es mir ja kalt den Rücken runter …
Bis auf den Schimmer der Leuchtschriften von gegenüber – violett – gelb – türkis – ist es nun dunkel im Büro.
„Hat hier eventuell der al-Möffi-Effendi etwas für mich hinterlegt?“
Worauf Operas mir über den Schreibtisch etwas kleines zuschiebt. Eine Kreditkarte. Auf Schell ausgestellt. Danke. Ich stecke sie ein.
„Für diese Mission und alles, was du dafür brauchst, ist Mr. Paulson zuständig.“
Das sollte wohl eine Botschaft an den Kontrollapparat sein, denke ich.
„Für die Schwarzmeer-Passage hat mir Paulson zwei Schiffe zur Wahl angeboten.“
„Nach Odessa und nach Batumi, nehme ich an.“
„Habe Odessa gebucht.“
Forty nickt. „Die Uzmir 9. Versiffter Kahn voller Halsabschneider.“
„Beeindruckend, wie gut Sie immernoch informiert sind, ich meine dafür, dass Sie im SI nichts mehr zu melden haben.“
„Unnötig gut informiert; da hast du allerdings recht. Muss ich mir abgewöhnen. Aber auch du solltest aufpassen, Kick. Was haben dir deine kindischen Versuche eingebracht, dich immer wieder als der unbeugsame Freerunner zu behaupten? Doch nur, dass du schliesslich aus dem Service rausgeflogen bist.“
Jetzt aber trotzdem wieder drin bin, denke ich für mich.
„Und glaube bloß nicht, du seist jetzt wieder drinnen. Denn den Kimura, der mal rausgeflogen ist, gibt’s ja gar nicht mehr, nicht denselben jedenfalls.“
„Ich weiss; wie’s auch den SI ja nicht mehr gibt, aus dem ich damals rausgeflogen bin. Es ist das Schwerste, finde ich – immernoch und wie auch immer – sowohl Freerunner zu sein, als auch in service.“
Deshalb Schelling. Sein Spätwerk, wohlbemerkt. Und überhaupt alle Philosophie: deshalb. Die Freiheit, zu dienen; oder aus Freiheit dienen. Kein Ideal soll das sein, nichts irgendwie schwieriges, nur eben die Praktik, die uns Agenten vom normalen in den gesunden Zustand überführt.“
„Klingt sehr vernünftig, Forty, ehrlich.“
„Wenn das klar ist – gut.“
Natürlich hat er bemerkt, dass ich mit meinen Gedanken woanders bin. Nicht dass ihn das beleidigt; doch dass es ihm einen Stich versetzt, spüre ich durchaus; und was ich da eben gesagt habe – so blöde obenhin: „klingt sehr vernünftig“ –, tut mir leid. Nur ist diese Wahrheit nun mal nicht abzuweisen: Forty’s Zeit ist abgelaufen. Und er weiss es. Mag er auch ur-uralt sein, senil ist er noch lange nicht.
Wenn im übrigen für einen wie Forty Operas die Zeit abgelaufen ist, wie erst recht dann für Typen a la Mr. Paulson! – Vorsicht, ermahnt mich da sofort mein Kick inside, unterschätze Paulson nicht!
… violett … gelb … türkis …
„Zigarre?“
Oh … Dass Forty Operas jemandem eine seiner Spezialzigarren anbietet, das hat es, soviel ich weiss, noch nie gegeben. Diese Sitzung scheint also auch für ihn eine besondere zu sein.
„Danke sehr.“
Eine Weile sitzen wir uns da nun im Halbdunkel gegenüber, in diesem Wechsel von Violett, Gelb und Türkis, und qualmen das Büro voll.
„Das ist also der berühmte Tabak der Schamanen … Grässlich. Soll wohl auch gar nicht angenehm schmecken, nehme ich an.“ Von Forty darauf keine Antwort.
„Dieses komische Gebilde“, sage ich schliesslich, „ein Stempel, oder eine Art Siegel, ein Logo, so kompliziert, dass man’s gar nicht beschreiben kann …“ Das, was ich auf all den Kisten in jenem Kellergewölbe gesehen habe …
Forty mit einem Nicken: „Geo Rey’s Siegel. Vier Bilder, die sich so überlagern, dass keines eindeutig zu erkennen ist. Vier Symbole, die zusammen ein fünftes ergeben: die Synthese aus Löwe, Rose, Buch und Kelch. Wenn man das zu entschlüsseln versucht, wird unweigerlich ein Blödsinn daraus.“
„Eine Art Gedicht also.“
„Na ja, die Poesie von heute: reines Alarmzeichen. Man nenne bloß Geo Rey keinen Dichter, dafür liesse er einen umbringen, habe ich gehört.“
Ich betrachte den Zigarrenqualm und sage: „Hatte eine gewisse Wirkung befürchtet, ehrlich gesagt; einen halluzinogenen Effekt. Spüre aber nichts dergleichen.“
„Was könnte das bedeuten?“
„Dass dieses Kraut vielleicht auch nicht mehr das ist, was es mal war?“
Lange Pause.
„Ist tatsächlich nicht mehr das, was es mal war“, sagt Forty schliesslich. „Warum also rauche ich das Zeug noch?“
„Weil Forty Operas ohne diesen Zigarrenduft kaum vorstellbar ist.“
Er nickt. „Ein Erkennungszeichen. Nur ist ja gar nicht mehr nötig, dass man mich erkennt.“
„Vielleicht dass der Genuss-Aspekt noch einen Sinn ergibt?“
„Darüber habe ich lange nachgedacht – nein. Ich hab genug davon.“
„Soll das heissen –?“
„Dass dies der richtige Zeitpunkt für meine letzte Zigarre ist.“
„Ihre letzte Zigarre, Forty? Dann ist das ein historischer Moment!“
„Reine Nebensache. Wenn etwas hier historisch ist, dann was ganz anderes.“
„Was meinen Sie?“
„Nicht etwa“, dass du zum MDO wirst – du bist es schon.
Worauf ich in dem abwechselnd violetten, gelben und türkisen Halbdunkel erbleiche. Ist es das, was er mir die ganze Zeit klarzumachen versucht? Weshalb überhaupt diese Unterredung hier stattfindet? „Das meinen Sie nicht ernst.“
„Wann habe ich je etwas nicht ernst gemeint?“
Noch nie. Das weiss jeder, der ihn kennt. Darauf beruht seine Autorität.
„Fragt sich, was ich dir vererben könnte.“
„Vererben? Haben Sie etwa vor, zu sterben?“
„Ich ziehe mich zurück. Bin schon viel zulange zu müde für diesen Job. War nur niemand bis jetzt in Sicht, der ihn übernommen hätte.“
„Aber –“ ob ich will – spielt das keine Rolle?
„Nein.“ Fraglich ist nur, ob du es kannst. Im übrigen vergiss nicht: das Ding, das du zu koordinieren hast, den SI, gibt’s ja gar nicht.
Worauf mir ein Ächzen entfährt.
„Forty. Ehrlich. Ich habe. Nicht. Den blassesten. Schimmer. Einer Ahnung. Wie. Multi. Dimensionales. Operating. Funktioniert.“ Damit ahme ich nach, wie Forty Operas manchmal zu jemandem spricht, der sich als besonders begriffsstutzig erweist; und ich forsche in seinem Blick nach einer Spur von Amüsement; vergebens. Was ist da stattdessen? Kälte? Teilnahmslosigkeit? Nein. Überdruss? Verachtung? Auch nicht. Hingegen vielleicht Wärme? Verständnis? Güte? Ebensowenig. Da ist nichts als Raum, nichts als Ferne – diese ungeheure kosmische Ferne. Wieder einmal muss ich feststellen: Der ist wirklich nicht von dieser Welt.
„Warum sagst du so nachdrücklich das Unrichtige? Natürlich hast du eine Ahnung, wie das MDO funktioniert.“
Aber ich bin noch nicht soweit!
„Na schön …“ Wieder zückt er seine alte Taschenuhr; hält sie in der offenen Hand und sagt: „Sehr simpel, sehr nützlich. Zwölf Ziffern im Kreis. Man braucht nur zu wissen, wofür diese Ziffern stehen; und dann nur noch festzulegen, was sich zwischen den Ziffern abspielen soll, das heisst in jeder der zwölf Stunden.“
„Und dann?“
„Weisst du immer, je nachdem wie die Zeiger stehen, wo du gerade bist.“
Ich verstehe: Ich bin immer jetzt. So eine Uhr mit Zifferblatt und Zeigern gibt die Zeit räumlich an: aus dem Wann macht sie Wo.
„Hm“, sage ich. „Und wo sind wir gerade?“
„Wir sprachen vorhin über Literatur als Metapher.“
„Metapher für die Art, in der wir uns die Wirklichkeit zurechtzimmern.“
„Und das macht Literatur relevant.“
„Wenn ich Autor wäre.“
„Wie Schell zum Beispiel. Aber auch wenn du eine Romanfigur wärest, dürfte Literatur relevant für dich sein.“
„Ja, allerdings.“ Ich gähne.
„Und wie relevant sie erst sein muss für den, der Autor und Romanfigur zugleich ist; für Schellkimura zum Beispiel.“
Ich gähne nochmals. Woher diese Müdigkeit, die mich auf einmal überkommt? Was ist das? So plötzlich, so überwältigend … Mann, bleib wach!, sage ich mir, das ist wichtig hier! Du kannst jetzt nicht einfach einschlafen! Doch ich kann gar nicht mehr aufhören zu gähnen; und während ich noch dagegen ankämpfe, ist mir schon klar, dass er es ist, Forty, der mich in den Schlaf schickt.
„Hast du die Uhr verstanden, verstehst du auch unsere Kosmologie, ich meine unseren irdischen Standpunkt.“
„Aha“, gähne ich, „so ist das also … Wie spät haben wir’s denn eigentlich?“
Dass er irritiert die Stirn runzelt, sehe ich noch, und dann, dass er sich diese Uhr ans Ohr hält, und höre auch noch, wie er ungläubig murmelt: „Die wird doch wohl jetzt nicht ihren Geist aufgegeben haben …“

B.12

Alias Bent

Aussen vor. Ausgesperrt. Von der Realität wie ausgeschlossen …
Halt! Hat er das gerade gesagt? Oder gedacht? Oder wer? Habe nur ich das gehört? Oder ihr auch? Aussen vor. Ausgesperrt. Von der Realität wie ausgeschlossen … Wenn er das eben gedacht hat, dürfte das wichtig sein; wo ich doch gerade ihn bedachte, ihn, der in diesem neuen Real die Hauptperson ist.
Auch hier haben wir es wieder mit einem Schell zu tun. Doch nicht mit R- oder mit U- oder mit H-Schell, sondern mit einem Vierten, einem, der bisher vollkommen unscheinbar, ja geradezu unsichtbar existiert hatte; unsichtbar, aber immer irgendwo in der Nähe …
Kurz, wir haben es mit Tschell zu tun.
Auch er sieht aus wie etwa Anfang vierzig. Auch er wie jemand, den man, weil er einfach nichts Bemerkenswertes an sich hat, gleich wieder vergisst. Auch er einer, der manchmal intelligent erscheint, nicht oft allerdings und nie so, dass man denken würde: Welch intelligenter Typ! Was ihn von den drei uns bekannten Schells erheblich unterscheidet, ist dies: Jene verfügen über ein gutes Quantum an Distanz zur Welt des Scheins, sodass immer klar ist, zumindest von aussen betrachtet, dass hier mit einem Schell jeweils der Autor in seinem Roman auftritt; dass überhaupt so etwas wie ein Roman noch da ist, das heisst noch ein Unterschied besteht zwischen Roman und Real. Hingegen für Tschell besteht dieser Unterschied nicht mehr und also erscheint die Situation wie umgekehrt: statt dass der Autor in seinem Roman bewusst selbst als fiktive Gestalt auftritt, verkörpert sich dieser sozusagen fiktiv gewordene Autor durch Tschell unbewusst in einem Real; wodurch dieses sich zur Gänze schliesst und also, weil somit als Real nicht mehr erkennbar, zur Realität für ihn wird. So ist Tschell mit seinem Real nicht nur sehr stark identifiziert, sondern eigentlich überidentifiziert. Und was hat das zur Folge? Dass er inzwischen keine Sekunde lang mehr nachzudenken braucht. Alles läuft für ihn von selbst.
Mit diesem Alles ist hier eine Maschinerie gemeint, nach Art eines Lebewesens in Dauerbetrieb; eine Maschinerie, deren Aktivität man sich restlos anvertrauen muss, und eben das heisst hier: sich identifizieren. In diesem Sinne funktioniert bei Tschell das Identifizieren zu einhundert Prozent. Er steht der Scheinwelt nicht wie R-, U- und H-Schell gegenüber, sondern ist darin ganz aufgegangen; ist mit dem Anschein wie verschmolzen.
Dabei hört er die ganze Zeit eine Stimme in seinem Kopf, oder eigentlich nicht eine Stimme, eher einen Gedankenstrom; den er nur deshalb wahrnimmt, weil er inzwischen selber keine Gedanken mehr hat; einen Gedankenstrom, von dem er nur weiss, dass er nicht sein eigener ist; der ihn aber auch nicht direkt stört. Was ihn höchstens daran irritiert, ist das Persönliche: als dächte da in ihm eine Person vor sich hin.
Aussen vor. Ausgesperrt. Von der Realität wie ausgeschlossen …
Wen Tschell da vernimmt, nennt er für sich den Anderen. Oder die Andere. Oder auch, wenn ihm dabei manchmal unheimlich ist, das Andere. Das Fremdartige. Das Alien.
Es erklärt, es erzählt, es berät, ja gibt sogar Anweisungen.
Manchmal aber ist auch alles nur Metapher – Krypt, wie man heute sagt –, und dann fühlt Tschell, dass er schon wieder die ihm da metaphorisch mitgeteilten Geheimnisse nicht begreifen kann, und kommt sich in seinem Körper vor wie eine Marionette an den Fäden eines großen Puppenspielers, und alles erscheint ihm dann so komisch pseudo, so unwirklich, so wie – ja wie?
Wie nur durch sich hindurch. Durch  d i c h  hindurch – du bist in einem Transit, Tschell, verstehst du das?
Was Tschell davon versteht, ist bisher nur, dass dieser fremde Gedankenstrom ihn von irgend etwas zu überzeugen versucht.
Und überhaupt: Tschell? Was soll Tschell? Zu wem spricht er, oder sie, oder es? Bin tatsächlich mit Tschell ich gemeint? So fragt sich Tschell; allerdings nur nebenbei, denn wie üblich hält ihn eine Unmenge von Kleinigkeiten vollautomatisch vom Nachdenken ab. Immerhin aber klingt diese Tschell-Benennung nach – hat sie vielleicht mit dem zu tun, wovon der Andere – oder der Gedankenstrom – oder das Alien – ihn zu überzeugen versucht?
Doch bleiben wir objektiv. Tschell überidentifiziert heisst auch: nicht nur irgendwie getarnt, sondern im Modus tiefster Tarnung auf der höchsten Stufe. Sodass er gar nicht wissen kann, wer er letztenendes wirklich ist. Oder wo er wirklich ist – wie zum Beispiel die Stadt um ihn herum überhaupt heisst.
Ach ja – Krakl. Eine Kleinstadt. In Deutschland. Recht malerisch gelegen zwischen waldigen Hügeln an einem Flussgeschlängel. Standort ehrwürdiger Gelehrsamkeit schon seit dem Mittelalter; davon übriggeblieben: Die Uni. An der es bis vor kurzem sogar noch einen Rest von Ägyptologie gegeben hatte … Es gibt ein Stück Roman über diese spezielle Ägyptologie, ein Romanstück, das zwar in Amerika spielt, in Las Vegas, aber mit dem Ende des ägyptologischen Instituts in Krakl seinen Anfang nahm; als nämlich das Institutspersonal aus nur noch drei Personen bestand: aus Frau Kramer, genannt Das Sekretariat, Gurner Pentshak, dem ehemals berühmten, inzwischen nur noch berüchtigten alten Professor, und dessen Assistent, einem gewissen Manes Bent. Hier nun erinnern wir uns an das vorherige Kapitel: Da war doch in Havanna dieser junge amerikanische Anthropologe namens Linval Livermore in Erscheinung getreten … Setzen wir an dieser Stelle diese Vorgeschichte fort:

Während der Verfasser (der Schreiber dieser Zeilen) auf Jamaika weilte, drei Jahre insgesamt, entdeckte besagter Livermore jenes neue Inselreich des König Azuma und schrieb im Stil eines anthropologischen Forschungsberichts ein Buch darüber: Andria. Und dieses wurde ein Erfolg, auch kommerziell. Denn ein gewisser Monro, der Livermore’s Forschungsarbeit unterstützte, hatte dafür gesorgt, dass die Moonrow, eine Firma, die Bücher, Filme und Spiele produzierte, die Verkaufsrechte erwarb und sogleich in großem Stil das Marketing in Gang setzte.
Zu jener Zeit war Tschell noch Schell, der Eine, nämlich einfach das alter ego des Verfassers. Da hatte er schon ein erstes literarisches Experiment hinter sich, Nada oder Die Ursache, und war über diese Erfahrung zu der Überzeugung gelangt, dass seine Ambitionen gar nicht mit den Bedingungen der Schriftstellerei zusammenpassten; dass er vielmehr, wenn er als Schreiber weitermachen wollte, sich eine andere, eine eigene, neue Ebene würde erschliessen müssen. Und ohne schon zu begreifen, was er tat – mit nur dem vagen Umriss einer Idee vor Augen, noch ohne den Begriff der Real-Technik –, hatte er damit begonnen, sich in eine Alias-Identität einzuleben, und zwar in die des Manes Bent, eines Adepten der Ägyptologie.
Zunächst war er schrittweise hinter diese Bent-Identität zurückgetreten, indem er seine eigene Vergangenheit nach und nach in die des Manes Bent umgemünzt hatte. So lange war dieser noch sein fiktiver Doppelgänger gewesen. Dann hatte sich an einem gewissen Punkt die Sache umgedreht, war er selbst zum Doppelgänger geworden, das heisst so sehr hinter Bent zurückgetreten, dass zu diesem im Vergleich nun er selbst der Fiktive war.
Das klingt rätselhaft, ja unwahrscheinlich; es ist kaum vorstellbar – noch nicht; doch mit fortschreitender Erkenntnis der Real-Technik wird sich das ändern.

Jener Bent also: er pendelte zwischen Wien, Berlin und Paris hin und her; verschaffte sich die akademischen Grundlagen der Ägyptologie, arbeitete als Comic-Zeichner und belieferte nebenher ein Untergrund-Magazin namens SubNews mit fiktiven Reportagen über verbotene Bücher. Dies letztere unternahm er anonym; ein zwangloses Drauflos-Schreiben ohne jegliche Verantwortung, welches ihm zunächst nur einfach ein Vergnügen war. Dazu gehörte vor allem das Geheimnisvolle, die Atmosphäre nämlich, als sei mit allem, was er da erzählte, etwas anderes gemeint, irgendein verborgenes Dahinter. Diese Art Unterton mochte wohl als bloßes Stilmittel aufgefasst werden, doch ging es hervor aus einem Gefühl, das sich nie zur Gänze verdrängen liess, weil es – zumindest wenn er für Momente ernst und ehrlich mit sich war – aus der Gewissheit kam, dass seine Berufung in Wahrheit die des Dichters war. Wovon er allerdings ganz entschieden nichts wissen wollte – Berufung!, Wahrheit!, und dann noch: Dichter!, nein, entschieden nein! Denn seit der Erfahrung, die er mit jenem literarischen Experiment namens Nada oder Die Ursache gemacht hatte und die eine überaus peinliche gewesen war, wollte er mit einem Pathos wie dem der wahren Berufung nichts mehr zu tun haben. Und wie aus Scham für dieses Gefühl der Berufung, der Gewissheit, ja wie um sich geradezu dafür zu bestrafen, schrieb er umso ungezügelter drauflos. Sein trotziges Credo damals hätte etwa lauten können: Ich denke, was ich will, und finde dafür Worte wie ich will – das ist meine Freiheit.
Es war diese damalige Phase seines Lebens sehr ereignisreich, eine Zeit der Entdeckungen, der Abenteuer, der Begegnungen mit aussergewöhnlichen Menschen. Er lernte besagten Linval Livermore kennen, in Paris, und auf Anhieb hatten sie sich viel zu sagen; sodass sie, als Livermore nach Amerika zurückkehrte, miteinander in Kontakt blieben. Und da Bent die englische Sprache inzwischen gut beherrschte und ihm das Buch, das sein neuer Freund über Andria geschrieben hatte, sehr gefiel, nahm er ohne zu zögern das Angebot an, es ins Deutsche zu übersetzen. Da er ohnehin mit dem Autor in regem Austausch war, machte ihm diese Arbeit Spaß und ging ihm entsprechend leicht von der Hand; ausserdem wurde er gar nicht mal schlecht dafür entlohnt; und nicht zuletzt: sie fand des Autors Anerkennung. Denn nicht nur wusste Livermore um die Schwierigkeiten des Übersetzens im Allgemeinen, er konnte auch, da er selbst über gute Deutschkenntnisse verfügte, Bent’s Übersetzung einigermaßen beurteilen. Sodass es schliesslich dazu kam, dass Bent von der Verlagsfirma, der schon erwähnten Moonrow, exklusiv unter Vertrag genommen wurde für alles, was von Livermore auf deutsch erscheinen sollte.

Bent und Livermore: sie inspirierten sich gegenseitig, doch nicht, weil ihrer beider Forschung in annähernd dieselbe Richtung ging, sondern weil ihre Anschauungsweisen dabei zum Teil erheblich differierten. Das machte ihren Austausch so ergiebig. Dass Livermore sehr vieles von Bent aufgriff und in seinen Büchern verarbeitete, störte Bent keineswegs, im Gegenteil. Nahm ihm Livermore nicht quasi die ganze schriftstellerische Arbeit ab? Und noch dazu bescherte ihm ja die Übersetzerei ein kleines, aber ausreichendes und leicht verdientes Einkommen. Denn Bent hatte zu jener Zeit noch eine andere Arbeit, nämlich die Assistenz bei Professor Pentshak, und die kostete ihn viel Zeit, während was er dafür an Bezahlung erhielt, nur eher symbolisch war.
Die Arbeit mit Pentshak brachte es mit sich, dass er viel unterwegs war, mal den Professor begleitend, mal auch allein; auf Forschungsreisen, wie es hiess. Über das Wesentliche dieser Reisen hatte er – denn es war esoterischer Natur – Stillschweigen zu wahren; während er über das Unwesentliche Protokoll zu führen hatte, für die Akten. Dabei musste er sich immer wieder fragen – und fragte es sich bis zum Schluss –, ob es nicht eine Dummheit gewesen war, sich ausgerechnet bei Gurner Pentshak als Schüler zu bewerben. Genau das nämlich bedeutete die Assistenz bei diesem sonderbaren Professor: Schülerschaft. Und der latente Zweifel am Sinn dieser Ausbildung gehörte dazu, wie er im Laufe der Zeit entdeckte. Denn zum einen führte, was Pentshak lehrte, so weit ab von dem, was die übliche, die offizielle Ägyptologie beinhaltet, dass es zu dieser gar kein Zurück mehr gab; und zum anderen schien es direkt in der Art der Pentshak’schen Ägyptologie zu liegen, dass der Schüler das Anfängertum nicht verlernte, das heisst immer in Betracht zog, dass die Möglichkeit, in Dummheit zu verfallen, durchaus mit der fortschreitenden Erkenntnis Schritt hielt. Kurz, was das Zweifeln in diesem Sinne angeht, war Bent ein gelehriger Schüler – gewesen, wie man dazusagen muss; denn wusste er zwar um die ständige Gefährdung durch Dummheit, so konnte ihm doch das Verfallen in selbige schlussendlich nicht erspart bleiben. Und auch das könnte man im Rückblick als notwendigen Bestandteil der Pentshak’schen Ausbildung ansehen, als deren Abschluss, die Große Prüfung sozusagen.
Man hätte Gurner Pentshak auch in ägyptologischen Kreisen leicht übersehen können, und wen der Ruf, den er genoss, abschreckte – seine Lehren galten als unwissenschaftlich, abstrus, ja sogar sektiererisch –, der übersah ihn auch einfach. Nur wenige machte der abschreckende Ruf neugierig, und vielleicht war Bent überhaupt der einzige, den dieser Ruf geradezu veranlasste, eigens nach Krakl zu reisen, um sich von dem exotischen Professor selbst einen Eindruck zu verschaffen. Dieser Besuch führte ihn ins Sekretariat des Instituts, vor eine Frau Kramer, die sehr nett war, ihm aber versicherte, der Professor sei auch morgen und übermorgen nicht persönlich anzutreffen, und heute schon gar nicht; die ihm zum Abschied jedoch vorschlug, sich für die Assistenzstelle zu bewerben, denn die sei zur Zeit vakant.
Nun hatte er sich ja nur mit diesem Pentshak einmal unterhalten wollen, mehr nicht; warum dachte er über die Bewerbung auch nur nach? Wahrscheinlich gab zuletzt die Abenteuerlust dafür den Ausschlag, dass er wenige Tage später schon tatsächlich ein Bewerbungsschreiben nach Krakl schickte.
Die Antwort allerdings, ein von Frau Kramer unterschriebener Brief – die kurze förmliche Einladung zu einem Gespräch –, liess so lange auf sich warten, dass sie ihn dann durchaus überraschte.
„Der Professor ist sehr spontan“ – so vor Ort dann Frau Kramers Erklärung dafür, dass Bent auch diesmal den alten Pentshak noch gar nicht zu Gesicht bekam. Und als sie hinzufügte: „Er legt größten Wert darauf, jederzeit bereit zu sein“, klang das bedeutsam, wie quasi die allererste Grundregel, und also prägte er sich das in Großbuchstaben ein: JEDERZEIT BEREIT.
So wohlwollend, so hilfsbereit, so auf etwas altbackene Art charmant Frau Kramer insgesamt auch wirkte, so klar auch strahlte sie aus, dass sich mit ihr nicht irgendwie umspringen liess; sie war die Chefin hier, und dies in betont konservativem Stil; auch fraulich übrigens in diesem Stil: in adretter Schale, maßvoll in Schminke, Beschmückung und Duft, auf flair bedacht und nicht auf Anreiz; von rötlich-blondem Typ, grünäugig, bebrillt, durchaus nicht übertrieben schlank; in ihren späten Vierzigern, schätzte Bent.
Während eines kurzen Rundgangs durch die Räumlichkeiten des Instituts kam sie aufs Finanzielle zu sprechen, das heisst wies auf die nur sehr bescheidenen Mittel hin, mit denen die hiesige Ägyptologie zu haushalten habe. „Insofern ist ja das mit dem Verdienst bei uns so eine Sache; kaum dass man da von einem ordentlichen Gehalt reden möchte … Aber Sie erwähnten, Sie hätten einen Job. Können Sie den hoffentlich auch hier ausüben?“
Bent darauf: „Durchaus. Ich übersetze.“
„Na wunderbar! Ist dann also nur noch zu klären, ob Ihnen Ihre neue Unterkunft zusagt.“ Sie hatte bereits eine Wohnung für ihn angemietet. „In der Altstadt, hoch unterm Dach, mit Ausblick; vollständig möbliert; und recht gemütlich, würde ich sagen.“ Sie übergab ihm den Schlüssel und beschrieb ihm den Weg dorthin.
So endete also, was Bent sich unter „Einladung zu einem Gespräch“ doch recht anders vorgestellt hatte, damit, dass hier abrupt sein neues Leben begann. Was zufällig mit dem Anfang des Wintersemesters zusammenfiel; sodass also das Lehrprogramm schon feststand. „Der Professor“, so Frau Kramer, „liest wie immer über die Neue Ägyptologie, und solange er dazu keine Zeit hat, übernehmen Sie das vertretungshalber.“ Worauf er erschrocken genug gewirkt haben musste, dass sie beruhigend hinzugefügt hatte: „Sie haben völlig freie Hand, exkursieren Sie wohin Sie wollen. Ausführungen zum Beispiel über Osiris und das Ewige Leben wären immer im Sinne des Professors.“
Zu diesem Zeitpunkt war die Krakler Ägyptologie noch ein regulärer Institutsbetrieb, das heisst es gab eine Studentenschaft und dieser entsprechend auch einige Dozenten, sowie ausser Pentshak noch einen zweiten Professor. Insofern machte insgesamt besehen diese Umgebung auf Bent den Eindruck des Üblichen. Dass er aus dem Stegreif Vorlesungen halten sollte, verursachte ihm zwar ein gewisses Lampenfieber, jedoch kein Kopfzerbrechen. Er würde einfach die Studenten an seinem Nachdenken darüber, was denn unter Neuer Ägyptologie zu verstehen sei, teilhaben lassen; und falls ihm dazu nichts einfiele, könnte er immernoch über die gegenwärtige Form des Mumienwesens reden, oder über die ägyptischen Ursprünge des römisch-katholischen Kultus, oder die Symbolik des Taro … Und nicht zuletzt, was Frau Kramer erwähnt hatte: Er könnte der Frage nachgehen, worin hier und heute der Osiris und das Ewige Leben zu finden sei.

So nichtssagend und abgenutzt als Redensart das Hier-und-Jetzt auch sein mochte, die stete Besinnung darauf, aktualisiert durch jene Grundregel in Großbuchstaben: JEDERZEIT BEREIT, erwies sich wieder einmal als das einzig Wahre im Umgang mit dem Neuen, als das einzig Wahre also auch für den Einstieg in die sogenannte Neue Ägyptologie. So, in diesem Zustand konzentrierter Geistesgegenwart, fühlte Bent sich gar nicht angestrengt, sondern angenehm lebendig, und gingen ihm diese Vorlesungen in Vertretung des Professors recht gut und locker von der Hand.
Auf die positive Resonanz seitens der Hörer reagierte Frau Kramer, als habe sie nichts anderes erwartet, und so wurde, wenn er mit ihr im Sekretariat das schon bald zur Gewohnheit gewordene Plauderstündchen abhielt, alles mögliche erörtert, nur keine dienstlichen Belange.
Weiterhin allerdings liess der alte Pentshak auf sich warten; ein Rätsel, das Frau Kramer keineswegs beunruhigte, wiewohl sie natürlich für Bent’s Ungeduld Verständnis hatte. „Wirklich, Herr Bent, ich weiss nicht, wo er steckt, was er treibt; ich habe Ihnen keinerlei Erklärung zu bieten. Er ist sehr spontan, kann ich nur immer wieder sagen. Und leider bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sich einfach in Geduld zu üben.“
Noch rätselhafter wurde dieser Pentshak, als Bent, der wenigstens wissen wollte, wie der Alte aussah, nach einem Foto fragte und sich herausstellte, dass auch Frau Kramer kein einziges auftreiben konnte, auf dem der Professor zu sehen war.
„Wie ist das möglich?“, staunte Bent. „Der müsste doch auch bei Ausgrabungen mal dabeigewesen sein – wo doch massenhaft photographiert wird!“
„Ich denke, er will nicht auf Fotos erscheinen“, so Frau Kramer, „und wenn einer dergleichen zu verhindern weiss, dann unser Professor. Sie werden nie aufhören, sich über ihn zu wundern, soviel ist sicher.“

Tatsächlich wäre unserem Bent der Einstieg in die Krakler Ägyptologie – in diese spezielle Schülerschaft – nicht so leicht gefallen, oder wäre ihm womöglich gar nicht gelungen, wenn Gurner Pentshak da schon anwesend gewesen wäre. Denn wie sich erwies, war dieser Alte, der nach Wochen dann endlich auf der Bildfläche erschien, für Bent kein völlig Unbekannter, oder genauer: für Bent schon ein Unbekannter, nicht aber für den, der er gewesen war, bevor er Bent wurde. Das war nämlich, was ihn, als er des Professors ansichtig wurde, sehr stark irritierte, ja seine ganze schöne Selbstsicherheit gehörig erschütterte: dass diese Begegnung ihn an eine Vergangenheit erinnerte, die er für rein fiktiv hielt – während doch hier und jetzt sein Bent-Dasein so real für ihn war!
Anders gesagt: Pentshak’s Erscheinen brachte ihm schlagartig seinen Doppelgänger zur Erinnerung, das heisst jenen, der sich dereinst den Bent ausgedacht und mit Erinnerungen ausgestattet hatte und dessen Realität dann hinter dieser Bent-Fiktion so gut wie vollständig in Vergessenheit geraten war. Und daran war gar kein Zweifel. Es war nicht die Erinnerung eines anderen, die er da hatte – wie hätte das auch sein können? – nein; vielmehr erkannte er: Ich bin gar nicht Bent, sondern in Wirklichkeit ein anderer.
Und nicht Bent war es eigentlich, sondern dieser Andere, der hier jetzt den Alten anstarrte wie eine Geisterscheinung, dieser selbe Andere, der einst einmal – es war in Bangor gewesen, in einem Antiquariat, Morituri geheissen – diesem selben Alten gegenüber gestanden hatte; wobei ihm das tief gefurchte Gesicht mit dem zerzausten Backenbart und die in einen schwarzen umhangartigen Mantel gewandete hohe Statur heute nicht minder imposant erschien als damals.
Schauplatz war das Sekretariat, und Frau Kramer zugegen; die schliesslich diesen langgezogenen Moment beendete: „Setzen Sie sich, Bent, trinken Sie ein Kaffeechen mit mir. Der Professor hält heute die Vorlesung natürlich selber – oder etwa nicht, Professor?“ Dieser, seinen Blick weiterhin auf Bent gerichtet, murmelte nur: „So Sie das wünschen …“
Er schien sehr wohl zu wissen, was in Bent vor sich ging: dass dieser durch das Wiedererkennen sich mit der plötzlichen Erinnerung an ein anderes, ein wirklicheres Leben konfrontiert sah und dass ihn das nicht nur verwirrte, sondern ihm einen regelrechten Schock versetzte. Er sagte nun: „Bisher hat man sich hier offenbar recht gut mit Ihnen amüsiert, Herr Bent. Also bleiben Sie ruhig der, der Sie jetzt nun einmal sind, will sagen der, der Sie auch sind.“ Und ohne dazu noch weiteres zu sagen, verliess er, mit einem Nicken zu Frau Kramer hin, das Sekretariat.
„Nun aber hingesetzt, mein Lieber! So kreidebleich wie Sie plötzlich aussehen, brauchen gar nichts zu erklären. Denn so wie Ihnen jetzt, ist es mir selber auch einmal ergangen. Interessiert Sie das?“ „O ja!“
Und hier nun leistete Frau Kramer zu Bent’s Beruhigung ein Beträchtliches, eine Notversorgung sozusagen; denn das dürfte wohl klar sein: wie leicht es um einen gesunden Verstand geschehen ist, wenn seiner Voraussetzung, nämlich der gewohnten Ich-Identität, ohne bewusste Vorbereitung plötzlich der Boden sich entzieht.

I.12

Einschaltung

Seit dem zuletzt in diesem Blog veröffentlichten Kapitel „Kick inside“ sind nun schon achtzehn Monate vergangen. Das heisst von Aktualität, die das Wesentliche des Genres „Blog“ ausmacht und die natürlich von einer kontinuierlichen Fortsetzung abhängt, kann hier wohl nicht mehr die Rede sein. Daher gilt es nun neu anzusetzen. Neu insofern, als dass sich nach dieser Lücke von achtzehn Monaten die drei Erzählungen unter Introlog, Bureau und Mystery Saga nicht in dem bisherigen Stil einfach fortschreiben lassen. Warum, dazu dieser Hinweis auf den Grund für die lange Unterbrechung: Die Corona-Krise hat den Schreiber dieses Blogs sowohl mental, als auch psychisch, als auch spirituell in Turbulenzen solcher Art gebracht, wie er sie zuvor noch nie erlebte, und so hatte er in dieser Zeit ganz anderes zu schreiben.

Zunächst die Frage, die uns bei jedem Eintritt in Schells Bureau begleiten sollte:

WO SIND WIR HIER?

Sind wir uns unserer Anwesenheit bewusst, jetzt, das heisst: des Geistes gegenwärtig? – Wir fragen uns, anstatt zu antworten; halten wenigstens solange inne, bis wir bemerken, dass wir tatsächlich hier sind.

 

Bis hierher war Schells Bureau ein Internet-Projekt: ein Roman als Blog, der thematisch sich selbst zum Gegenstand hatte, und zwar als Teil des Internets in dem Sinne, in dem ein Teil fürs Ganze stehen kann. In dieser Hinsicht ist hier das Projekt zuende; nicht aber die besagten drei Erzählungen. Sie haben sich fortgeschrieben, quasi von selbst, und sie schreiben sich weiter fort. Und weiterhin besteht Schells Bureau seiner Struktur nach als modus operandi zur Veröffentlichung. Und auch mit der Erforschung, der Beschreibung und der Handhabung der Real-Technik ist es hier nicht zuende, ganz im Gegenteil: sowohl in der Erforschung, wie auch in der Beschreibung, wie auch in der Handhabung sind wir nun erst richtig angekommen.

Zahlen spielen in diesem Romanwerk eine Rolle, insofern sie Ausdruck allgemeiner Gesetzmäßigkeiten sind, denen niemand, auch der Romanschreiber nicht, ungestraft zuwiderhandelt. Und ganz klar dominierend war bisher die Drei. So gut wie alles Grundlegende hier war dreigestaltig angelegt, so auch die Struktur dieses Romans, der in seiner Gesamtheit mit Was ist Geist übertitelt ist.
Alles darunter hat sich bis hierher wie von selbst dreiteilig, das heisst zur Trilogie geordnet. Deren erster Teil, Flysh, war abgeschlossen, war wie Vergangenheit. Ihr zweiter Teil, Schells Bureau, war das, was gerade ablief, wie Gegenwart. Und das Dritte, wie Zukunft, kam noch auf uns zu, erst allmählich deutlicher werdend durch seinen Titel Flussfahrt.
Die größte Gefahr, wenn man sich so eine Struktur zurechtlegt, ist die, dass man irgendwann in ihr ist und sie für selbstverständlich hält. Dann wird sie einem unverrückbar und man verfällt in Schematismus; lässt dann vor allem gern beiseite oder nimmt schlimmstenfalls gar nicht mehr wahr, was sich ihr nicht einfügt. Dann ist Struktur nicht mehr Hilfe, sondern wird Hindernis. Bedarf das eines Beispiels? Man blicke nur bedachtsam in den Spiegel, vielleicht begleitet von der Frage: Wer bin ich hier? Könnte ich ohne jegliche Schematik, das heisst unvoreingenommen darauf antworten? Das bringt uns für den Moment darauf zurück, dass es bei der Real-Technik und überhaupt im Ganzen dieses Romanwerks – auch in dem Spiel „Flysh“, von dem schon oft die Rede war – um Erkenntnis geht, und darum, wohin sie führt ohne Kenntnis dessen, der erkennt. (An dieser Stelle muss gesagt sein, dass der Verfasser die weibliche Form – die Erkennende, die Leserin – grundsätzlich mitdenkt, sich allerdings des Genderns bewusst enthält, weil durch das Explizieren der geschlechtsbezogenen Grammatik die schöne Sprache ungeniessbar, weil unflüssig, weil so unschön pickelig wird. Und sie soll schön sein, die Sprache – und sollte das der angestrebten Objektivität der Darstellung irgendwie Abbruch tun, dann sei es so!)

Dem Leser (also auch der Leserin) dürfte aufgefallen sein, dass der Protagonist in den Erzählungen unter Introlog, Bureau und Saga jeweils Schell heisst, und klar ist wohl, dass es sich da um drei Versionen desselben Protagonisten handelt, nämlich den Autor eben jenes Romans, in welchem er selbst als Romanfigur unterwegs ist. Und da er den Roman dreigestaltig konstruiert hat und diese Trilogie dann so in Gang setzte, dass ihre Teile gleichzeitig und parallel zueinander sich entwickelten, musste logischerweise die Schell-Konstruktion auch eine dreigliedrige sein.
Um nun den einen Schell in seiner Dreigestalt auseinanderhalten zu können, wurde der Protagonist unter Introlog zu RSchell, unter Bureau zu HSchell und unter Mystery Saga zu USchell.
Das R steht für Reich, und das Reich bezeichnet die ganze Romanwelt, über die RSchell uneingeschränkt zu verfügen wähnt, da er sich für ihren Kreator hält. Demgegenüber steht das U für Ureal, USchells Element, und das ist als das Gegen-Reich zu verstehen, als sozusagen die Unterwelt des gesamten Romangefüges. Und dazwischen schwankt das Humane, wofür das H steht; das Allgemein-Menschliche, welches der Taxifahrer HSchell zu repräsentieren meint.

Wenn von Konstruktion die Rede ist, kann leicht der Eindruck entstehen, als sei das hier Vorliegende die Ausführung eines anfänglichen Plans. Das würde bedeuten, es sei einmal bewusst konzipiert worden. So war es in diesem Falle nicht. Was hier Konstruktion heisst, hat sich ergeben, sich entwickelt, und zwar als Folge einer konkreten Situation: Der Verfasser, als er in jungen Jahren eine Reise unternahm, wusste so gut wie nichts über sein Ziel, hatte nur den Wunsch, einen Roman zu schreiben, und für die Rückkehr weder einen Plan, noch überhaupt ein Datum. Er hatte eine kleine Schreibmaschine dabei und es interessierte ihn vor allem, was er darauf tippen sollte. Und da wurde ihm schon das Fragwürdige dieser Unternehmung bewusst: Das eigentliche Ziel war ja gar nicht, einen Roman zu schreiben, sondern Schriftsteller zu werden. Wie aber das, wenn man nichts zu schreiben hatte? Dann galt es, das zu Schreibende sich zu beschaffen, oder sich zu erschaffen, besser gesagt.
Er war noch in der Luft, über der Karibik, da stellte er sich vor, dass er irgendwie beauftragt sei. Und so begann das Schriftstellerspiel, sein Roman, damit, dass er sich im Landeanflug auf Kingston, Jamaika, fragte: Hast du einen Auftrag? Wenn ja, dann mal heraus damit, wir sind gleich da …
Kurz zuvor, als die Zwischenlandung auf Kuba sich wegen eines technischen Defekts am Flugzeug über eine ganze Woche hinzog, hatte ihn dort, in Havanna, unter anderem die Frage beschäftigt, was ein König eigentlich zu tun hat. Sein Volk zu repräsentieren, klar, doch was heisst das? Verantwortung tragen – wenn man das ernst nimmt, wie sieht das im Konkreten aus? Was macht ein guter verantwortungsbewusster König den lieben langen Tag? Wahrscheinlich dieser Frage wegen lautete der Auftrag, den ich mir, als es endlich dann nach Jamaika weiterging, kurz vor der Landung in Kingston erteilte: Erfinde ein Königreich!
Man mag es als Ironie des Schicksals betrachten, dass ich mir in der Phase der denkbar größten Verantwortungslosigkeit ausgerechnet um Verantwortung Gedanken machte; doch wie ich heute finde, ist das logisch, und es entsprach auch ganz dem Geschehen der Zeit. Es war Ende November des Jahres 1989 und Berlin, von wo der junge Möchtegern-Schreiber zu seiner Reise aufbrach, befand sich so kurz nach dem Fall der Mauer teils noch in Euphorie, teils schon in Ratlosigkeit. Der Ostblock brach auseinander und die Sowjetunion hiess nun plötzlich wieder Russland. Wie sehr von diesem Auseinanderbrechen auch das sozialistische Kuba betroffen war, hätte der Reisende sich denken können; dachte aber nicht soweit; staunte nur, dass an der Grenze zwischen West- und Ost-Berlin, sowie dann auch am Ost-Flughafen, die Kontrollposten noch alle voll besetzt waren, niemand aber mehr kontrollierte. Sodass man auf dem Weg dorthin nur Mühe mit dem Glatteis hatte; der Winter war nämlich mit Schnee und Kälte schon stark hereingebrochen. Unvergesslich daher das erste, was ich realisierte, als ich im Dunkeln in Kuba aus dem Flugzeug stieg: dass das, was mir da entgegenklatschte, kein heisser nasser Waschlappen war, sondern die nächtliche Regenluft …

Neben dem, dass der junge Reisende damals in Havanna über das Königtum nachzudenken begann, wegweisend sozusagen für den zu schreibenden Roman, hatte jenes kurze Zwischenspiel auch einen sehr konkreten romantechnischen Aspekt: Er brauchte für seine Geschichte eine Hauptperson. Denn die, die bereits existierte – Kick Kimura, Held einiger Experimente in puncto Fiktion –, war dazu nicht geeignet. So wie er selbst, wollte der, den er suchte, keine ausgedachte Gestalt sein; wollte nicht erfunden, sondern gefunden werden. Er musste ihm selbst genügend ähnlich sein, sodass er ihn, wenn er ihn traf, quasi von innen heraus als sein alter ego erkennen konnte. Es galt also eine Art magischer Operation zu vollbringen, und dazu kam ihm zustatten, dass er sich durch das Studium der Ethnologie eine gewisse Kenntnis des Schamanentums angeeignet hatte. Allerdings war er skeptisch diesbezüglich, er traute seiner Kenntnis nicht so recht; und nichts lag ihm ferner als die Idee, schamanische Techniken selber anzuwenden.
Den Ausdruck Body Job kannte er noch nicht, und dass er einen solchen damals in Havanna vollzog, war ihm gänzlich unbewusst. Und da ihm auch der Begriff der Real-Technik zu jenem Zeitpunkt noch unbekannt war, konnte er nicht erkennen, dass dieser von ihm wie aus einer Eingebung heraus vollzogene Body Job ein typisch real-technischer Vorgang war.
Wir werden auf den Schauplatz Havanna zurückkommen; hier jetzt nur soviel: Indem er dort die Hauptperson gefunden hatte, konnte die Geschichte beginnen, und zwar damit, dass er kurz darauf nach Jamaika weiterreiste, während es gleichzeitig einen jungen amerikanischen Anthropologen namens Linval Livermore nach Andria verschlug, ein bis dato noch recht unbekanntes Königreich.

Der König Andrias, Azuma genannt, war zwar nicht unsichtbar, jedoch seinem Aussehen nach unbekannt, sodass jeder Andrianer im Prinzip Azuma hätte sein können. Besagter Linval Livermore war noch nicht lange im Lande, da geschah das Erstaunliche, dass Azuma tatsächlich in Erscheinung trat. Obwohl er sich kein bisschen herrscherlich aufführte – oder auch gerade deshalb –, wurde er unbeliebt beim Volke, und zwar so sehr, dass er schon bald sein Inselreich verlassen musste. Da litt er bereits an Gedächtnisschwund, und ohne die Hilfe eines Grüppchens treuer Freunde hätte er für sein Exil in der Fremde wohl keinen so schönen Ort wie Port Dumas gefunden. Dort allerdings verlor er dann bald sein Gedächtnis ganz. Was ihm dadurch widerfuhr, war eine Art umgekehrter Body Job: Aus dem einen wurden zwei. Während in Havanna aus dem Autor und seinem Romanheld ein und derselbe geworden waren, fand in Port Dumas die Auflösung des einen Azuma statt, und die zwei, die weiterexistierten – der eine namens Amuza, der andere namens Amusio –, wussten weder etwas voneinander, noch etwas von einem König Azuma.
Wie sehr diese beiden, Amuza und Amusio, in Gegensatz zueinander gerieten, was das bedeutete, welche Konsequenzen es hatte und wie tief ihn das ins Erleben der Dualität verstrickte, darüber war sich der Verfasser in den Jahren, die er mit seinem Schriftstellerspiel auf Jamaika verbrachte, durchaus nicht im Klaren. Vielmehr war es ihm ein unvergleichliches Vergnügen, alles, was er aus dem Leben griff, zu verallgemeinern, quasi philosophisch, einerseits, und dieses – andererseits – in Form von wilder Kolportage in seine kleine Schreibmaschine zu hämmern, nach dem Motto For amusement only.
Dabei war ihm zumindest oberflächlich bewusst, dass er unter dem Gesetz der Zwei stand. Denn die jamaikanische 50-Cent-Münze – das Konterfei von Marcus Garvey auf der einen und das Wappen der Insel auf der anderen Seite – hatte er nur deshalb jahrelang als Talisman immer dabei gehabt, weil sie ihm das universale Prinzip der Zweiseitigkeit symbolisierte.
Auch dass seine damalige Schreibarbeit unter einem Doppeltitel stand, zeugt von einer gewissen Bewusstheit: Der Titel Fleisch – in Bezug auf die Fleischwerdung des Wortes, des logos, von dem der Prolog des Johannes-Evangeliums spricht – bezeichnete die verborgene, die gewissermaßen esoterisch-sakrale Seite des Ganzen, wohingegen der andere Titel, King of Jamaica, eher scherzhaft gemeint, für die unverborgene, die sozusagen weltlich-profane Seite stand. Jedenfalls ist aus heutiger Sicht das, was er da zu Papier brachte, als reinster Schund zu bewerten, und der Verfasser kann der weisen Weltenlenkung, auch Mission Control genannt, nur herzlich dafür danken, dass er damit schriftstellerisch nicht zum Erfolg kam.

Im Erleben der Gegensätzlichkeit kam eine gewisse Bewusstheit gegenüber des Zusammenhangs von Raum und Zeit zustande, sodass immer konkreter das Räumliche zeitlich und das Zeitliche räumlich erlebbar wurde. Das Reich auf der einen Seite und dessen Gegenbild, Ureal, auf der anderen Seite erschienen in zunehmend detaillierter Ausgestaltung, erfahren einerseits durch den Reichsbewohner, RSchell, und andererseits durch den Bewohner Ureals, USchell. Und der eine Schell, der „Reichskreator“, geriet in einen unüberbrückbaren Gegensatz zum anderen Schell, der als Agent in Sachen Technikfolgen-Abschätzung (TFA) die ureale Sphäre erforschte. Denn mit den durch USchell gewonnenen Erkenntnissen hätte RSchell nicht mitwirken können an der Herstellung von Realen, welche den urealen Kräften entstammten.
Ureal beruhte auf dem Prinzip der Zwei, dem digitalen Prinzip des Null-oder-eins, An-oder-aus, Entweder-oder. Und darauf basierten auch die Reale, sowie auch das Reich, in dem sie entstanden; nur dass dort, wie auch in den Realen, das Ureale nicht bemerkbar war, weil einem darin der digitale Ursprung nicht zu Bewusstsein kam. Man sprach dabei zwar von „virtueller Realität“, begriff jedoch nicht das Absurde dieses Begriffs und nahm folglich die Virtualität für Realität, und je tiefer man sich in dieses Missverständnis einlebte, je normaler, selbstverständlicher die Verwechslung wurde, umso unwiederbringlicher schwand die reale Realität dahin, und alles, was auf diesen Grundirrtum gebaut war, auch das scheinbar Vernünftigste, konnte nur immer noch irrtümlicher werden.
Der König, dem das Gedächtnis schwand, schwand gewissermaßen selbst dahin; der Verfasser erkannte: Jenes Königreich, das zu erfinden er sich beauftragt hatte, war die Realität, und der Prozess der Amnesie war nichts anderes als der Prozess, den man auch als „Königsschwund“ hätte bezeichnen können. Hieraus erklärt sich, dass es notwendig wurde, sich aus dem Bann der Zwei zu lösen und überzuwechseln in die Sphäre der Dreizahl, das heisst zwischen R- und USchell einen dritten Schell zu etablieren: HSchell den „Durchschnittsmensch“, dessen Geschichte damit begann, dass er seinen Doppelgänger im Internet entdeckte, in einem Roman als Blog namens Schells Bureau. Diese Das Ereignis genannte Entdeckung löste ein Beben im Ganzen des Romanwerks aus, zerriss das, was die Protagonisten bis dahin als konsistentes Real-Gefüge erlebt hatten.
Auf drei Ebenen, entsprechend der trilogischen Struktur, hatte der Verfasser mit dieser Erschütterung umzugehen …
USchell, plötzlich auf die Brücke über den Bosporus versetzt, erwischte es am heftigsten. Für ihn war es, als hätte auf einmal ein ganz neues Spiel begonnen, in dem er, bis dahin Profi, auf einen Schlag wieder Anfänger war.
Ähnlich erlebte es auch RSchell, nur viel milder. Ihn irritierte, wie chaotisch es neuerdings in dem Bereich zuging, in dem er am Regierungsgeschäft beteiligt war.
Und zwischen Introlog und Mystery Saga, unter Bureau, hatte HSchell vor lauter Angst, den Verstand zu verlieren, große Mühe zu begreifen, dass er schon die ganze Zeit – unwissentlich – an einem Spiel teilnahm.
Nun ist – Ergebnis der achtzehnmonatigen Unterbrechung dieses Blog-Romans – auch mit der dreigestaltigen Struktur kein Weiterkommen mehr. Für Schell ist eine Verwandlung notwendig geworden, das heisst für jede seiner drei Versionen ein Body Job. USchell in der Mystery Saga hat ihn bereits vollzogen: mit Kick Kimura. Für HSchell bahnt er sich an, unvermeidlich, und man ahnt es schon: mit Frau Doktor alias Spetz Feynsinn. Und bei RSchell, der sich das noch gar nicht vorstellen kann – insgeheim hält er den Body Job für Theorie, eine Art Metapher – laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Dazu genüge hier die Andeutung, dass die Person, mit der RSchell per Body Job eins werden wird, den Zugang zu seiner Sphäre erst noch finden muss.
Mit der Verwandlung in Form des dreifachen Body Jobs geht der Übertritt aus dem Bereich der Drei in den der Vier einher, und dieser Übertritt bedeutet, dass die dreiteilige Struktur sich nun um einen zusätzlichen Teil erweitert, sodass ab jetzt das Ganze des Romanwerks aus vier Büchern besteht, also Was ist Geist nicht mehr Trilogie ist, sondern Quadrologie, und zwar dergestalt, dass nach Flysh und Schells Bureau als drittes Hauptbuch nun Transit entsteht; dem dann das vierte namens Flussfahrt folgt.

Die Implikationen, die es hat, bei der Vier angelangt zu sein, sind noch nicht absehbar; bekannt ist vorerst nur, dass in der Tradition die Vierzahl stets mit Aspekten der Verwirklichung zusammenhängt.
In den Bereich der Vier einzutreten, wagen wir ja überhaupt nur, weil wir glauben, nach Jahrzehnten des Bemühens tief genug in der Drei verankert zu sein, um nun so ins Unbekannte vorzudringen, dass wir dabei nicht mehr vergessen, was wir wissen: zwar noch nicht, wohin die Reise geht, jedoch wozu, und auch woher, das heisst in welcher Tradition verankert …
Im Prolog einer Überlieferung des Titels Le Grand Saint Graal grüßt uns der anonyme Verfasser aus dem achten Jahrhundert folgendermaßen:

Derjenige, der auf Geheiss des Meisters vom Gral niederschrieb eine durch ihre Hoheit und Herrlichkeit so erhabene Geschichte, wie es die Historie des Gral ist, entbietet zuerst seinen Gruß all denen – es seien Männer oder Frauen –, die da glauben an die heilige glorreiche Dreifaltigkeit, nämlich an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist: an den Vater, durch den alle Dinge errichtet und erschaffen werden und den Beginn ihres Lebens erhalten; an den Sohn, durch den ein jeder, der an ihn glaubt, es sei Mann oder Frau, befreit wird von den ewigen Schmerzen und zu jener erhabenen Freude gelangt, die da währt ohne Ende; und an den Heiligen Geist, durch den alle guten Dinge geläutert und geheiligt werden.

Und hier beginnt von den vier Büchern unter Was ist Geist das dritte:

Transit

S.12

Kick inside

Vom Flur des International Maritime Bureau nehme ich die Treppe nach unten. Im Büro von Tyrus Paulson hatte ich das Gefühl gehabt, es sei bereits Nacht. Hier im Treppenhaus habe ich jetzt dagegen den Eindruck, es ist noch Nachmittag, oder erst ganz früh am Abend.
Paulson … Ich habe mir angewöhnt, auf die Namen zu achten. Der von Paul abstammt. Der Gedanke an den Apostel Paulus käme mir abwegig vor, wäre da nicht noch dieser Vorname: Tyrus. Eine Hafenstadt dieses Namens hatte doch dazumal im Leben des Saulus-Paulus eine Rolle gespielt … Was auch immer das bedeutet, sage ich mir, diesen Paulson bloß nicht unterschätzen!
In der nächst unteren Etage nehme ich nun einen Geruch wahr, der mich innehalten lässt; der mir ein Deja-vu verursacht. Jener gewisse unverwechselbare Tabakduft … Bin mir jetzt sicher, dass ich schon mal hier war; und weiss auch genau, dass es das ist, was seit damals, bis heute, unerledigt geblieben ist: die Sache mit dem Projektor; Projekt Schwarmmaschine.
Auf einer Glastür, dem Eingang zu einem leeren dämmrigen Flur, lese ich: International Seabed Authority. Ich öffne diese Tür, und in der Tat, jetzt riecht es noch eindeutiger. Nach Mapacho. Schamanenkraut. Dieser Geruch, den manche sicher einen Gestank nennen würden. Und der mich nun ins genau richtige Büro leitet.
Ich trete da wie auf Verabredung ein. Doch kenne ich den Alten, der dort sitzt? Ganz in Schwarz gekleidet; schwarz auch der Borsalino-Hut vor ihm auf dem leeren Schreibtisch. Schneeweiss aber die imposante Mähne und sein zerzauster Backenbart.
Ich tippe mir an den Schirm meiner Mütze, ziehe einen Stuhl heran und setze mich ihm gegenüber. „Schell mein Name. Und Sie sind?“ Ich Blödel – weiss es doch: Forty Operas. Chef des Service of Intelligence. Der Kick in mir – das heisst mein Notfallprogramm Kimura – kennt ihn nur allzu gut.
„Tja, Schell, Sie waren zwar damals nicht direkt dabei, aber genauso saßen wir hier schon einmal.“
„Sie und Kimura. Habe die Szene gelesen.“ Ich blicke rundum. Die Wände sind kahl wie dieser ganze Raum: Ausser dem Schreibtisch und den zwei Stühlen noch ein Aktenschrank, der offensteht und nichts als Staub enthält. So ein Büro-Gerippe, denke ich; wie plakativ das nach Abstellgleis aussieht … „Seabed Authority?“
„Die Abteilung, mit der die UNO seit 1996 die Ausbeutung der Meeresböden gesetzlich zu regeln versucht. In der Zentrale in Kingston, Jamaica, befand man vor ein paar Monaten, dass diese Istanbuler Aussenstelle nicht länger gebraucht wird; dass sich die hiesigen Seabed-Angelegenheiten profitabler über das Maritime Bureau abwickeln lassen.“
„Durch Tyrus Paulson.“
„Sie haben ihn schon getroffen? Dann wissen Sie ja Bescheid.“
„Gar nichts weiss ich. Nur dass zur Zeit doch gerade hier an diesen Küsten besonders um den Meeresgrund gestritten wird. Und da macht die Seabed Authority ihre hiesige Aussenstelle dicht?“
„Genau. Denn sie ist als Instrument langfristiger Friedenspolitik gedacht, und in eine solche wird momentan nicht investiert. Bedauerlich, ja, hat aber auch sein Gutes. Das spärliche Budget der Authority zwingt nämlich jeden ihrer Mitarbeiter zu einer persönlichen Entscheidung: ob es ums Budget geht oder um die Sache.“
„Trennt die Spreu vom Weizen, verstehe. Und Sie, Operas? Auf Null-Diät? Halten hier die Fahne hoch? Doch wohl nicht wirklich die der UNO …“
„Vertrete nebenher The Framing Company. Womit wir beim Thema sind, nämlich: Wir zwei, wo sind wir miteinander stehengeblieben?“
„Falls Sie Kimura meinen: Beim besten Willen, Mr. Operas, das ist so lange her …“
„Ich meine Sie, Schell. Sie fragten mich: wenn Sie nicht Schell sind, wer denn sonst? Doch das Auftauchen von Sgyulus und Sprosbral zwang uns, von dieser interessanten Frage abzulassen. Und ich finde nicht, dass das lange her ist.“
„Das war vorhin … Vor ein paar Stunden …“
Er nickt.
Ach, so ist das. „Ich glaubte … Für mich war Ladenheuser immer Ladenheuser … Sie waren das? Ladenheuser: Sie? Schon immer? Und ich dachte die ganze Zeit …“
„Halluzination und Voreingenommenheit, das sind zur Zeit Ihre einzigen Verbündeten.“
„Und, äh, also: wenn nicht Schell, wer bin ich dann?“ Ich starre ihn an. Aber er schweigt. Ihm ist klar, dass ich es schon weiss; nur es noch nicht verstehe.
„Nun reicht’s wie Sie glotzen“, sagt er schliesslich. „Die Sache ist doch simpel: Für Kimura war ich immer schon der alte Forty, und für Sie, Schell, war ich bisher Ladenheuser und bin Forty Operas ab jetzt.“
„Und, äh, ich für Sie?“
„Simpel, wie gesagt: Sowohl Schell, als auch Kimura. Mag ja sein, dass sich das für Sie noch komisch anfühlt, dieser Kick inside, doch so ist nun mal ein Body Job. Zumindest wenn er notfallmäßig eingeleitet wird. Keine Sorge, übermorgen, spätestens, sind Sie daran gewöhnt. Und was Kick Kimura angeht, der hat diese Wirklichkeit schon früh durchschaut. Schon damals in San Francisco. Als er entdeckte, dass er eine Romanfigur ist. Wenn auch die Kategorie Roman inzwischen etwas aus der Mode ist, metaphorisch lässt sie sich noch gut gebrauchen.“
„Fragt sich, für was. Die Real-Technik lässt sich mit Romanliteratur nur noch im Hinblick aufs Wesentliche vergleichen. Das Unwesentliche hat sich allerdings enorm verändert.“
„Das technische Brimborium. Kann man wohl sagen. Man kann sogar sagen, das Unwesentliche ist zum Wesentlichen geworden. In einem Roman hätten Sie jedenfalls mit einem bloßen Anruf in Hongkong kaum so einen Wirbel auslösen können.“
„Einen Wirbel?“
„Wirbel wörtlich: Was bisher verdeckt war, ist aufgewirbelt worden und liegt nun aufgedeckt da. Dafür ist jetzt das, was bisher offen lag, verdeckt. Von Ice umgeben; undurchdringlich.“
„Weiss nicht, ob ich das verstehe. Ich war quasi nicht ich, als ich in Hongkong anrief – nicht Kimura, meine ich. Ich hätte mich sonst doch wohl nicht selber angerufen.“
„Das wird in Zukunft nicht mehr funktionieren.“
„Mich selber anzurufen? Mir selbst zur Hilfe zu eilen?“
„Ja. Nein. Das heisst Sie haben es noch nicht kapiert. Und du auch noch nicht, Kimura.“
„Und Sie, Forty?“
„Vielleicht hat es noch keiner von uns kapiert. Jedenfalls hat das Hongkong-Telefon seinen Zweck erfüllt. Und der Exoot auch, wie’s aussieht. Sie tragen ihn nicht mehr.“
„Und doch beherrsche ich noch Real Speak. Darüber habe ich mich schon gewundert. Dachte immer, es sei dieser Anzug, der zum Real Speak befähigt.“
„Ja, Real Speak ist die wichtigste Funktion des Exoot. Und offenbar hat die sich auf Sie übertragen. Ein Wunder sozusagen. Ist mir selber aber auch so widerfahren. In Wirklichkeit gar kein Wunder, man kann es erklären.“
„Und zwar?“
„Ich erkläre Ihnen nicht, was Sie schon wissen.“
Dass Real Speak die Ursprache ist.
„Ist mir einfach zu irre“, sage ich. „Aber sehr praktisch, dass es funktioniert.“
„Und so wie Sie deshalb den Exoot nicht mehr nötig haben, ist für uns alle auch der SI eigentlich nicht mehr nötig. So wie wir uns entwickelt haben, hat sich auch der SI entwickelt, und was davon jetzt noch als ein Geheimdienst übrig ist, hat mit unserem aktuellen SI nicht mehr viel zu tun. Das zum Beispiel hat dieser Wirbel aufgedeckt, den Sie mit Ihrem Hongkong-Anruf ausgelöst haben. Was jetzt noch als Service of Intelligence auftritt im Sinne einer Organisation, ist bestenfalls ein Romantiker-Verein, meint schlimmstenfalls aber sogar das Gegenteil – sowohl von Romantik das Gegenteil, als auch von Service. Als auch von Intelligence.“
„Also gibt es ihn noch, den SI? Oder nicht mehr?“
„Es gibt ihn nun offiziell. Ist nur nicht mehr unser Laden. Wenn Sie ihm trotzdem die Treue halten wollen, muss Ihnen klar sein, dass da jetzt Gentlemen wie Paulson das Sagen haben.“
Ich zwirbele mir nachdenklich die Kinnspitze. „Offiziell sagen Sie? Im Filmgeschäft? Oder im Waffenhandel? Man weiss nicht so recht …“
„Mal Filme, mal Waffen. Was auch immer; auf jeden Fall: Geschäft.“
„Verstehe. Im Mainstream angekommen. Und Sie, Operas? Und die ganze alte Garde?“
„Sie kennen doch die Oberste Direktive für alle, die im SI arbeiten.“
„Dass es den SI gar nicht gibt.“
„Nun büßen wir dafür, dass es ihn dann doch irgendwann gab. Weil wohl zuviele von uns von dieser Direktive überfordert waren. Sinnlos, das jetzt zu beklagen; sinnvoll jedoch, uns das klar zu machen. Denn die weitere Existenz des SI hängt davon ab.“
„Nur um sicher zu gehen, dass ich Sie richtig verstehe: Der SI existiert nur weiter, wenn es ihn nicht gibt.“
„Haargenau. Vom SI kann nur die Rede sein, wenn es nicht der wahre ist; beziehungsweise kann vom wahren SI keine Rede mehr sein.“
„Klar, wäre es anders, würden Sie nicht davon reden. Haben Sie mich deshalb hierher dirigiert?“
„Ich wusste lediglich, dass von Istanbul aus jemand über die Hongkong-Nummer das Notfallprogramm aktiviert hat. Sie haben sich selbst hierher dirigiert, genauer gesagt Kimura.“
Sein Blick, der mich bis jetzt fixiert hat, verändert sich: durchdringt mich; geht wie durch mich hindurch, in eine Ferne hinter mir, und nimmt mich mit, sodass ich mehr und mehr, wie losgelöst von mir, das sehen kann, was er sieht. Jetzt überblicke ich sogar Gebiete, die von Ice umgeben sind – und da! – auch dieses ganz spezielle Areal – meine Gedächtnislücke. Erkenne nun, was sich in ihr verbirgt: dass es nur mich betrifft – eine winzige Einzelheit, die aus dieser beträchtlichen Distanz gesehen keine Rolle mehr spielt; die nur noch eine Bedeutung hat als der Punkt, der mich mit dem Ganzen verbindet, und der jetzt, da ich nicht da bin, nur eine leere Stelle ist, zwar angefüllt mit allerhand Persönlichem, sogar randvoll davon, jedoch ohne mein Ich, und damit ohne Relevanz.
Dieses Überschauen des Gesamtgefüges wie von ausserhalb kann nur vorübergehend sein, das ist Bedingung, solange ich in diesem Körper stecke. Und schon bin ich mit diesem Gedanken wieder in meine Person eingetaucht und das Persönliche hat wieder volle Relevanz. Und mein Bewusstsein, auf Normalformat zurückgeschrumpft, hat nun diffus die Komplikationen einer doppelten Identität vor sich: ich bin sowohl Schell, als auch Kimura, und somit weder richtig der eine, noch richtig der andere.
Ich denke zurück an das, was ich vorhin unten in der Lobby in dem alten SubNews-Heft gelesen habe, an die entscheidende Stelle in dieser Projektor-Geschichte: Sodass alle durch das Gerät dasselbe sahen: sich selbst; nicht so jedoch, wie sie sich „Selbst“ bisher gedacht hatten – das war plötzlich gar nicht mehr vorhanden.
„Plötzlich weiss ich Dinge, die ich bisher, nun ja, so gar nicht für möglich hielt –“ ich stocke. „Dinge, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie wissen könnte. Jene sogenannte Schwarmmaschine – Sie erinnern sich? Sie sprachen mit Kimura darüber, hier in diesem Büro. Und dieses Ding – man stellt sich darunter eine Art Projektor vor – ist so etwas wie ein Selbsterkenntnis-Apparat? Ist man also, äh – bin ich also –?“
„Ja, ganz recht, dieses Ding sind Sie selbst.“
„Heisst das –? Ich bring das alles noch nicht ganz zusammen.“
„Dass Kimura ihn endlich erledigt hat, diesen alten Auftrag, nichts anderes heisst das. Indem er jetzt Sie ist, Schell; oder auch so: Indem du jetzt Schell bist, Kimura. Warum kapiert ihr das nicht einfach?“
„Weil das einfach – unglaublich ist.“ Als Kick Kimura, der ich mich schon seit langem als Romanfigur verstehe, kenne ich diese Romanwelt von innen. Es ist dieselbe Welt – die Welt der Reale –, auf die ich als Schell, der Autor, wie von aussen zu schauen gewohnt bin. Wie soll ich mit diesen konträren Perspektiven gleichzeitig umgehen? Muss ich nicht abwechselnd die eine zugunsten der anderen aufgeben? Wo wäre denn ich dabei wirklich? Nein, so wie kein Ich ein echtes Ich ist, wenn es sich teilen lässt – Moment mal! Echtes Ich? Ist es das überhaupt, echt, was die ganze Zeit hier so geläufig „ich“ sagt?
„Ich soll dasselbe – gleichzeitig – wissen und nicht wissen – da macht bei mir die Logik einfach noch nicht mit.“
„Sie praktizieren es doch schon. Sind sich dessen nur noch nicht bewusst. Wer sagt denn, Sie müssen irgendwie zwischen zwei konträren Perspektiven hin und her hüpfen? Sie sind doch jetzt in aller Ruhe Schell, oder nicht?“
„Ja, doch, kann sein.“
„Und genauso, wenn es an der Zeit ist, sind Sie ganz in Ruhe einfach Kick Kimura.“
„Und werde nicht irgendwann schizophren davon?“
„Im Gegenteil. Jetzt lässt die Schizophrenie überhaupt erst nach. Aus der Schell- und der Kimura-Perspektive wird ein Gemeinsames entstehen, und daraus dürfte, wenn es glatt läuft, eine eigenständige dritte Ich-Perspektive werden.“
„Und wenn es nicht glatt läuft?“
„Das malen wir uns gar nicht erst aus.“
Wir betrachten eine Weile schweigend, wie das orangene Abendlicht in diesem Raum an Intensität gewinnt …
„Das alles hat sich lange angebahnt“, sagt Forty Operas.
Ich nicke. „Und musste also irgendwann so kommen. Und zwar jetzt, weil hier ein Kreis sich schliesst, wie man so schön sagt.“
„Wie einer dieser Tricks, die von den Zauberern im alten Ägypten ins Werk gesetzt wurden und erst heute ihre Wirkung entfalten.“ Er lehnt sich zurück, zupft an einem Silberkettchen seine Uhr aus der Westentasche, wirft einen Blick darauf und steckt sie zurück.
„Die Sache, die so einfach ist, wie Sie jetzt ja wohl begriffen haben – dass Sie sowohl Schell, als auch Kimura sind –, hat natürlich auch eine überaus komplizierte Seite.“
Um ein Aufstöhnen zu unterdrücken, sage ich: „Dacht ich’s mir doch.“
„Wie ich damals sagte – laut jener SubNews-Geschichte – lesen Sie die nochmal –, hat man mit der Schwarmmaschine informatisches Neuland vor sich. Natural Computing. Dabei ist die Sache, wie ich sagte, ur-uralt.“
„Uraltes Neuland. Verstehe. Das Alte wurde neu codiert.“
„Genau. Eine Aktualisierung. Des altägyptischen Zaubertricks, könnte man metaphorisch sagen. A2X27 – das haben Sie sicher schon mal gehört.“
Ich nicke. „Ein Code, der irgendwas mit einem Reality-Spiel namens Flysh zu tun hat. Und das war’s auch schon, was ich darüber weiss.“
„Weil A2X27 ganz einfach Flysh heisst. Nur das zu wissen bringt nichts, solange man nicht weiss, was Flysh bedeutet.“
„Und Sie – verraten mir das jetzt?“
„Man kann es nicht verraten. Das aber kann ich Ihnen sagen: Sie sind nur hier, weil Sie es – zumindest ungefähr – schon wissen. Oder anders gesagt: Was Sie wissen, Schell, muss sich irgendwie mit dem ergänzen, was Kimura weiss. Wie, weiss ich nicht; ist eure Sache. Solange jedenfalls nicht klar ist, wie Flysh ganz konkret im Einzelnen durch A2X27 codiert ist, lässt sich nichts anfangen mit diesem Code. Solange bleibt es – na ja –“
„Schizophren? Pathologisch?“
„Sagen wir so: In dem, was glatt laufen sollte, aber auch leicht schiefgehen könnte, gibt’s jedenfalls kein Zurück mehr.“

I.11

Suche Passage

Ich sitze also mit Rivera vor dem Cafe am Platz des Entdeckers und trinke schon wieder Rum. Rivera möchte wissen, was ich über Monalisa weiss. „Die hat sich heute Morgen an mich drangehängt; gefordert, dass ich ihr die Stadt zeige. Dabei war nicht herauszukriegen, was sie eigentlich will.“
„Ich weiss nur, was Lemm sagt: dass sie dringend Netz braucht; weil sie erweitert ist; und dass sie deshalb hier nach anderen Erweiterten sucht. Wahrscheinlich wird sie Kontakt zu den Funk-Freaks aufnehmen.“
„Und also bald auch auf die Jenkins stoßen …“
„Dann häng sie doch gleich denen an.“
„Werde ich. Falls sie nochmal bei mir aufkreuzt.“
„Im Grunde kann ich sie verstehen. Sie hält die digitale Technik für etwas so natürliches, dass sie das Prinzipielle daran noch nie hinterfragt hat, und also ihre Abhängigkeit davon ihr bisher gar nicht bewusst war. Und hier in Babaal muss sie nun feststellen, dass dieses anscheinend Natürliche nicht in gewohnter Weise funktioniert. Sich als abhängig zu erleben, ist hart für jemanden, der sich für autonom hält; und da es allerdings absurd ist, wütend auf eine physikalische Anomalie zu sein, richtet sie ihre Wut vernünftigerweise auf mich; weil vor allem ich, wie sie vermutet, Schuld daran habe, dass sich der Kern des Flyshwerks nach hierher ins digitale Abseits verlagert hat.“
„Das hast du auch von diesem – wie heisst er doch, der jungen Mann?“
„Lemm.“ Da fällt mir auf, dass ich noch nicht einmal seinen Vornamen kenne. „Interessanter Vogel. Sehr intelligent. Allerdings noch ein bisschen leblos. Eine Nachwirkung vielleicht. Er war nämlich auch mal erweitert, so wie diese Monalisa.“
„War mal erweitert? Bist du sicher, dass er’s nicht mehr ist? Soweit ich weiss, lässt sich der eingeschleuste Nano-Kram nicht so leicht wieder ausschleusen.“
„Hm, hab ich auch gehört. Muss ihn mal fragen.“ Und auch deshalb, denke ich, muss ich mit Lemm zu Dima. Die soll ihn scannen. Ich tippe auf die vor mir liegende Zeitung, auf jenen Artikel, der das neue Funknetz betrifft. „Davon schon gehört? Ein zukunftsweisender Vertragsabschluss.“
„Darüber schreiben die seit Monaten. Nichts davon mitbekommen?“
„Ehrlich gesagt, ähm, nichts.“
Da lacht Rivera. „Und sowas sitzt im Regierungspalast!“ Dann schlagartig ernst: „Oder sitzt da eben auch nicht. Oder nur selten; viel zu selten.“
„Tja. Ich würde gerne manchmal Zeitung lesen. Nur ist der Binocle ja leider immer ausverkauft. Muss mich allmählich fragen, ob’s den überhaupt noch gibt. Sodass jedenfalls alle immer Bescheid wissen, nur ich nicht.“
„Das klingt, als fändest du das cool. Doch Vorsicht, Schell, da muss ich sagen: Du bist so oft Mann auf der Flucht in letzter Zeit, dass man schon direkt Suchtverhalten darin sehen könnte.“
„Wie sieht’s bei dir in dieser Hinsicht aus, Rivera? Oder nein, sag mir lieber etwas anderes: Wie hast du Wind davon bekommen, dass Brains in der Stadt ist?“ Dass er mir das verrät, glaube ich zwar nicht, doch ist jede Antwort hierauf aufschlussreich.
„Traf kürzlich Paley“, sagt er nur.
„Schon klar. Woher sonst sollte Paley das wissen? Oder willst du mir weismachen, er hätte dich informiert?“
„Ob er mich oder ich ihn informiere, ist doch völlig egal. In der Counter-Intelligence denkt man nicht so kleinkariert.“ Und nun hält er mir einen seiner brillanten Vorträge, bei denen man am Schluss vollkommen überzeugt ist, nur nicht so recht weiss, wovon; in diesem Falle vom Wesen der Information im Allerallgemeinsten.
Ich denke währenddessen an Flyrie; versuche ihn mir in Bangot vorzustellen. In was für ein Labyrinth mag er dort hineingeraten sein? Womöglich in gar keins, sage ich mir zur Beruhigung, oder in eins, das ihm gefällt, aus dem er gar nicht heraus will; sowas könnte es ja auch geben. Oder er hat sich selbst befreit und ist schon nicht mehr in Bangot …
Sucht man etwas, das geheim ist – in diesem Falle den Ort, wo ich den Zugang zu Bangot vermute, das Telesterion, oder den Weg aus Andria hinaus, die Passage –, hat man es immer mit dem selben Problem zu tun: Wie sich schlau machen, ohne dass dadurch auch die schlau werden, die einem auf der Spur sind?
„Hörst du mir eigentlich zu, Schell?“
„Na klar, na klar – das alles führt uns zu der Frage: Wie das Geheime enträtseln, ohne es zu verraten?“
„Äh, indirekt ja, könnte das die Frage sein. Denn wie ausgereift der Kontrollapparat ist, weiss man ja nie.“
„Wobei gerade in Babaal man doch oft überrascht ist, mit was man durchkommt und mit was nicht.“
„Wir haben beide ausgetrunken“, stellt Rivera fest, „ich schlage vor, wir gehen Pavel besuchen.“

Die Andrianer gehen gern ins Kino, und natürlich ist die Hauptstadt mit Lichtspielhäusern besonders reich bestückt. Auch pflegt hier ein sogenannter Filmclub die Kinokultur, indem der Direktor, Pavel, dafür sorgt, das kaum ein Abend vergeht, an dem in seinem Cinema Eclectique nicht das Werk irgendeines alten Meisters zu sehen ist. Obwohl Pavel’s Auffassung von Meisterwerken sehr weitreichend und in der Tat eklektisch ist, so haben doch auf jeden Fall die Freunde der Filmkunst über die Jahre in seinem gemütlichen alten Kinosaal, indem sie mit den unterschiedlichsten Meistern bekannt wurden, mit Lubitsch etwa oder Kurosawa, oder Exoten wie Brodi Snackwart, wundersame Einblicke in die Welt der bewegten Bilder bekommen.
Über Pavel, den Exil-Tschechen, der als Priester des Kinokults natürlich beste Beziehungen zu Filmarchiven in aller Welt unterhält, wäre einiges zu sagen, hier aber nur soviel, dass er insgeheim, wie so mancher, der im Kulturleben von Babaal eine Rolle spielt, dem hiesigen Royalismus anhängt, und dass er einer der Köpfe ist, die hinter The Binocle stecken, jenem beliebten Revolverblatt, das die gutbürgerlichen Leser des Bright Day gern verboten sähen. Er ist mit Rivera befreundet, und beide wiederum sind gute Freunde von Jasper Walden, dem Gründer des Binocle, einem umtriebigen Mann, von dem noch oft die Rede sein wird.

Auf dem Weg zum Filmclub: „Hey, hörst du das?“ Wir bleiben stehen, hören: „Das ist doch dieses Flötenstück von Bach!“ „Die Suite in H-Moll.“ „In der Orchesterversion sogar!“ „Wo kommt das her?“ Wir biegen schnellen Schrittes um die nächste Ecke und da steht – wir schauen uns zunächst betroffen, dann enthusiastisch an – „Ein Leierkastenmann!“
Wie die Blinden, die hier überall Lotterielose verkaufen, gehören auch die alten Drehorgelspieler noch zum typischen Straßenbild, und ohne ihre alten Melodien wäre die babaalianische Geräuschkulisse einfach unvollständig. „Dass die ihr Repertoire auch mal in Richtung klassischer Musik erweitern würden …“ „Lässt das nicht hoffen?“ „Uns ja, die wir nun mal so anfällig für Nostalgie sind.“ Wir kramen nach Münzgeld; halten aber inne und schauen uns tadelnd an; und legen dem Alten dann Scheine in das Körbchen auf dem Leierkasten.

So, zu dritt, haben wir schon des öfteren in Pavel’s Büro gesessen und Rum getrunken, und so wie heute läuft es meistens: Irgendwann drückt Pavel mir etwas zu lesen in die Hand – kurze Textentwürfe fürs Programmheft, über die Filme, die er demnächst zu zeigen gedenkt – und zieht sich mit Rivera, mit dem er irgendetwas zu besprechen hat, in den Hintergrund zurück.
Obwohl es, wie ich sehe, um gewisse Terry Gilliam-Filme geht, Brazil, Twelve Monkeys – laut Pavel aus aktuellem Anlass –, wird meine Aufmerksamkeit plötzlich von etwas ganz anderem beansprucht. An der Wand gegenüber, zwischen lauter Schauspieler-Portraits, fällt mir ein Bild auf, das ich hier zuvor noch nie gesehen habe, das vom Häuptling nämlich, vom alten Sitting Bull – die Daguerreotypie! Jawohl, die gleiche, die auch im Studierzimmer hing – nein, dieselbe: Denn kaum habe ich sie genauer fixiert, schon sehe ich den bunten Wandteppich dahinter – und gelange durch dieses indianische Stoffgewebe ins Refugium Gran Puertito, in das Apartment mit der großen Dachterrasse überm Meer. Und weil ich auch diesen abrupten Transit nicht erwartet habe, bin ich erstmal geschockt; verharre regungslos. – Wie still es hier ist! Und nun höre ich eine Stimme, und dann eine zweite; weit weg zwar, aber ganz deutlich: „Ist alles schon angekommen.“ Die Stimme von Rivera. Und darauf die von Pavel: „An keinem sicheren Ort, will ich hoffen.“ „Nein. In Istanbul. Wo jetzt richtig schön ein Wirbel darum gemacht wird. Sämtliche Dienste im Alarmzustand.“ Und da versteh ich schon: hier in Puertito bin ich hellhörig
Jeder von den Orten, die mir zu Refugien wurden, hatte eine mir unbewusste dunkle Seite, und an der, jeweils unbemerkt, hat sich eine bestimmte Fähigkeit entwickelt; im Falle des Puertito-Refugiums zum Beispiel der Umgang mit Paranoia …
Wie nett ich damals, als ich nach Gran Puertito zog, den Mann fand, dem so gut wie alles in dem hübschen kleinen Ort gehörte. Kaum hatte ich mich dort eingelebt, war ich quasi schon mit ihm befreundet; und konnte es zuerst nicht glauben, dass dieser Patron, wie sich bald herausstellte, der Boss der lokalen Drogenmafia war. Ich lernte die Zeichen zu lesen und entdeckte nun Machenschaften überall; musste feststellen, dass diese verträumte Idylle dort ein durch und durch kriminelles Milieu verbarg; und in der Folge wurde mir eigentlich alles suspekt. Als ich dann bemerkte, wie ich so immer tiefer ins Paranoide geriet, unternahm ich gezielt Anstrengungen, das in den Griff zu bekommen. So wurde ich zu einem gewissen Grade hellhörig: lernte, das allgegenwärtige Element der Verschwörung zwar auch in feinster Verdünnung zu erfassen, jedoch es nicht als bedrohlich auf mich persönlich zu beziehen.
„Und das Original-Zeug? Davon noch was im Umlauf?“, höre ich Pavel fragen. „Höchstens noch ein bisschen MoGum“, sagt Rivera, „und vielleicht noch ein paar von den Kapseln. Nichts, was noch irgendwie relevant werden könnte, wie Jasper meint. Da sich ja mit dem Original-Zeug sowieso niemand mehr auskennt.“ „Auch Schell nicht?“ „Den interessiert das nicht mehr. Für den ist MoTech nur noch Kinderkram, bestenfalls Folklore. Der will nur noch raus. Und da er jetzt anscheinend einen Nachfolger hat, wird er nicht zögern abzuhauen, sobald sich ihm eine Lücke zur Passage auftut.“ „Sicher?“ „Sicher.“ „Warum gibt dann Geo Rey nicht das Signal? Worauf warten wir noch?“ „Irgendwas in Frankfurt, wie ich hörte. Ein Rest von Risiko, das noch geklärt werden muss. Jasper kümmert sich darum.“
Diese Unterhaltung interessiert mich tatsächlich nicht besonders. Ich zoome mich mühelos in Pavel’s Büro zurück.
Benötige ich eigentlich noch die Objekte, die vormals im Studierzimmer versammelt waren? Ich konzentriere mich auf die Vorstellung des Säbels, und siehe da: ich sehe sofort die Vogelfeder und bin wieder in jenem hohen Zimmer im Hotel Olympia. Und bin auch von dort genauso schnell wieder zurück in Pavel’s Büro. Ich schliesse die Augen und probiere dasselbe mit der Daguerreotypie; und es funktioniert ebenso einfach. So wie ich also den alten Säbel als konkretes Objekt nicht mehr brauche, um in das Refugium Hotel Olympia zu gelangen, brauche ich nun, um ins Refugium Gran Puertito zu kommen, auch dieses Objekt nicht mehr. Und dann probiere ich das auch gleich mit den anderen Objekten, mit der Maske, dem Wappen der Royalisten und dem Renaissance-Gemälde …
Doch als ich mir diese Objekte vorstelle, sehe ich sie nur so, wie ich sie aus dem Studierzimmer kenne; das heisst was ich eigentlich sehe, ist das Studierzimmer, hingegen was darin ist, bleibt abstrakt, leblos, deutlich als konstruierte Vorstellung erkennbar. Muss ich also diese Objekte – Maske, Wappen und Gemälde –, damit sie so wie der Säbel und das Sitting Bull-Portrait auch per Erinnerung funktionieren, erst irgendwo ausserhalb des Studierzimmers konkret entdecken? – So sieht’s aus. – Aber wie? Aber wo? – Wohl nur so, wie du vorhin den Säbel und nun den Häuptling entdeckt hast. Vertraue dem Zufall.
Erwähnte Rivera nicht eben die Passage? … Anders als die Refugien, die sich anhand der Objekte öffnen lassen, kann sich die Passage, nach allem, was ich bis jetzt darüber weiss, jeden Moment öffnen, irgendwie, wahrscheinlich gerade wenn man’s nicht erwartet. Falls mir auf diese Weise – plötzlich, unkontrolliert – das Abhauen von Andria gelingt, werde ich anschliessend kaum wissen, wie es mir gelungen ist. Hier haben wir wieder unser Dilemma: Wie so ein Rätsel lösen, ohne es zu verraten? Dafür ist ein Zaubertrick vonnöten, und der einzige in der Gegend, dem ich zutraue, solche Zaubertricks zu beherrschen, ist Brains.
Ich stelle das leere Glas ab und bemerke, wie große Müdigkeit mich überkommt. – Sehr bequem, dieser Sessel, warum mir nicht ein Schläfchen gönnen?

Als ich aufwache, immernoch allein in Pavel’s Büro, ist schon Abend, und siedend heiß fällt mir das Konzert ein …
Als ich als letzter in den Saal schlüpfe, haben die drei Musiker ihre Plätze auf der Bühne bereits eingenommen, und während man gerade dem Chef des Musikvereins für seine einführenden Worte Applaus spendet, wähle ich rasch einen der freien Plätze in der hintersten Reihe und halte kurz nach bekannten Gesichtern Ausschau. Das, was ich sehe, ist zwar nicht, wie erhofft, das von Detective Brains, doch auch dieses, nämlich Murphy’s Gesicht, habe ich wahrlich schon lange nicht mehr gesehen.
Auch er hat mich gleich erkannt. Ich nicke ihm zu, so als fänd ich’s völlig normal, dass er plötzlich hier in Babaal zu einem Schubert-Abend aufschlägt. Murphy der Fälscher. Der Amerikaner. Der eigentlich Russe ist. Vollprofi. Service of Intelligence. Aber bevor es nun losrattert in meinem Schädel, schliesse ich kurz die Augen und denke: Ich bin vor allem gekommen, um mir diese immer wieder interessante Es-Dur-Sonate anzuhören.
Man muss ja sagen, dass ein Publikum von Andrianern sich in der Regel auffallend undiszipliniert gebärdet. Um so erstaunlicher, wie schnell es sich nun hier beruhigt und sich schon beim zweiten Satz, dem Andante con moto, faszinieren, ja geradezu in Konzentration versetzen lässt. Und entsprechend frenetisch fällt der Beifall aus, mit dem sich am Schluss die Begeisterung Bahn bricht.
Der Rest des Konzertprogramms interessiert mich nicht so sehr. Ich blicke zu Murphy hinüber. Wir nicken uns zu. Ich stehe auf und verlasse den Saal; postiere mich im Foyer; wo nur einige schweigsame Bodyguards herumlungern; und dann kommt auch gleich Murphy heraus. Klar, wir suchen die nächste Bar auf.
„Brains in der Gegend?“, frage ich. Murphy tut erstaunt: „Wieso Brains?“
„Dachte nur. Dass der sich das Konzert, wenn er schon mal hier ist, nicht entgehen liesse. Weil doch der Geiger des Trios anscheinend eine echte Guarneri spielt. Und Brains doch das Geigenspiel und die Geige als solche so liebt.“
„Schubert“, sagt Murphy, „die ganze Romantik überhaupt, ist nicht so sein Fall, glaube ich.“
„Dann geht’s hier also nur um diese Guarneri …“
„Frag doch gleich, wie’s läuft.“
„Wie läuft’s?“
„Nicht gut. Der alte Forty hat stark abgebaut.“
„So stark, dass ihr jetzt sogar so ‘ne alte Fiedel klauen müsst?“
„Tja, sogar den Old Hickory haben die geschafft zu kapern.“
„Die?“
„Paulson und seine Leute. Der neue Service.“
„Und wo kommt Brains dabei ins Spiel?“
„Wo Unbestechlichkeit gefragt ist. Wir müssen wissen, auf wen noch wirklich Verlass ist.“
Damit meint er mich, ist klar; und nach einer Sekunde Pause fügt er hinzu: „Im übrigen haben wir Brains mal aus der Patsche geholfen. Und nun kann vielleicht er uns aus der Patsche helfen.“
Dass Forty Operas, der Chef des Service of Intelligence, offenbar senil geworden sei; dass man abgeschnitten sei von der zuverlässigsten aller Finanzquellen, dem Old Hickory Trust; dass es einen reformierten SI gäbe, angeführt von Tyrus Paulson; und dass man sogar angewiesen sei auf die Hilfe von jemandem wie Detective Brains, einem Mann von Interpol – wie das alles so freimütig ausgeplaudert nach Klartext klang, signalisiert mir, dass es auch genauso klingen sollte. Ich kenne den SI gut genug, um mir sicher zu sein, dass mir Murphy da nicht irgendwelche Lügen aufgetischt hat. Aber über was will er mich informieren? Was hat er mir da so schön in Klartext verpackt? Wenn mich das alles nichts anginge, würde er ganz bestimmt nicht diese Unterhaltung mit mir führen.
„Ich versteh nur Bahnhof, Murphy.“
„Klar, Desinformation ist dein Geschäft“, er grinst, „arbeitest hier ja für die Regierung.“ Und nun typisch Murphy: In einer einzigen flüssigen und in keinem Detail überflüssigen Bewegung gleitet er vom Barhocker, lässt Geld auf den Tresen fallen, tippt sich an die Hutkrempe, dreht sich und ist weg. Schade, hätte ihn gern noch gefragt, ob ich da eben im Konzert eine echte oder eine falsche Guarneri gehört hatte.
Ich will nun nachhause, nicht schon wieder saufen; mich der Körperpflege widmen und ins Bett. Als ich aber auf dem Heimweg in einer Bar noch einen letzten Drink nehmen will, wen treffe ich da, rein zufällig, schon wieder? Rivera.

So wie es bei Tage ein Vergnügen ist, mit Rivera eine Runde durch Babaal zu drehen, so macht’s auch immer wieder Spaß, die Nacht hindurch mit ihm von Bar zu Bar zu ziehen. Bemüht, dabei uns von der Rum-Wirkung nichts anmerken zu lassen, gilt andererseits für das, was wir an Leichtsinn da vom Stapel lassen, das entschuldigende Argument, dass wir ja wohl betrunken sind. So, als Gelaber am Tresen verpackt, lassen sich Dinge verhandeln, die sich nüchtern nicht gut besprechen lassen. Das Thema Passage zum Beispiel; das Suchen überhaupt …
„Wie es läuft“, sagt Rivera, „hängt davon ab, zu was für einem Bild ich mir die gesammelten Informationen zusammensetze.“
Zu dieser Binsenweisheit weiss ich nichts zu sagen. „Dir auch noch einen?“ Worauf er nickt und ich dem Barkeeper bedeute, uns bitte nachzuschenken.
Unseren Rum nippend, schweigen wir eine Weile in gegenseitiger Betrachtung: Gegenspieler, die wir sind …
Seit ich mich, so diskret wie irgend möglich, kundig mache über die Passage, gab es immer wieder Hinweise darauf, dass noch jemand, ebenso diskret wie ich, sich diesbezüglich informiert; und ich weiss, dass Rivera diesen Jemand meint, als er sagt: „Du suchst jemanden.“ Ich frage nicht, woher er das weiss. Nach soundsovielen Jahren in der Counter-Intelligence muss er so etwas wissen.
Rivera lächelt jetzt, und ich merke, er wartet.
Endlich macht es bei mir klick: „Du?“
„Wie lange du manchmal auf der Leitung stehen kannst …“
„Hm, ja. Nicht dass ich dir keine Ambitionen in dieser Richtung zugetraut hätte; aber dass du dir das je anmerken lassen würdest …“
„Über die Passage macht sich keiner schlau, ohne dass es irgendwann irgendwer mitkriegt.“
„Damit ist das Sich-schlau-machen schon direkt Teil der Passage.“
„Wenn nicht sogar der entscheidende Teil.“
„Doch nicht so sehr was“, sage ich, „sondern wie wir wissen, bestimmt den Verlauf.“
„Und wie wir wissen – das weisst du schon?“
„So, dass wir’s glauben. Aber der Glaube ist bei euch in der Counter-Intelligence wohl ein Problem, oder?“
„Gar kein Problem. Entweder Glaube. Oder Counter-Intelligence. A propos – Livermore. Glaubst du dem?“
„Auch der sieht die Welt natürlich durch seine spezielle Brille; macht passend, was ihm nicht ganz passt, und hat natürlich auch manches missverstanden. Doch dass er seinen Lesern Lügen auftischt? Nein; höchstens da, wo’s um die eigene Person geht. Dass er am Klavier je gut genug war, um sich, wie er behauptet, auf Fair Island als Bar-Pianist durchzuschlagen, glaube ich zum Beispiel nicht.“
„Glaubt niemand; jedenfalls kein echter Livermore-Fan. Und das muss ihm, als er das schrieb, bewusst gewesen sein. Also wollte er damit erreichen, dass man sich fragt: Warum verrät er nicht, wie er sich wirklich auf Fair Island durchgeschlagen hat?“
„Vielleicht weil man ans Nächstliegende denken soll: dass er auch dort mal wieder in einer Tauchschule gejobt hat.“
„Genau – und dabei wieder einmal in etwas Supergeheimnisvolles verwickelt war.“
„Andeutungen, die Sensationelles ahnen lassen, sind nun mal seine Masche, als Schriftsteller Geld zu verdienen. Doch bedenke, wie oft etwas nach Show aussieht, das im Grunde gar nicht Show ist.“
„Noch häufiger stellt sich als Show heraus, was zunächst tief ernst daherkommt. Auf diese Erkenntnis“, setzt er grinsend hinzu, „läuft quasi die ganze Counter-Intelligence hinaus.“
Da geht das Licht aus. Stromausfall.
„Endlich mal wieder“, sage ich; einerseits weil ich einfach die Stromausfälle schon vermisse, andererseits weil sich so das Thema gut beenden lässt. Wann immer nämlich die Rede auf Linval Livermore kommt, muss ich sehr vorsichtig sein. Denn wie gut ich ihn tatsächlich kenne, weiss niemand, auch Rivera nicht; und wenn ich erklären sollte, woher überhaupt ich Linval kenne, wüsste ich nicht, wie. Auch wenn diesbezüglich Hinweise schon vorkamen, dürfte das der Leserschaft nun reichlich kryptisch erscheinen, jedoch an dieser Stelle bleibt mir leider nur die Bitte um Geduld.

Was auch oft andermals geschah, wenn wir so von Bar zu Bar zogen, geschieht auch diese Nacht mehrmals, nämlich dass das Kino-Spiel unser Gespräch unterbricht. Wir schauen beispielsweise einem Streit zu, der auffallend gespielt wirkt, und die Prügelei, die sich daraus ergibt, erscheint uns dann so kunstvoll, so präzise durchgeführt, dass wir uns mit allen Zuschauern bald einig sind: hier wird ein Jackie Chan-Film nachempfunden, und zwar eindeutig Drunken Master.
Nach Mitternacht, beim zweiten Stromausfall, fällt mir wieder ein, dass ich es eigentlich sehr eilig habe, und also sag ich einfach zu Rivera: „Es gibt hier in Babaal ein Telesterion, das weisst du sicher.“
„So eine richtige Einweihungsstätte meinst du? Hier? In Babaal? Ist ja hochinteressant. Und bemerkenswert, dass man das neuerdings so unverblümt auch anspricht.“
„Weisst du, wo es ist? Würdest du es finden?“
Worauf er tief Luft holt. „Du hast keine Zeit mehr zu verlieren, wie? Dachte mir schon, dass du unter Druck stehst. Paley?“
„Von dem nur der übliche Druck, der, den er routinemäßig ausübt. Eine Farce.“
„Paley ist ein Schattenspieler, unterschätze ihn nicht.“
Ich nicke; dann sage ich aufs Geratewohl: „Du suchst doch auch das Telesterion.“
„Wie kommst du denn darauf? Das wusste ich ja nicht einmal.“
„So sage ich’s auch immer … Im Ernst, Rivera.“
„Nein. Leider nein, ich weiss nicht, wo es ist.“
„Und sonst? Was weisst du übers Telesterion?“
„Nur was alle wissen, die Nachforschungen darüber anstellen; was dir nämlich jeder andrianische Hellseher darüber sagen kann: dass es sich angeblich genau in der Mitte von Babaal befindet; dass es überhaupt der Mittelpunkt sei. Aber auch Mittelpunkt ist für diese Leute ein dehnbarer Begriff, die arbeiten hier ja alle mit der Unschärfe.“
Was ich nur bestätigen kann: „Damit solche Informationen nicht Typen wie uns dazu verleiten, Unheil anzurichten.“
Wir schweigen eine Weile.
„Und?“, frage ich dann. „Wie gedenkst du ihn zu finden? Ich meine den Mittelpunkt von Babaal.“
„Ihn ernsthaft zu suchen, dürfte einen alle Ressourcen kosten, denke ich. Aber ob sich das lohnt? Ich weiss nicht“, und mit einer allumfassenden Geste: „Schätze, man müsste dieses ganze wunderbare Andria aufzugeben bereit sein.“
Da hat er recht, das ist die Frage: Sollte man das? Will man das? Kann man das?
„Wenn ich das richtig interpretiere“, fährt er fort, „nimmst du an, dass wenn du das Telesterion findest, du damit automatisch auch Zugang zur Passage hast. Falls es so ist – weisst du eigentlich, was dich da erwartet? Die Passage sei riskant, sagt man.“
„Sagt man, ja. Aber ich weiss darüber nur Gerüchte.“
„Immerhin sind sich alle darin einig, dass die Passage über jene Insel des Archipels führt, die man die Doppelgesichtige nennt.“
„Ich weiss. Damit ist Lavienta gemeint. Alias Matoxa.“
„Dort ist, wie man hört, ein Bürgerkrieg im Gange. Und dann muss man da auch noch irgendwie die Besichtigung einer Fleischfabrik überleben …“
„Ja, und dann sich zum Reservat der Ureinwohner durchschlagen; und dort an der Küste schliesslich die eine richtige Bucht finden. Von wo man angeblich das Archipel verlassen kann, irgendwie. Das sind so die Gerüchte.“
„Ohne Verbündete, heisst es einerseits, sei das nicht zu schaffen, andererseits solle man sich auf niemanden verlassen.“
„So hab ich’s auch gehört: Man ist absolut auf sich allein gestellt und kommt doch allein nicht durch. Offenbar hat man es an den entscheidenden Stellen immer mit Paradoxien zu tun.“
„Jedenfalls kann man wohl sagen, dass diese sehr ungefähren Informationen wenig bis gar keine Hoffnung auf ein Durchkommen bieten.“

Zunächst kommt’s für Rivera nicht infrage, mit mir, verwahrlost wie ich aussehe, das Haus von Madame Greta aufzusuchen; und ich kann ihm darin nur beipflichten. Denn wenn auch auf sonst nicht viel, auf dieses eine legt Madame den höchsten Wert: dass die Fassade stimmt. Zu vorgerückter Stunde allerdings, als die Facon auch bei Rivera schon sichtlich nachgelassen hat und wir genötigt sind, einfach uns dem Ausnahmezustand hinzugeben, begehren wir dann doch dort Einlass, mit dem Argument: „Schau uns an, Bobby“ – Bobby ist der Torwächter –, „was du siehst, hat gar keine Bedeutung mehr –“ „Ist Maja! Illusion!“ „Quatsch! Hör gar nicht hin, Bobby, der ist betrunken. Was ich sagen will –“ „Schon klar“, sagt Bobby, „so wie ihr ausseht, zählen für euch nur noch die inneren Werte. Kenne euch in kaum einem anderen Zustand. Kommt mit.“ Wir schwanken ihm hinterher in die größere der beiden Bars im Erdgeschoss. Dort setzt er uns ans leere Ende des Tresens. „Hier bleibt ihr sitzen, klar?“ Und unisono sagen wir: „Danke, Bobby, alles klar!“
Auch der Barkeeper scheint uns bedenklich gut zu kennen. „Gentlemen?“, begrüßt er uns und stellt zwei Gläser und eine Flasche Rum vor uns hin.
Für dieses Haus gibt es allerlei Bezeichnungen, und von denen passt, wie ich finde, das altmodische Etablissement am besten, denn ja, es ist zwar ein Bordell, aber nun mal nicht nur das. Man konferiert hier, so wie wir jetzt, oder spielt um Geld, illegal natürlich; hauptsächlich Poker, aber auch Roulette.
Ich sage: „Vielleicht ist das der wahre Grund, warum ich hier weg muss: die Sauferei.“
Rivera nickt. „Ausserdem wird man auch hier demnächst auf das wichtigste kulturelle Element verzichten müssen: die Stromausfälle.“
„Genau. Weil ohne die ja die ganze Elektrifikation im Grunde ein langweiliger Scheiss ist.“
„Das, äh – deine Besoffenheit in allen Ehren, lieber Schell –“
„Oh, bin ich entgleist? Wollte dir nur zustimmen; was ich meinte: Dass die vielen kleinen Stromausfälle gewährleistet haben, dass hier bisher die Kultur nicht von der Elektrizität abhängig war. Stimmt doch wohl, oder?“
Dann kommen wir auf das Thema Passage zurück: „Nehme an“, sage ich, „auch du hast noch von keinem gehört, der’s geschafft hat.“
„Nein. Aber das heisst nur, dass nicht unbedingt stimmt, was man so hört. Denn was können einem Leute erzählen, die es nicht geschafft haben?“
„Nur, wie es nicht zu schaffen ist.“
„Und deshalb, wie ich heute irgendwann schon sagte, hängt alles davon ab, zu welchem Bild wir uns die Informationen zusammensetzen.“
„Und zwar vorher. Bevor es losgeht. Und da es nicht erst irgendwann losgeht –“
„Weil’s ja längst schon losgegangen ist – haben wir längst unser Bild.“
„Und jede neue Information fügt sich dem ein, ohne es im Ganzen zu verändern.“
„Sicher?“
„Nein. Gibt ja Informationen, die man deshalb als falsch verwirft oder einfach vergisst, weil sie einem das ganze Bild verändern würden.“
„Was nur sein kann, weil das Bild eine Illusion ist.“
„Wäre also ratsam, das Bild von der Sache komplett zu löschen. Was übrig bliebe, wäre real.“
„Theoretisch.“
„Eine Theorie immerhin, die erklärt, warum wir hier immernoch herumsitzen, als würden wir auf etwas warten.“
„Darauf, dass das Bild verlöscht, und zwar gefälligst von allein. Der reinste Schwachsinn ist das. Entmutigend. Wenn nicht völlig aussichtslos.“
„Sogar niederschmetternd.“
„Die berühmte hoffnungslose Situation.“

Von Greta’s Etablissement spazieren wir im Morgengrauen – es wird gerade die Tageszeitung ausgeliefert – in Richtung Zentrum, zum Paradeplatz, wo in der alten, von einer Riesenkuppel überdachten Markthalle schon einiger Betrieb herrscht; lassen uns da vor einer der Cafe-Bars nieder und studieren, während wir nach dem ersten Frühstück gleich ein zweites verschlingen, den noch druckfrischen Bright Day.
„Sag einmal –“ staunt Rivera: „Signale aus dem All! Sowas bringt neuerdings der Tag? Damit machen die aber dem Binocle gefährlich Konkurrenz!“ „Lies nur weiter, am Schluss zitieren sie sicher den vernünftigen Physiker vom Dienst.“ Rivera liest; dann schmunzelt er: „Ganz recht. Ist alles, heisst es hier, eine Theorie, die nur auf Messfehlern beruhen kann.“ „Gibt’s noch was interessantes?“ „O ja, das hier: Eine neue Epidemie in China. Da hat man gleich mal eine ganze Millionenstadt abgeriegelt.“

Und jetzt bemerke ich etwas. Dass ich mich nämlich die ganze Zeit beobachtet fühle; und zwar von da drüben, aus dem Schaufenster eines bestimmten Ladens heraus. Von einer Maske; einer solchen, wie sie zum Beispiel bei rituellen Tänzen irgendwo getragen wird … Was ist das für ein Laden?
„Muss mir da mal was anschauen“, sage ich zu Rivera.
Aus der Nähe erkenne ich sie wieder: Das ist ganz eindeutig die Maske aus dem Studierzimmer. Und gerade denke ich noch: So so, nach dem Säbel und der Daguerreotypie nun also, ganz logisch eigentlich – da hat mich ihr Anblick schon nach anderswo versetzt, vor einen Spiegel, jenen großen, rundum beleuchteten Schminkspiegel; und der ist so real, dass ich mich ganz klar als den erkenne, der davor sitzt, inmitten einer Masse interessanten kulturellen Gerümpels. Das heisst ich bin hier in dem alten Landhaus, in einem der Refugien, der sogenannten Kunst-Ruine. Der Spiegel, Gegenbild zur Maske, ist hier das Objekt zum Transit – alles klar!, und durch diesen Spiegel kehre ich sogleich ins Hier und Jetzt zurück. – Inzwischen geht das so leicht! Das stimmt mich zuversichtlich.
Und da ist plötzlich die Maske gar nicht mehr. Denn Argus-Augen haben mich vorm Schaufenster bemerkt, und wohl erkannt, was ich da so interessiert betrachtet habe. Und nun ist da an Stelle der Maske ein Menschengesicht erschienen: das eines alten Mannes – welcher mir jetzt zuzwinkert und gleich darauf aus dem Fenster verschwindet.
Komisches Ding, diese Maske; mir schon immer das unheimlichste von den Transitobjekten. Ich will mich gerade abwenden, da öffnet sich die Ladentür und es erscheint der alte Mann, der mir eben zugezwinkert hat, und krächzt: „Nur herein, Meister!“ Worauf ich mit abwehrender Geste sage: „Ich brauche nichts!“ „Ja, ja, nicht jetzt vielleicht – und ein Geschenk werden Sie doch wohl annehmen?“ Er tritt in den Laden zurück und ich folge ihm zumindest die drei Schritte bis zur Türschwelle. „Sie wollen nichts dafür?“ „Nichts. Hat keinen Preis so eine Maske.“
Der ganze Voodoo-Kram, der den kleinen Laden anfüllt, wirkt in dem fahlen Neonlicht einheitlich bräunlich-grau. Der Alte hat das Ding schon in eine Plastiktüte gesteckt. Nun kommt er nah heran, drückt sie mir in die Hand und zieht sich schnell zurück, und schliesst mit einem „Schönen Tag noch, Meister,“ die Tür vor mir.

Rivera grinsend: „Beute gemacht?“ Ich reiche ihm die Tüte: „Schenk ich dir.“ Er schaut hinein und reicht sie mir zurück: „Dutzendware. Brauch ich nicht.“ „Ich auch nicht.“ Ich winke dem Kellner und sage zu Rivera: „Los jetzt, an die Arbeit!“ „Jawohl, nutzen wir den Tag!“ Wir zahlen und gehen, jeder in seine Richtung. Ich bin noch nicht weit, da höre ich hinter mir: „Hey Boss!“ Der Kellner ist einer von den Aufmerksamen und hat leider die vergessene Tüte schon bemerkt.

So schön dieser frühe, noch dämmrig blaue Morgen auch mal wieder ist, jetzt will ich nur noch ins Bett. Vorher würde ich nur gern noch diese Maske loswerden. So ein Objekt allerdings, das ist mir klar, wirft man nicht einfach weg, das brächte Unglück. Da fällt mir ein bestimmter Laden ein, gleich hier um die Ecke: der Kostümverleih; die Institution in Sachen Verkleidungskunst; von einem Chinesen betrieben. Der könnte sogar zu dieser Stunde schon geöffnet haben … falls er je schliesst. Und in der Tat, da drinnen seh ich Licht.
„Habe hier was Interessantes“, sage ich zu dem Chinesen und reiche ihm die Maske. „Was meinen Sie, was ist die wert?“
Er schaut sie sich eingehend an. „Hm. Hm.“ Zwirbelt sich ausgiebig den Spitzbart. „Hm.“ Wackelt mit dem Kopf.
„Und? Interessiert? Passt Ihnen die ins Sortiment?“
„Hm.“ Schliesslich legt er die Maske auf den Ladentisch, taucht rückwärts mit einer knappen Drehung durch den Vorhang aus Perlenschnüren und ist Sekunden später mit seinem Angebot zurück: „Das brauchen Sie, mein Herr!“ Er reicht mir einen Anzug, Hose und Jackett, von undefinierbarer Farbe. Und da werde ich mir peinlichst meiner abgetragenen Kleidung bewusst, wie überhaupt wieder meiner ganzen ungepflegten Erscheinung.
„Haben wir gerade neu hereinbekommen“, sagt der Chinese, „von weither, aus Istanbul.“
Ich befühle den Stoff und stelle eine ganz aussergewöhnliche Feinheit fest. „Aber – von der Größe her?“ „Der passt, Sie werden sehen.“ „Na schön, Sie sind der Fachmann.“ Ich stopfe die beiden Teile in die leere Tüte. „Danke sehr!“
Nur jetzt auf dem schnellsten Weg in meine Höhle! Wie schrecklich ich wohl inzwischen aussehe! Doch vor allem bin ich froh, die unheimliche Maske los zu sein.

Ich wache auf und höchstens eine Stunde ist vergangen, seit ich mich in meinem verdunkelten Apartment aufs Bett geworfen habe. Doch ist an Weiterschlafen nicht zu denken; nicht des Lärmes wegen, der aus der Gasse heraufdringt und gar beträchtlich ist; es ist die Unruhe in mir, die mich, unausgeschlafen und noch halb betrunken, wieder auf die Beine bringt.
Nach sorgfältigster Körperpflege ziehe ich zu einem frischen Hemd den neuen Anzug an und freue mich, wie sehr gut er mir tatsächlich passt. Ich betaste mit neuerlicher Bewunderung diesen überaus feinen Stoff und finde dann auch durchaus gut, was ich im Spiegel sehe; und als ich der Reihe nach die Taschen untersuche, fällt mir sogleich deren kühle, glatte, merkwürdig geräumige Beschaffenheit auf, und da kommt mir der Verdacht: Habe ich’s hier etwa mit einem Exoot zu tun? Und wenig später, als ich den Weg ins Büro unterbreche, um mir von einem Friseur die Haare kurzschneiden zu lassen, frage ich mich, dort in den Spiegel glotzend, warum wohl der Chinese Istanbul erwähnt hat.
Da merke ich schläfrig, wie mich in diesem gemütlichen Friseursessel der Tatendrang verlässt, und ganz sicher bin ich mir, dass mich gleich im Büro nichts als das Sofa in Anspruch nehmen wird.

B.11

Seltsamen

Wie seltsam das gewesen war, hinter mir Ingrun auf dem Rücksitz zu haben … Die Fahrt war in völligem Schweigen verlaufen, und ohne Musik, und das Ziel war ein großes Apartment-Gebäude gewesen, in einer ruhigen, recht teuren Wohngegend. Sie hiess mich dort in die Tiefgarage fahren, dirigierte mich auf einen bestimmten Stellplatz und fuhr mit mir den Aufzug in die vierte Etage hinauf; und noch immer schwiegen wir uns an.

Das Apartment, in das sie mich führte, gehöre ihr schon lange, erklärte sie. Mahmoud habe eine Zeitlang hier gewohnt. „Bevor er bei mir eingezogen ist. Du weisst ja wohl, dass Mahmoud und ich …“ Worauf ich nur ungeduldig nickte. „Zur Sache, Ingrun. Was soll das Ganze?“

„Ausser mir kennt nur Mahmoud diese Wohnung, und jetzt noch du. Denn bei Manne auf der Tankstelle bist du nicht mehr sicher, und falls du dich dringend mal verziehen musst, hast du nun diese Schlüssel hier … Dieser ist für die Wohnung und dieser für Haustür und Tiefgarage. Der kleine ist für den Briefkasten und dieser vierte hier für einen Raum im Keller. Der anhand der Numerierung leicht zu finden ist; wo in Pappkartons der Kram lagert, den du, als wir uns damals trennten, bei mir zurückgelassen hast.“

„Ach“, sagte ich und nahm den kleinen Schlüsselbund in Empfang, „dann waren also meine Sachen tatsächlich bei Mahmoud. Nur dass der von diesem Kellerraum nichts wusste.“ „Dass ich den ihm gegenüber erwähnte, bin ich mir sicher; und er hatte ja den Schlüssel … Hat aber immer soviel anderes im Kopf, der Gute.“

„Ich brauch den alten Kram inzwischen sowieso nicht mehr. Aber trotzdem Danke, Ingrun. Für diese Schlüssel. Dein Vertrauen. Dass du dir Sorgen um mich machst. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann …“ Sie winkte ab, sagte: „Da kommt was auf uns zu, genaues wissen wir noch nicht. Ein Virus. Der wird dies ganze Level fressen. Uns bleibt kaum noch Zeit.“ „Soll ich dazu, äh, irgendwie was sagen?“

„Wir sind vier Dreier-Teams auf diesem Level, und nur wenn wir zusammenarbeiten, ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, zu lösen. Leider sind von den vier Teams aber nur zwei stabil. Das eine besteht aus Iris, Maja und mir –“ „Maja? Maja Maier? Alias Frau Doktor?“ „Ja. Und Iris kennst du auch: die Psychologin, die dich zu Frau Doktor geschickt hat.“

„So habt ihr alles eingefädelt …“ Klar, dass ich aus dem Staunen nicht mehr herauskam.

Das andere stabile Team, laut Ingrun, bestand aus Nolte, Trisha und Gino. Gottfried Nolte, klar, den kannte ich, doch die anderen beiden – „Gino? Trisha?“ „Gino bist du sicher noch nicht begegnet. Aber Trisha – Patricia Percival –, du hast sie mal im Taxi gehabt. Durch sie bist du an die Azuma-Statuette gekommen.“ „Verstehe.“ Die Amerikanerin, die damals in meinem Taxi jenen Briefumschlag auf dem Rücksitz „gefunden“ hatte, mit dem Schlüssel darin, für das Bahnhofsschliessfach …

Das dritte Team, erfuhr ich, bestehend aus Uschi, Lady Rainbow und Beppo, war schon seit Jahren durch Beppos Autismus wie lahmgelegt. „Fraglich, ob der wirklich Autist ist“, sagte Ingrun. „Kann auch sein, dass er nur simuliert. Oder unter einer Art Bannzauber steht. Wie’s aussieht, stehen jetzt die Chancen aber gut, ihn rechtzeitig noch da herauszuholen. Woran wir tatsächlich scheitern werden, ist das vierte Team: ist Sciffi, ist Manne, bist du, Schell. Wir alle, das heisst wir zwölf, scheitern, weil wir eine Einheit sind und nur als Einheit weiterkämen, und weil ihr drei das leider vergessen habt. Und was hat euch so vergesslich gemacht? Die Drogen. Und daran zu scheitern letztenendes, an so einer blöden kleinen Molekülverbindung namens THC, ist wirklich deprimierend.“ „Da muss ich doch entschieden protestieren!“

„Okay – Manne und Sciffi, die jedenfalls konnten nicht rechtzeitig davon lassen. Aber wovon du nicht lassen kannst, ist um keinen Deut besser: deine Selbstbezogenheit. Sie hat dich total verblendet, Schell, und ist so verdammt zäh, dass sie auch dich alles hat vergessen lassen. Sodass du mir nicht glaubst, kein Wort, auch jetzt nicht, das merke ich sehr wohl.“ „Stimmt. Aber wie es aussieht, gibst du dir reichlich Mühe mit mir – und ja nicht nur du – und das macht mich natürlich nachdenklich. Sagen wir also, ich setze zur Abwechslung mal den Unglauben aus – wie sollte idealerweise denn die Sache laufen?“

„Das lässt sich nur symbolisch sagen. Es hat mit dem König zu tun. Der sein Gedächtnis verloren hat. Und sehr krank ist deswegen. Und geheilt werden muss.“ „Du meinst, wie in der Sage vom Gral? Mit König ist der Hüter des Heiligen Grals gemeint?“ „Es ist immer dieselbe Geschichte. Nur sieht sie immer anders aus; so anders jedesmal, dass man sie nicht erkennt, oder zumindest nur unter Schwierigkeiten.“

„Schwierigkeiten, die man zu meistern hat, verstehe – um die Geschichte, die eigentliche, wiederzuerkennen. Worin der Sinn der Sache liegt.“ „Du selbst, Schell, müsstest über diese Geschichte im Grunde am meisten wissen. Nicht zufällig ist dir das entsprechende Zeichen zugespielt worden. Übrigens unter einigem Aufwand – frag nur Trisha danach, falls du sie mal triffst.“

Ich dachte an die kleine Plastikfigur im Handschuhfach des Taxis und seufzte. „Der Instinkt sagt mir, dass dieser ominöse König Azuma mich nur ablenken soll. So wie das ganze Spiel, von dem dauernd die Rede ist, Flysh, mir wie ein einziges Ablenkungsmanöver vorkommt. Doch wovon es mich ablenkt? Keine Ahnung.“

„Und spielt auf diesem Level auch sicher keine Rolle mehr. Hier, wie gesagt, sind wir so gut wie fertig. Wusstest du, dass du nicht mal mehr ein Team hast? Sciffi ist nämlich inzwischen bei euch raus; ist jetzt ein Team mit Habib und dem IT.“

Da glotzte ich. Der Computer-Nerd, der Berufskriminelle und der dauerbekiffte Magier: ein Team! Und Ingrun nickte. „Kannst dir wohl denken, wie weit das, was die in diesem Spiel verzapfen, von dem wegführt, was wir erstreben.“ „Kann ich mir denken, ja. Wenn das so eine Gralsgeschichte ist.“

Ich überlegte. Sciffi also hat sich von uns losgesagt, das heisst jetzt sind wir nur noch elf … „Könnte Mahmoud nicht an Sciffis Stelle treten? Mit ihm im Team, das wäre schön!“ Da musste Ingrun lächeln. „Ist irgendwie entwaffnend, dass dir der Ernst der Lage noch so gar nicht klar ist.“

Ich saß, wie so oft, im Lesesaal einer der größten Bibliotheken Frankfurts; an diesem Nachmittag aber nicht, um zu lesen – auch wenn ich ein Buch aufgeschlagen vor mir liegen hatte –, sondern um in Ruhe nachzudenken; und das aufgeschlagene Buch war diesmal auch nicht, wie sonst in letzter Zeit, ein Band aus der Gesamtausgabe Schellings, sondern eine Sammlung von Briefen Hölderlins. Mein Blick, während ich mich konzentrierte, ging da weniger hinein, als vielmehr da hindurch, das heisst ich sah die Zeilen kaum; stattdessen blickte ich zurück.

Obwohl so unwahrscheinlich war, was Ingrun mit erzählt hatte, beschloss ich ihr zu glauben. Denn so ergab ja plötzlich alles einen Sinn. Und ich sagte mir: Sobald ich nicht mehr vergesse, dass ich mich ja dauernd irre, wird mir vielleicht auch das, was ich davon immernoch nicht glauben kann, allmählich glaubhaft werden. Im übrigen war das ja nicht das einzig Seltsame in jüngster Zeit gewesen …

Zum Beispiel traf ich neuerdings beim Joggen dauernd dieselbe Joggerin; was nichts besonderes wäre, würde ich immer zur selben Tageszeit dieselbe Strecke laufen. Doch traf ich sie auf jeder Strecke und egal, wann ich lief. Und vage kam sie mir auch irgendwie bekannt vor. Bis es zuletzt dazu gekommen war, dass sie mich beim Joggen überholte und dabei zu mir sagte: „Du hast keine Zeit mehr zu verlieren.“ War das ein Scherz? „Was meinst du?“, fragte ich, und sie: „Dass du wirklich demnächst los musst!“ Nachdem Ingrun sie erwähnte, Iris nämlich, wusste ich plötzlich, wie und wo ich diese Joggerin schon mal gesehen hatte: als jene Psychotherapeutin, die mich damals zu Frau Doktor schickte!

Dass ich wirklich demnächst los muss … Konnte sich ja wohl nur auf das beziehen, was ich nun schon so lange vor mir her schob: den vielbesagten Urlaub.

Dass mir wahrscheinlich eine Reise gut tun würde, sah ich ein; doch wohin verreisen, wusste ich noch immer nicht. Wenn ich manchmal in Buchhandlungen vor den Regalen voller Reiseführer stand, fand ich so ziemlich alles interessant. Sobald ich allerdings in einem davon zu blättern begann, verliess mich jegliches Interesse. Oder in Reisebüros: in dem Geprassel bunter Angebote verging mir alle Reiselust schlagartig. Im übrigen war ich bisher auch in der Frage, welche Lektüre zu dieser Reise die geeignete sei, noch zu keinem Ergebnis gekommen. Und was lag diesem Pseudoproblem tatsächlich zu Grunde? Dass ich einfach nicht Tourist sein wollte. Dass ich der Ansicht war, die Welt, so wie sie ist, liess gar nicht mehr das zu, was ich mir unter Reisen vorstellte.

Wenn ich im Geiste auf der Suche nach einem Urlaubsort irgendwelche Landstriche, Küsten oder Flussgebiete überblickte, geriet ich immer wieder an gewisse Stellen, die sich seltsam wiederholten. Da war zum Beispiel diese schmale kurvige Straße in die Berge hinauf, stets bei Sonnenschein, mit Ausblick auf ein Meer, und jedesmal war ich überrascht von dem Duft, den leuchtenden Farben, der Frische der Luft. Auf dem Balkan, keine Ahnung, wo genau; und die kleine Stadt, in der ich jedesmal aus einem alten Autobus stieg, war immer dieselbe, bekannt als Markt für Edelsteine und für die Schönheit ihrer Frauen. Ich allerdings kam wegen spezieller Höhlen, die es angeblich in dieser Gegend gäbe.

Am häufigsten geriet ich jedoch an diesen anderen Ort, auch irgendwo im Süden: Stets in der Hitze einer betäubenden Mittagssonne, zwischen zerstörtem Gemäuer; wo ich mich jedesmal über schiefe uralte Pflastersteine zu einem schon lange, lange ausgetrockneten Brunnen schleppte; dort verharrte; die Eidechsen beobachtete; und das Gefühl eines fürchterlichen Elends um mich spürte. Manchmal hörte ich etwas wie erstickte Schreie, doch das, wie ich mir sagte, konnte nur Einbildung sein.

Wahrlich war das kein angenehmer Ort, und also warum landete ich im Geiste – fast schon wie in einer Endlosschleife – immer wieder dort? Jedesmal aber, bevor sich eine Antwort darauf fand, war ich schon wieder raus aus diesem Bild; und das war typisch für alle diese Orte, an die es mich imaginär verschlug: sie entzogen sich, wie Traumbilder, meiner Kontrolle.

Und mindestens so merkwürdig, so verstörend seltsam, war es neulich gewesen, in einer Zeitschrift ein Bild von mir zu entdecken; nämlich in einem Spiele-Magazin, auf einem ganzseitigen Foto, einer Werbung für einen sogenannten Re-Run, die Neuauflage eines alten Computerspiels:

AZUMA MAROONED – das legendäre Abenteuer: vollständig rekonstruiert – in neuem Style – auf deinem Phone!

Konnte der auf diesem Foto wirklich ich sein? Nein! Aber ich war’s; erkannte mich fast überdeutlich klar: in einem orientalischen Kaffeehaus, im Gespräch mit einer gesichtslosen, schwarz gewandeten Gestalt. Und meiner Verblüffung folgte die Empörung: Mich einfach in eine Werbung zu versetzen, ungefragt, das kann man doch nicht machen! – Doch, kann man; und meiner Empörung folgte ein gehöriger Schub Paranoia. Und wie da mein Herz mal wieder losgeklopft hatte!

Jedenfalls verliefen alle diese seltsamen Vorkommnisse nach einem Muster: was zumeist recht amüsant begann, schlug jedesmal ins Bedrohliche um. Wie auch gestern Abend, als ich an einem Taxistand am Bahnhof vor mich hindösend im Wagen saß. Da hatte ich plötzlich so eine Urstadt vor Augen, Uruk zum Beispiel, oder Ninive, und die verwandelte sich wie in Kaskaden epochaler Überblendungen in die nächtliche Szenerie einer Mega-City der Zukunft. Ich sah Leute mit Rüsseln, mit gepanzerten Schädeln, mit Stacheln und Schwänzen, und andere mit Lichtkörpern, nahezu durchsichtig und mit flügelartigen Schultern; staunte sehr, und als da auch eine pralle Sexblüte vorbeitrieb, dachte ich nur: Aha, auch hier treiben pralle Sexblüten vorbei … „Muss irgendwo sein“, sagte da jemand hinter mir; ein Mann; hatte gar nicht bemerkt, wie er eingestiegen war. Er kramte in einem Aktenköfferchen. „Ich will Sie nicht mit Kartenzahlung nerven, habe Geld dabei, Bargeld … Nur etwas Geduld, bitte. Nach schon wieder so einem Tag bin ich jetzt, äh …“ „Ein bisschen zerstreut?“ „Was? Jaja … Sie haben ja keine Ahnung, was wirklich läuft, sonst säßen Sie nicht mehr gemütlich … Ach was, seien Sie froh, so hier im Stillen sitzen zu dürfen und einfach nur mitfühlend meinen Schwachsinn zu ertragen.“

„Sind Sie Schriftsteller?“

„Statistiker. Beim Großen Discounter. Kenne die Kosten der billigen Preise bis ins kleinste Detail. Wenn der letzte Fisch gefangen, der letzte Baum gefällt ist und so weiter, Sie wissen schon – was uns dieser Indianerhäuptling damals schon klarzumachen versuchte: dann werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann. Wissen Sie, wie blöd man sich mit derartig alten Neuigkeiten vorkommt?“ „Ja, saublöd. Und Bits kann man übrigens auch nicht essen.“ „Aber so unfassbar blöd wir auch sind, das System funktioniert.“

„Ich fahre Sie irgendwohin und Sie bezahlen, okay?“

„Warten Sie. Ich könnte gerade eine Bombe deponiert haben, zum Beispiel in diesem Alien-Shop da drüben.“ „Etwa um sich vor dem Bezahlen zu drücken? Steigen Sie aus, Mann!“

„Sie haben hier und jetzt die Chance, viele Menschenleben zu retten. Verstehen Sie?“ Er hielt sein Handy in die Höhe: „Hiermit kann ich die Bombe zünden. Und Sie, der unscheinbare Taxifahrer, können über Nacht zu einem Helden der Humanität werden, indem Sie mich mit einem überzeugenden Argument – nur einem einzigen! – daran hindern.“ „Belabern Sie jemand anderen – raus jetzt!“ „Es ist zu unwahrscheinlich, meinen Sie, dass –?“ „Ich meine: Raus aus meiner Karre!“

Genug.

Ich versuchte in dem Buch zu lesen, das hier aufgeschlagen vor mit lag – die Briefe Hölderlins – doch wieder ging mein Blick wie durchs Papier hindurch; hatte da, gestochen scharf, Frau Doktor vor mir, und ich staunte, mit welch hoher Energie ich projizierte – das grenzte schon an echten Blickkontakt! – Und sah jetzt mich. Durch ihre Augen. Im Strafraum. Vor ihr auf den Knien. Nackt. Diesmal aber ganz anders als sonst.

Während die Sitzung zuvor noch eher wie üblich verlaufen war … Erst jetzt, hier in der Bibliothek sitzend, rückblickend, bemerkte ich, dass sich aber schon in dieser vorletzten Sitzung etwas verändert hatte. Wie ich mich nämlich so sah, ihr gegenüber, durch ihre Augen, und mich reden hörte, da fing ich erst so richtig an, meine Geschwätzigkeit zu hassen:

„Wir haben inzwischen ja durchschaut, was mein Gerede eigentlich verschlüsselt: Scham. Dass sich für den Schamhaften gerade im Beschämendsten, im Allerpeinlichsten, eine besondere Wonne verbirgt. Das skandalöse Geheimnis des absoluten Nur-für-mich. Der Ego-Kick schlechthin. Der enthüllte Kern der Scham. Das Schamlose selbst. Woran der Schamhafte sein schamloses Selbst entdeckt. Nur eine Fiktion natürlich, ein fiktiver Fetisch; jedoch genauso magisch aufgeladen wie ein echter Fetisch, und mindestens genauso wirksam, genauso unwiderstehlich. Sodass der Schamhafte, süchtig nach dem Schamgefühl, willentlich es wieder und wieder in sich auslöst. Wobei allerdings nicht zu übersehen ist, dass der banale Gehalt der Sache nur deshalb unbedingt im Dunkeln bleiben muss, weil er so dermaßen banal ist; stellt doch dieser banale Gehalt mein Selbstbild, ja die ganze absolute Wichtigkeit meiner Person in Frage. Mich zu zwingen, dieser meiner Banalität mich auszusetzen, sie zu belichten sozusagen, das wäre mir ohne Sie, Frau Doktor –“

„So reichlich Sie Ihr Selbstbild vor uns ausgebreitet haben, reicht’s nun, denke ich. Haben Sie je erwogen, dass es nur ein Bild ist?“

„Mein Selbstbild? Ein Bild, ja – natürlich!“

„Und dass dieses Bild für jemand anderen als Sie gar keine Realität hat?“

„Ist möglich, ja.“

„Ihr Selbstbild könnte also nur für Sie real sein?“

„Wie gesagt …“

„Hätte ohne Sie überhaupt keine Realität?“

„Was denn? Ich sage doch: ist möglich.“

„Die Frage ist die: Halten Sie das wirklich für möglich?“

„Verstehe.“ Was gab’s da zu verstehen? Irritiert, genervt, nahm ich rasch Zuflucht zum Banalen: „Die Scham, sie funktioniert natürlich nur, solange man dasselbe wie die Allgemeinheit als Tabu empfindet. Äh – okay? Soll ich sagen, wie ich mich fühle? Wie wenn sich das Besondere im Allgemeinen oder umgekehrt das Allgemeine im Besonderen wiederfindet. Ah, Sie schauen auf die Uhr. Bin ins Schwafeln geraten – dann schreiten Sie umgehend zur Bestrafung bitte!“ „Sie kommen heute mal wieder ohne Strafe davon.“ „O bitte!“ Sie tippte auf ihre Uhr: „Lohnt nicht mehr.“

Wie gereizt ich gewesen war nach dieser Sitzung, kann man sich denken; trotzdem hatte ich gleich schon – ich war ja süchtig – den nächsten Termin ausgemacht. Und dann allmählich begriff ich, dass ich ihre Frage gar nicht verstanden hatte. Hielt ich es wirklich für möglich, dass für jemand anderen mein Selbstbild gar nichts reales ist? Das heisst: ist das möglich? Dass mich andere gar nicht so sehen wie ich mich selbst? Eigentlich, je genauer, je ehrlicher ich’s bedachte, hielt ich es nicht für möglich. Und zugleich mit diesem Eingeständnis ging meinem Selbstbild schon einiges an Realität verloren.

Man gleicht sich im Laufe der Zeit seinem Selbstbild an, dachte ich, und irgendwann schafft man es, damit übereinzustimmen; und ohne es überhaupt mitzukriegen, ist man plötzlich dann damit identisch: ist souverän man selbst – und klar, wie kommt man da wieder heraus? Unmöglich. Man weiss ja gar nicht, dass man drinsteckt. Das nennt man: in der Falle sitzen. Daher musste es ja dann beim nächsten Mal so ganz anders laufen als bisher:

Ich musste mir die Bestrafung gar nicht erst durch eine komplizierte Beichte im Sprechzimmer verdienen, Frau Doktor fragte nur: „Erinnern Sie sich noch an Ihr Problem, Samsa?“ „Impotenz? Oder nein, Sie meinen wahrscheinlich diese Mixtur aus konträren Gefühlen: Minderwertigkeit und Hochmut. Die sich gegenseitig bedingen.“ „Und meinen Sie immernoch, diese Mixtur sei etwas besonderes?“ „Sie meinen: lächerlich, sich darauf etwas einzubilden?“ „Ermüdend. Das immer wieder aufzuwärmen. Und ja, lächerlich auch, solche Nabelschau für Psychologie zu halten. Kommen Sie, gehen wir rüber.“

Zwar durfte ich niederknien, in gewohnter Weise nackt und angekettet, zum erstenmal aber ohne die Augenbinde. Und diesmal zog auch sie sich aus.

Ich starrte ihre Brüste an; konnte den Blick gar nicht mehr davon lösen; dachte zweimal, dreimal, viermal: Die kenne ich! Wie aber kann das sein? Nur einmal in meinem Leben hatte ich Brüste skurril gefunden, und zwar genau diese: seltsam länglich und aufwärts geschwungen, wie weisse Hörner, deren Enden aus sehr großen glatten Höfen sich zu glänzendem Rosa spitzten … Woher? Woher nur kenne ich die? Wie Hörner …

Zunächst, wie üblich, versuchte ich zu rationalisieren: Brüste wie diese kommen doch immer wieder vor, sicher hast du auch mit solchen irgendwo, irgendwann einmal herumgemacht … Doch hatte ich nicht mehrmals schon Anflüge des Gefühls gehabt, sie zu kennen, diese Frau? Gar nicht als Frau Doktor, sondern von viel früher her, in einer anderen Rolle …

„Was starren Sie so, Samsa? Sind doch nur Titten!“

Wie absurd das klang … Ich sagte mir: Du schläfst. Wach auf! „Hab neulich was geträumt …“ Und da wurde mir schwindelig.

Was erkannt werden wollte, liess sich nun nicht länger abhalten. In jenem Traum, in dem ich mich in sie – nein, nicht in Frau Doktor, vielmehr in diese Frau verwandelt hatte, da spürte ich mich ganz und gar in dieser Form, nicht irgendwie nur allgemein, sondern konkret in jeder Faser, und eben auch, und das unter dem nassen Hemd besonders intensiv, in diesen Hörnern; ich hatte sie, fühlte sie an mir selbst, sie gehörten mir an.

Und da entsann ich mich der Höllenangst, die ich nach jenem Traum gehabt hatte. Als ich da nämlich hinausglitt, kurz bevor ich richtig wach wurde, erkannte ich, mit was für Mächten ich’s zu tun hatte; nicht mit den guten nämlich, sondern mit den bösen; mit dreien, genau genommen, die insbesondere zu fürchten sind.

Den einen Dunklen – der so hell erscheint, den Blender – kennen alle: den Gefallenen, Luzifer genannt. Sein Gegenspieler, der andere Dunkle – der superintelligente Lügner, den ich den Technus nenne –, ist weniger bekannt. Diese beiden kenne ich, das heisst erkenne, wie sie auf mich wirken; was in Bezug zum dritten Dunklen – zu den Aggatt – so leider nicht der Fall ist.

Und jener Traum, so wurde mir jetzt klar, ist eine Warnung vor den Aggatt gewesen.

War mir das Fest, der Potlatch, nicht wie ein Treffen mit meinem Stamm vorgekommen? Und gehörten die Frauen in dem Caravan, mit denen ich vor der Sturmflut davongerast war, nicht auch dazu? Und da ich diese Frauen als Aggatt erkannte, waren dann also die Aggatt – mein Stamm? Ich also – eine Aggatt?

Derselbe Schrecken durchfuhr mich erneut.

Die Aggatt sind eine kosmische Rasse von Kriegerinnen; nur stelle man sie sich bloß nicht nach unseren Klischees der Raumfahrt vor, dann wären sie tatsächlich amüsant; höchstens könnten sie einem ein wenig das Gruseln lehren. Auch ich hatte keine Angst vor ihnen, solange ich nicht wusste, wie und was sie wirklich sind; solange sie mir nämlich nur in ihrer Schund-Version begegneten, so wie in einer Weltraum-Operette. Denn solange wirkten sie nur ausgedacht. Seit ich sie aber in mir weiss, durch mich wirkend, ist das anders. Ich weiss sie im Unbewussten verborgen. Sie bedienen sich der Willenskraft und nehmen mit Vorliebe die Gestalt ihres Gegners an. Wer oder was ist ihr Gegner? Was ich in mir sagt.

Die Angst, von ihnen auf grausamste Weise vernichtet zu werden, ist alles andere als unbegründet. Manche aus dieser Angst heraus, manch andere, weil diese Lebensform sie so begeistert, verbünden sich mit ihnen, werden selbst zu Aggatt; während die meisten aber, wie ich hoffe, von ihnen nie im Leben etwas mitbekommen.

Hier jedenfalls, das war mir in diesem Moment – nackt und gefesselt auf den Knien – sowas von klar, hatte ich die Entscheidung zu treffen: Den Aggatt widerstehen, jetzt!, oder fortan als Aggatt weiter, von Rausch zu Rausch, unsterblich in ewiger Nacht, immer in Wut, in Krieg und Ekstase, um wo immer wir auf Freundlichkeit stoßen, auf Treue, oder auf Glauben, auf Hoffnung – oder auf die für Aggatt tödlichste Bedrohung: Liebe –, sie zu zerstören.

Sie hatte breitbeinig über mir gestanden; jetzt ging sie vor mir in die Hocke. „He, Samsa, Sie sind ja kreideweiss. Machen Sie etwa schlapp?“ Ich erinnerte mich, darauf erwidert zu haben: „Ich glaube, ich will jetzt nicht mehr Samsa sein.“ „Dann brauche ich auch nicht länger Frau Doktor zu spielen …“ Jetzt lächelte sie. „Aber im Ernst, du siehst wirklich fix und fertig aus. Würde sagen, da hilft jetzt nur noch echte Medizin, und zwar die allerälteste, die Urwaldmedizin.“

Sie löste mir die Fesseln an den Handgelenken und ich dachte: Was ich von wegen des Heroischen neulich zu ihr sagte, war ernst gemeint: Dass ich den Kampf gegen meine Verkorkstheit nicht aufgeben werde; dass ich dieses Peinliche, Schmerzhafte, nicht einfach da in mir gewähren lasse. Denn so leicht es sich auch bagatellisieren lässt, es ist böse, und ich werde es in mir nicht akzeptieren, niemals.

So hatte ich entschieden.

Wir legten unsere Kleidung wieder an. Dann setzte sich Frau Doktor auf den Boden, mit einem Kissen im Rücken an die Wand gelehnt und den Rock soweit hochgeschoben, dass sie ihre angewinkelten Knie auseinanderspreizen konnte. Sie deutete dicht vor sich auf den Boden: „Hierhin, und mit dem Rücken zu mir.“ Ich fragte mich besorgt: Urwaldmedizin?, tat jedoch wie mir geheissen. „Und jetzt lehnst du dich an mich an.“

Sehr aufrecht, sehr steif, lehnte ich mich vorsichtig zurück.

„Bitte richtig, okay? Lass los. Und halte auch bitte nicht weiter die Luft an.“

Kurzum, es dauerte einige Zeit, bis ich mich entkrampfte, mich an sie wirklich anlehnte, oder genauer: in sie einsank; so nämlich fühlte es sich an, als mir das Loslassen schliesslich gelang.

Im ersten Moment hielt ich das, wo ich mich wiederfand, als ich die Augen schloß, für den Denkraum. Der glich nun aber gar nicht mehr dem Spiegelkabinett, dem also, was mir als der Tautoloid vertraut war. Nicht verlor sich, was ich dachte, nach allen Seiten ins endlos immer Fernere. Stattdessen kam von allen Seiten, auch von unten und von oben, etwas immer näher auf mich zu, und das war nicht dieselbe Stille, die ich hier schon des öfteren erfahren hatte. Still war sie zwar auch, sprachlos, unbegrifflich, doch vor allem war sie Farbe, nämlich grün. Und da erst fiel mir auf, dass es zuvor zwischen den Spiegeln immer völlig farblos zugegangen war; es hatte im Tautoloid also gar kein natürliches Licht gegeben! – Ja wie auch? Du hast ja nicht nur die Gedanken, auch diesen Ort hier, den Ort ihres Entstehens, für eine bloße Abstraktion gehalten, für im Grunde irreal; und wie sollte Sonnenlicht in so ein Jenseits dringen?

Schwer zu beschreiben dieser Farbton, der mich jetzt hier umgab; ähnlich einem Waldrand im Sommer, abends, in rotgoldnem Grün. Und da dachte ich an meine Regenbogen-Dame …

Die ersten Besuche zum Tee bei Lady Rainbow hatte ich rein höflichkeitshalber absolviert, dann aber sehr bald deren beruhigende Wirkung zu schätzen gelernt; bis mir schliesslich jede Tea Time mit ihr zu etwas besonderem geworden war.

Die Lady war in ihren Äusserungen sparsam, und bei allem, was sie aussprach, fiel mir ein leiser poetischer Beiklang auf, der auch das scheinbar Nebensächlichste irgendwie aus dem Alltäglichen heraushob. Ich hatte sie zum Beispiel in der Küche einmal „Alufolie“ sagen hören, und dieses Wort klang aus ihrem Mund so neu, so fragend, dass ich erstmal gar nicht wusste, was es hiess, und dann verstand, dass sie Silberpapier meinte.

Sie wirkte immer so heiter und dabei so nüchtern, so unsentimental, so unbelastet von Persönlichem, sodass ich mich fragte, woher das wohl kam. Aus der Zukunft, stellte ich mir vor; aus einer Zukunft, in der allgemein bekannt sein wird, dass so wie alle Materie eigentlich Licht ist, alles Seelische eigentlich aus Liebe besteht. Ich hatte sie nämlich am Anfang mal gefragt, was sie beruflich denn so mache, und ihre Antwort war gewesen, sie arbeite als Heilerin; und als ich weiterfragte, wie das praktisch aussähe, sagte sie nur: „Geistig.“ „Wie stell ich mir das vor? Du heilst den Geist?“ „Das geht nicht. Geist an sich ist immer heil. Kann unheil nur sein in seelischer und körperlicher Form.“ „Und dann?“ „Braucht der Körper, was er ursprünglich ist: Licht, und die Seele auch, was sie ursprünglich ist: Liebe.“ „Das klingt ja sehr einfach.“ „Wie alles in Kurzfassung. Doch einfach ist daran nur meine Arbeit: mir bewusst zu sein, dass ich einfach nur Kanal von Licht und Liebe bin.“ „Und mehr nicht – ich glaube, ich verstehe. Das ist nicht einfach; sogar verdammt schwierig, würde ich sagen. Wenn man nur wüsste, was Geist ist.“ „Man kann ja immerhin schon mal begreifen, was Egoismus ist, oder?“

Nach einer Pause fragte ich: „Was hast du früher so gemacht?“ „Mich an Bäume gekettet. Die dann doch gefällt wurden, um Platz für neues Legoland zu schaffen.“ „Ihr ward zu wenige.“ „Dachten aber, wir seien viele.“ „Hm, ja, traurig, wenn man kämpft und nichts dabei herauskommt.“ „Wirke ich verbittert? Ich hoffe, nicht.“ „Nein, o nein! Mich interessiert dein Fazit.“ „Wir gaben damals nur dem Affen Zucker. Dem System. Wurden süchtig danach, Widerstand zu leisten. Sowas tut man, bis man’s kapiert.“ „Darum kämpft man wohl in seiner Jugend. Bei mir ging es um Tierschutz. Dieselbe Geschichte: ein tapferer kleiner Haufen gegen das System.“ „Und dein Fazit?“ „Ich würde es heute genauso wieder machen. Aber jetzt ist immer jetzt. Und damals, logisch, war noch nicht, äh, jetzt – ich meine, der Kampf hört nie auf, das heisst ist immer jetzt.“ Sie schaute mich fragend an, aber schwieg. Ich blickte verlegen in die Teetasse und kam mir blöde vor, geschwätzig. „Ich auch“, sagte sie, „würde mich, wäre ich jung, auch sofort wieder an Bäume ketten.“

Das war unser längstes Gespräch gewesen. Zum Schluss hatte sie mich gefragt: „Soll ich dich behandeln?“ „Geistig meinst du?“ „Ja. Du legst dich einfach still irgendwo hin. Nur wann, müssen wir verabreden.“ „Warum nicht jetzt? Hier?“ „Gut. Mach’s dir bequem, leg dich aufs Bett.“ „Okay … Muss ich glauben, dass das funktioniert?“ „Nein, musst du nicht.“ „Und die Augen zumachen?“ „Wie du willst.“ „Und wenn ich einschlafe?“ Darauf antwortete sie schon gar nicht mehr.

Wo landete ich wohl? In meinem Denkraum, im Tautoloid. Und was passierte da? Nichts; ich dachte nur: Ist ja mal schön still hier. Und das war’s, der ganze tautoloide Gedankenspiegel um mich herum blieb leer; oder um genau zu sein: war gar nicht mehr da; oder noch genauer: war nur als Vorstellung vorhanden, das heisst nicht so real, dass ich mich anwesend darin fühlte. Weitaus realer war etwas, das ich noch nicht kannte und das mich in Staunen versetzte: das Gefühl Grün. – Das ist – so ist – das also ist Grün!

Dasselbe Gefühl, diese selbe Stille, als ich da so wundersam entspannt – zum letztenmal im Strafraum – an Frau Doktor angelehnt saß –

und was war denn das nun?:

uf einem grüenen achmardi truoc si den wunsch von pardis

Dass Ingrun diese Andeutung in Richtung Gralsgeschichte gemacht hatte und dass an der einzigen Stelle, die ich wörtlich von Wolfram’s Parzifal-Epos noch erinnerte, dieser grüne Stoff vorkommt, der achmardi … Woran ich mich wohl deshalb so deutlich erinnern konnte, weil ich früher immer wieder über die Paradiesgeschichte nachgedacht hatte und schliesslich das in diesem wunsch von pardis las: dass nicht nur der Mensch selbst nach Rückkehr ins Paradies verlangt, sondern dass genauso auch dieser Wunsch von pardis, vom Paradies, vom Himmel ausgeht; dass also in der Grundsatzfrage, wohin die Große Reise gehen soll, das menschliche Wollen gar kein anderes als das göttliche ist. Warum ich das so tröstlich fand? Warum es mich sogar – jetzt, hier, an Frau Doktor angelehnt – unbeschreiblich glücklich machte? Ich weiss es nicht.

Erinnerst du dich?

Nur dass ich dich kenne; nicht, woher. Und dass ich nicht ich bin; nicht aber, wer.

Gut so, das reicht erstmal vollkommen. Vergiss es nicht. Dann von aussen, dicht an meinem Ohr: „Bist du wieder da?“ Ich nickte, löste mich von ihr; bekannte leise: „Meine Güte, das hab ich wohl gebraucht …“ Wir erhoben uns, standen uns gegenüber, und sie sagte: „Vor allem habe ich das gebraucht, für mich. War ‘ne verdammt harte Zeit mit dir.“

Draussen dämmerte es nun und an den Tischen in der Bibliothek gingen nach und nach die Leselampen an. Plötzlich in dieser Grünstille, dachte ich. Dann von Ingrun auf den Gral gebracht. Dann am Ende bei Frau Doktor dieser wunsch von pardis

Wenn auch dieser ganze Zusammenhang nur auf Zufall beruhen soll, bin ich wirklich nicht mehr zu retten.

Endlich glitt mein Blick nicht mehr durch den Text hindurch, sondern folgte jetzt den Zeilen, sodass ich allmählich erfassen konnte, was da stand:

Das Mißfallen an mir selbst und dem, was mich umgibt, hat mich in die Abstraktion hineingetrieben; ich suche mir die Idee eines unendlichen Progresses der Philosophie zu entwickeln, ich suche zu zeigen, dass die unnachlässige Forderung, die an jedes System gemacht werden muss, die Vereinigung des Subjekts und Objekts in einem absoluten – Ich oder wie man es nennen will – zwar ästhetisch, in der intellektualen Anschauung, theoretisch aber nur durch eine unendliche Annäherung möglich ist, wie die Annäherung des Quadrats zum Zirkel, und daß, um ein System des Denkens zu realisieren, eine Unsterblichkeit ebenso notwendig ist, als sie es ist für ein System des Handelns. Ich glaube dadurch beweisen zu können, inwiefern die Skeptiker recht haben, und inwiefern nicht.

Und ich traute meinen Augen kaum, las es nochmal und nochmal, und nochmal: Denn was ich da vor mir hatte – in einem Brief Hölderlins aus dem Jahre 1795 an Schiller –, war doch die denkbar exakteste Beschreibung des Tautoloids!

I.10

Eine Runde mit Lemm

Im Regierungspalast ist heute zur Abwechslung mal richtig was los, zumindest in diesem Trakt des Gebäudes; regelrecht ein Gesumm in der Eingangshalle, Leute im Eilschritt, Leute beieinander stehend, munter debattierend; auch auf den Treppen und oben entlang der ganzen Galerie. Das Verstaubte, Düstere, die ganze Atmospäre der Verlassenheit, die hier normalerweise lastet, ist wie weggeblasen. Ich nicke grüßend da- und dorthin, Kollegen zu, die ich schon mal gesehen zu haben meine, und entnehme dem, was ich unterwegs zu meinem Büro an Geprächsfetzen aufschnappe, dass anscheinend in ganz Babaal seit nun schon vierundzwanzig Stunden die Stromzufuhr stabil ist.

Ich will mich nicht ablenken lassen, will von all dem, was ich dauernd vergesse, das Wichtigste wenigstens festhalten, so wie es mir eben beim Frühstück in der Bar gekommen war: Nicht vergessen, dass ich andauernd vergesse! – Das ist ja wohl – sag mal, bist du blöd? Ich lache: Weiss ich noch nicht; ist erst zu beurteilen, wenn ich mich besser erinnere; wenn es ist, wie ich hoffe: dass es nur das Schell-Etikett ist, was mir das Gedächtnis verklebt, und dass es, da es sich schon loszulösen angefangen hat, sich auch weiter abziehen lässt.

Die Aufgabe, die vor mir liegt, lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Der offizielle Teil: Detective Brains aufstöbern. Wobei meinem Vorgesetzten Paley nicht wirklich daran gelegen ist, wie ich vermute; nur daran, dass es mir nicht gelingt, sodass er einen Anlass hätte, mich wegen Versagens aus der Abteilung auszusondern. Der inoffizielle Teil: Monton Flyrie aus Bangot herauszuhelfen. Doch um von hier nach Bangot zu finden, würde ich Brains’ Hilfe brauchen. Ausserdem habe ich hier noch den jungen Lemm einzuarbeiten, als meinen Nachfolger; vorher kann ich hier nicht weg.

Vor lauter Schwung halte ich gar nicht, wie sonst, respektvoll inne vor der hohen dunklen Tür, sondern bezweifle keine Sekunde, dass sich dahinter mein chaotisches Büro befindet. Und weil ich da also eintrete, ohne daran irgend etwas zu bedenken, ist es auch tatsächlich so. Nur habe ich nicht erwartet, dass jemand am Schreibtisch sitzt – der junge Lemm – und dass da der Computer läuft. „Tag, Lemm. Monalisa nicht da?“ „Nö.“ „Sehr gut. Woher hast du die Zugangsdaten?“ „Verstehe nicht.“ „Um da reinzukommen“, ich deute auf den Computer, „Passwort und so.“ „Ähm, wer braucht sowas?“ „Braucht man gar nicht? Ach …“ „Aber ist wirklich ein Witz, das Netz hier.“ „Nicht mehr lange. Wie es aussieht, gibt’s Fortschritte in der Stromversorgung.“ „Nur ist die ja nicht das Problem.“ „Nicht? Dachte ich immer.“ „Deebee hat hier stark investiert in den letzten paar Jahren. In Windkraft, Sonne, was weiss ich; Energie ist längst genug da.“ „Deebee?“ „Deadler/bloom. Buttert Geld hier rein, seit sich die Chinesen auch für diese Inseln interessieren.“ „Du hast dich informiert, Lemm … Hey, und bist mit dem Ding jetzt etwa online?“ „War ich kurz; bis wieder Schluss mit der Verbindung war.“ „Was treibst du dann?“ „Versuche, was zu schreiben. Gedanken. Sollte ich mir doch machen, sagten Sie.“ „Sagte ich? Kann sein. Lies vor.“ „Hab bis jetzt nur den Titel: Banal wie existentiell.“ „Komischer Titel.“ „Ist von Ihnen. Frage, was das heissen soll. Ob existentiell wie banal das gleiche bedeuten würde.“ „Ob existentiell wie banal genauso banal wie existentiell ist? Klingt nach Schwachsinn. Oder soll das was Philosophisches werden?“ „Eher nicht. Geht um den Elektromagnetismus. Warum der in Andria nicht so funktioniert wie sonstwo auf der Welt.“ „Das ist interessant, Lemm. Darüber halte mich bitte auf dem Laufenden. Ansonsten – wie geht’s mit dem Entzug? Dem Netz-Entzug meine ich.“ „Kein Problem. Bin nicht erweitert. Nicht mehr.“ „Erweitert?“ „Modifiziert. So wie Monalisa. Die ist mit Implantaten vollgestopft, gechipt und alles. Hat unglaubliche Möglichkeiten. Nur hier, ohne Netz, natürlich nicht.“ „Deshalb kam die mir auch gleich so posthuman vor … Und warum du nicht?“ „Nicht jeder verträgt so Implantate. Epilepsie und so weiter. Hab mir alles wieder rausmachen lassen.“

Ich sage mit einem Rundblick über das Chaos: „Unsere Top-Priorität heisst Aufräumen, und entweder bedienen wir uns eines Schredders oder wir machen auf sportlich und schleppen alles zur Vernichtung in den Keller. Aber einen so schönen Tag wie heute sollten wir nicht damit vertun; und da du sowieso baldigst mit Babaal vertraut werden solltest, drehen wir jetzt erstmal eine Runde.“

„Gestern habe ich dir gedroht, du müsstest viele Bücher lesen. Blödsinn, musst du nicht. Wichtiger ist, du schaust dir die Insel an; und nicht nur diese hier, die größte; auch die kleineren Inseln sind interessant. Zum Beispiel von Fair Island schon gehört?“ „Die Trauminsel.“ „Genau. Wo die Hotels Shambala oder Ocean Park oder The Regent heissen. Heile Welt, ein Paradies der Reichen. Gepflegtes High Life, intakte Park-Natur. Idyllisch, sauber, sicher. Pure organic. Beliebt bei Tauchern, bei Atlantis-Forschern, Walfisch-Guckern und Gourmets. Musst du unbedingt mal hin. Auch wenn du Hochkultur brauchst – da gastiert die Oberliga, des Jazz und auch der klassischen Musik. Doch zu Fair Island das Kontrastprogramm, nämlich ein Besuch auf Konkju oder Antaros, ist auch sehr lehrreich, da gibt’s Tourismus auf brutal, die All-inclusive-Masse: Fast Food, Club-Kultur, Müll und Kriminalität. Interessant ist vor allem aber Lavienta, die entlegendste der Andrianen. Die Doppelgesichtige genannt; quasi das Hollywood von Andria. Übrigens die einzige Insel des Archipels, die Livermore nicht beschrieben hat; die er nur flüchtig erwähnt. Ach ja, das Andria-Buch von Linval Livermore, das allerdings musst du lesen. Und das werden wir dir jetzt besorgen.“

Wir sind jetzt auf Babaal’s Prachtstraße, der breiten, sehr langen Avenida Etyma. Ich steuere einen der Zeitungskioske an. „Den Binocle, bitte.“ „Bedaure“, entgegnet der Verkäufer. „So ist das mit dem Binocle“, sage ich zu Lemm, „so gut wie immer ausverkauft. Dann muss uns wohl der Tag reichen.“ Der Verkäufer grinst und ich nehme ein Exemplar der Tageszeitung vom Stapel. Im Weiterschlendern erläutere ich: „The Bright Day, den gibt’s immer, hier und überall auf den Inseln. Der spiegelt wider, wie Andria aus Sicht des Bürgertums sein sollte: fortschrittlich, aufstrebend, seriös. Das Wochenblatt hingegen, The Binocle, wird vom Fußvolk gelesen, und das will wissen, was der Tag verschweigt, und will vor allem sich vergnügen. Wenn du’s öde willst, liest du also den Tag, und den Binocle, wenn du’s lustig möchtest; nur ist der eben immer sehr schnell weg.“

Das Flirten gehört für Andrianer so zum Alltag, wie für die Online-Menschen anderswo der Blick ins Smartphone. Als ich bemerke, dass Lemm auf die Frauen, die uns anflirten, kein bisschen reagiert, sage ich: „Monalisa, die ist ja recht hübsch. Findest du sie eigentlich anziehend?“ „Sexuell, meinen Sie? Nein. Ich bin asexuell.“ „Ach –“ da wäre ich fast stehen geblieben. „Das behaupte ich ja auch immer gern von mir. Aber du? In deinem Alter?“ „Weiss nicht, was Sie meinen.“

Wir sind vor einer Buchhandlung angekommen. „Hier geh ich mal kurz rein. Siehst du den, der da an der Ecke Avocados verkauft? Der hat die guten, die’s nicht alle Tage gibt. Hol uns bitte zwei davon. Hast du Andria-Dollars?“ Lemm nickt.

In der Buchhandlung frage ich nach dem Andria-Buch von Linval Livermore. Die Verkäuferin zieht es sogleich aus dem Regal. Ich schüttle leicht den Kopf. „Haben Sie es?“ Und sie versteht. Nämlich dass ich keines von den neuen will, das heisst keins von der bereinigten Sorte, von der jeder Buchladen in Babaal jede Menge vorrätig hat. Für Lemm brauche ich ein Exemplar der alten, der Original-Version. Die ist zwar nicht direkt verboten worden, nur verschwand sie einfach irgendwann und wurde durch die neue Version ersetzt; und nach einem alten Exemplar zu fragen, ist inzwischen eine heikle Angelegenheit. Ich kenne die Buchläden von Babaal und mehr oder weniger auch deren Besitzer und ihre Angestellten; sodass es nicht lange braucht, bis das Schwätzchen, das ich mit der Verkäuferin halte, an den Punkt kommt, wo die in Andria allseits beliebte Floskel angebracht ist: „Sind wir nicht alle Patrioten?“ Worauf dann der Witz folgen kann, der nun auch hier folgt: „Besonders alle.“ Sowie darauf der Zusatz: „Und ganz besonders nicht alle.“

Wir grinsen uns an und sie verschwindet; kehrt nach einer kleinen Weile zurück und überreicht mir ein als Geschenk verpacktes Buch. Ich bedanke mich, bezahle das andere, das neue, und während sie es ins Regal zurückstellt, wünschen wir uns einen schönen Tag.

Als ich herauskomme, steht Lemm da mit zwei Riesenavocados in den Händen, und wie er die so mit angewinkelten Armen in Brusthöhe hält, muss ich lachen. „Mein lieber Lemm, das sieht aber gar nicht asexuell aus!“ Er wirkt kurz verdattert, dann: „Soll ein Witz sein? Okay, verstehe.“

Wir spazieren weiter. „Die Andrianer sind große Patrioten, muss man wissen. Allerdings ist ihr Patriotismus recht speziell; nur zu verstehen, wenn man etwas über den hiesigen Royalismus weiss, wenigstens das Grundlegende.“ Ich klopfe auf das verpackte Livermore-Buch. „Nur können wir nicht warten, bis du das gelesen hast. Denn wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Und ich denke: Deshalb muss ich ihn baldigst in den Royalist Club einführen.

„Zeit? Bitte um Erklärung, Chef.“ „Chef? Das ist witzig, Lemm! Ist dir das klar?“ „Äh, nee – das nennen Sie witzig?“ „Weil ich als Chef sowas von nicht der Chef bin. Aber egal; und egal auch, warum uns nicht viel Zeit bleibt. Worauf’s ankommt ist, dass du schnell kapierst. Nicht nur, was Real-Technik überhaupt ist, sondern auch, wie man sie handhabt.“

Ich schwenke das Buch vor und zurück. „Worauf wir wandeln – solche schönen langen Prachtstraße gibt’s ja so in aller Welt –, heisst hier Avenida Etyma. Wichtig daran: du kannst sie auch anders nennen. Aber nicht irgendwie anders; nur so, dass der Name, den du ihr gibst, möglichst genau besagt, was du von ihr erkennst: was für dich ihr Wesen ist.“ Ich deute hinter uns. „Dieser Berg da in der Ferne, mit der Spitze in den Wolken, ist der Ras Azuma. So nennen die Leute ihn; auf der Landkarte heisst er Mount Malvalo. Und diese Avenida ist der letzte Abschnitt einer geraden Linie zwischen der Bergspitze dort und einer Stelle da –“ ich deute nach vorn, die Avenida hinunter –, „wo du am Ende das Denkmal siehst.“

Lemm starrt suchend in die gewiesene Richtung. „Sehe aber kein Denkmal.“ „Irgendwas siehst du doch, oder?“ „Ein paar Palmen – und dann nur noch das Meer.“ Ich nicke. „Denk einfach mal: Meer.“ „Ach so, denk mal – klar. Was heisst Etyma?“

„Merk dir die Frage. Ganz unermesslich übrigens, was ich über Babaal, überhaupt über Andria, nicht weiss. Daran erkennt jeder eingeborene Andrianer immer auf Anhieb den Fremden. Denn egal wie tief man hier auch eintaucht, wenn man Andria nicht schon mit der Muttermilch in sich aufgenommen hat, bleibt man immer einer von auswärts. Dabei ist die Rolle, in der man hier auftritt, erstmal gar nicht entscheidend; was vielmehr zuallererst geprüft wird, ist: Weisst du um das Besondere von Andria? Weisst du, dass es ein Geheimnis gibt? Erst wenn die Leute das entschieden haben – und das geht blitzschnell bei denen – differenzieren sie: Gehörst du zu den Ausnutzern? Oder bist du einer von denen, die hier lernen wollen? Und in beiden Fällen ist die nächste Frage: Weisst du es selber? Das heisst bist du dir der Ausnutzerei oder andererseits des Lernenwollens bewusst? Oder bist du überhaupt ein Ahnungsloser? Dementsprechend nämlich begegnen sie dir. Mach dir das klar, Lemm. Sonst wunderst du dich, falls du hier Ärger bekommst.“

Ich lege eine Pause ein. Ob er das soweit verstanden hat? Ich muss lachen – wie er mit diesen beiden riesigen Avocados seine liebe Mühe hat. So in jeder Hand eine, sieht es aus, als ob sie ihn im Gleichgewicht halten.

Wir sind jetzt in einer kleinen Seitenstraße. „Hier haben wir so einen typischen babaalianischen Trödelladen, eine Art Pfandleihe. Hier kann man loswerden, was man für wertvoll hält. In der Regel sehr enttäuschend, was man an Geld dafür bekommt. Aber selten, dass man in solchen Läden nichts interessantes findet.“

Ich brauche eine Weile, bis ich in der Masse von zusammengewürfelten alten Dingen das hutzelige Mütterchen entdecke, das den Plunder bewacht. Ich nicke ihr zu. „Nur mal –“, „Jaja“, krächzt sie, „immer nur gucken, nix kaufen.“

Und schon werde ich fündig: Der Säbel!

Ich nehme ihn aufs genaueste in Augenschein: Wirklich der Säbel? Der historische, der im Refugium Studierzimmer an der Wand hing? Nicht nur erkenne ich gewisse markante Scharten an der Klinge; auch taucht, sobald ich den Blick unscharf stelle, das Gegenbild dieses Objektes vor meinem geistigen Auge auf: die Vogelfeder; und damit finde ich mich sogleich in einem der alten Refugien wieder: im Hotel Olympia.

Bin allein dort in dem hohen Zimmer. Sommerhitze; grelle Helligkeit zwischen den Lamellen der geschlossenen Fensterläden; und auch alles übrige wie immer; Siesta-Atmosphäre. Da auf dem Tisch, sehr einladend, die Schreibmaschine. – Halt! Verlier dich nicht. Kehr nach Babaal zurück. Und es funktioniert; sogar ohne dass ich die Vogelfeder erst fixieren muss. Schon habe ich den alten Säbel wieder vor mir.

„Was soll denn das sein?“, höre ich Lemm fragen. Er steht, mit den Avocados in den Händen, über ein Glaskästchen gebeugt.

Ich staune: „Eine A-Kapsel – na sowas!“; blicke zu der Alten hinüber: „Ist die verkäuflich?“ „Teuer, teuer! Hundert Dollar“, gibt sie zur Antwort. Ich strecke ihr umgehend einhundert Andria-Dollars entgegen; doch da rümpft sie nur die Nase. „Merika-Dollar.“

„Hast du US?“, frage ich Lemm. Hat er. Und nachdem sie den US-Dollar-Schein, den er ihr reicht, eingehend geprüft hat, öffnet sie das Kästchen. Ich hole die kleine Kapsel heraus und halte sie Lemm vor die Nase. „Ist jetzt deine. Ich bewahre sie nur erstmal für dich auf.“ Worauf er nur mit den Achseln zuckt. „Brauch ich die?“ „Wer weiss.“ Wir verlassen den Laden.

„Kaum in Andria, schon bist du im Besitz einer A-Kapsel! Das ist großartig.“ „Wieso A? Was macht man damit?“ „A wie Azuma. Weil solche Dinger im Zusammenhang mit dem Mythos von König Azuma eine Rolle spielen. Demnächst – falls uns noch Zeit bleibt – fahren wir mal in die Berge, da gibt’s so einen alten Knacker, Heimito Wunschel, der ist in Sachen Azuma der Kenner schlechthin; weiss bei weitem mehr als ich darüber, und auch mehr noch“, ich klopfe auf das Livermore-Buch, „als hier drinsteht.“

Und was mir noch mehr die Laune hebt: dass ich den Säbel gesehen habe; also jetzt wenigstens von einem der fünf Objekte aus dem Studierzimmer schon mal weiss, wo es gelandet ist, konkret – was mir bestätigt, dass jenes Refugium nicht nur in meiner Einbildung existiert hat; und vor allem mir den Verdacht bewahrheitet, dass ich das Studierzimmer einfach deshalb nicht mehr wiederfinde, weil es sich aufgelöst hat und mir nun an Stelle dessen nur immer das chaotische Büro im Regierungspalast zur Verfügung steht.

An dieser Stelle wollen wir nicht verschweigen, dass es Andria wirklich gibt. Nur schieben sich in der Beschreibung dieser Inseln Erinnerungen an andere Inseln auf eine Weise vors geistige Auge, dass da verschiedene transparente Schichten zu einem einheitlichen Tableau werden, welches alles, was darunter an Realem liegt, vollständig überdeckt.

Wenn man einmal kennt, was Linval Livermore als den „besonderen andrianischen Zustand“ beschrieben hat – den Sightwise Accord, wie er ihn nennt, den Sichtweisen Einklang –, wenn der einen nicht mehr erschreckt, er einem vertraut geworden ist, dann kann man ihn im Grunde überall erleben, auch fernab von Andria. Doch Vorsicht, diese Erlebensweise ist untrennbar mit der sogenannten Triade verknüpft …

„Lemm, du weisst, dass es in Andria spezielle Geister gibt?“ „Hab nur von so ‘nem Dämon gehört.“ „Das ist der Schutzgeist Andrias, und der ist dreigestaltig, besteht aus Lug Imago, Maya Tongue und Nominah. Wenn diese drei ihres natürlichen Zusammenhangs entbunden sind und einzeln ihr Wesen treiben, dann wirken sie dämonisch; können gar nicht anders. Dann führen sie die Unvorsichtigen auf Abwege, indem sie sie die einfachste aller Tatsachen vergessen lassen: dass die Welt zwar für uns alle wahr ist, jedoch für jeden einzelnen auf verschiedene Weise. Sodass man, wenn man unvorsichtig ist, nur noch die Welt, die man selber wahrnimmt, für wahr hält.“

„Wie kriegt man das mit? Solche Wesen stellen sich einem doch wohl nicht vor.“

„Jedes dieser drei erkennt man daran, dass es in irgendeiner Form Schutz anbietet vor den beiden anderen. Denn sie wissen nicht, dass sie zusammenwirken. Sie haben nämlich gar kein Eigenleben, kein Bewusstsein ihrer selbst, sie tun nur so; und wenn sie sich auch wissend geben, so sind sie eigentlich doch dumm.“

„Verstehe, wie KIs“, sagt Lemm. „Oder sind’s KIs?“

„Metaphern, Metaphern, was immer man sagt … Ich schlage vor, wir gehen Mittagessen. Gleich hier um die Ecke haben wir die Bar Quijote.“

Diese Bar ist ein Schauplatz, und zwar für eines der Lieblingsspiele der Andrianer: In der vage nachempfundenen Szene aus irgendeinem berühmten Film beginnt einer, in der Regel ohne Ansage, eine bestimmte Rolle zu spielen, und wer den entsprechenden Film zu erkennen meint, steigt darauf ein, wenn er Lust hat; und es wird gespielt, bis klar ist, ob die Beteiligten denselben Film vor Augen haben oder jeder einen anderen, oder ob man dabei vielleicht schon in einen Streifen geraten ist, an den noch keiner der Beteiligten gedacht hat, oder der womöglich noch gar nicht gedreht wurde.

Ich begrüße den Chef der Bar und erbitte ein Messer, zwei Teller und zwei Löffel, sowie Salz und Pfeffer. „Und dieses Prachtexemplar ist für Sie, Don Miguel.“ Damit überreiche ich ihm eine der Avocados. „Der junge Mann hier übrigens heisst Lemm.“ Darauf Miguel nur finster: „Lemm.“ Und ich zu Lemm: „Nimm’s nicht persönlich. So ist Miguel. Hat einfach keine freundliche Seite. Muss man sich mit abfinden.“

Wir verziehen uns ans leere Ende des langen Tresens, wo wir ungestört nun das andere Prachtexemplar verspeisen, während ich Lemm weiter über den andrianischen Royalismus informiere, den Royalist Club genauer gesagt:

„Den gibt’s schon seit drei- oder vierhundert Jahren, seit Anfang der Kolonialzeit. Immer eine politisch neutrale, allseits respektierte Institution, der es nie um etwas anderes ging, als die andrianische Identität im Auge zu behalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als auch Andria sich langsam zu modernisieren begann, ging’s mit der Diffamierung los. The Bright Day erwähnte die Royalisten grundsätzlich nur noch mit dem spöttischen Zusatz: die Ewig Gestrigen. Dann verschärfte sich der Ton, man bezichtigte sie einer undemokratischen Gesinnung, und es dauerte nicht lang, da warfen Politiker und Day-Journalisten ihnen antidemokratische Umtriebe vor. Dabei hatte sich der Club keineswegs politisiert; war genau das geblieben, was er schon immer war: der Kulturverein, der das Gedenken an den legendären König Azuma pflegte. 1967 deckte man eine sogenannte Verschwörung zum Sturz der Regierung auf, hinter der, nachweislich wie es hiess, die Royalisten steckten; sodass man ihren Club endlich per Gesetz verbieten konnte. Wodurch seine beträchtliche Anhängerschaft sich natürlich nicht in Luft auflöste.“

„Der Royalist Club ist also die hiesige Untergrund-Organisation?“ „Sagen wir so: Die Royalisten sind wie eh und je am Werke, nur heutzutage sehr diskret; das heisst sie sind auf ihre ganz eigene Weise patriotisch.“ Lemm nickt vor sich hin. „Weiss nicht, ob ich das verstehe.“

„Die Avocado schmeckt dir aber, oder?“ „Die ist wirklich gut. Aber von dieser einen Hälfte bin ich schon pappsatt.“ „Ja, von so einer reicht eine Hälfte immer. Merk dir in puncto Patriotismus einfach: Jeder Andrianer sieht sich als Patriot. Aber man prüft sich gegenseitig: Wie ist einer Patriot? Demokratisch oder royalistisch? Offiziell oder inoffiziell? Wobei die Königstreuen, vereinfacht gesagt, unter Demokratie Diktatur verstehen, während für die Demokratie-Fans natürlich das Königreich die Diktatur wäre.“

„Ganz schön verworren“, findet Lemm, „das heisst – eigentlich auch nicht verworrener als zuhause.“ „Falls du mit zuhause Deutschland meinst, kommt da ja sogar noch das Gendern hinzu. Nicht nur frau, auch man weigert sich inzwischen, unter beispielsweise Patriot gleichzeitig auch Patriotin zu verstehen; was ja wissenschaftlich korrekt ist, nur kriegt die Sprache davon so hässliche Pickel beziehungsweise Pickelinnen.“

„Das war jetzt wieder ein Witz, oder?“ „Ein Witz, allerdings.“

Wir verlassen, unter Miguel’s finsterem Blick, die Bar Quijote, und ich bin, während ich uns auf die Etyma zurücksteuere, unschlüssig: Ins Nationalmuseum? Das muss der Junge sehen, klar; doch soll er erstmal Livermore’s Buch lesen, dann hat er mehr davon; dann kann er sich da auch allein umschauen. Wichtiger ist, dass ich ihn Dima vorstelle … Seit ich mich allerdings in dem Wandspiegel hinter Miguel’s Tresen gesehen habe, bin ich mir wieder meines ungepflegten Äusseren bewusst. So unrasiert, so zerzaust und angeschmuddelt kann ich Dima nicht vor die Augen treten; solche Verwahrlosung toleriert sie nicht. Wütend würde sie mich sofort unter die Dusche stellen. Und Lemm hätte von ihr den Eindruck einer Furie.

Wir sind nun hier am Ende der Etyma, da wo sie sich zu einem großen Platz weitet. Ich deute auf die hohen Palmen in der Mitte: „Da stand früher das Denkmal von Andrias Entdecker. Man wurde sich aber nie einig, wer das nun wirklich war, und während irgendeiner Revolution wurde es schliesslich abgerissen. Ein vernünftiger Kompromiss, denke ich, denn dass hier anfangs nur Piraten anlandeten, weiss im Grunde jeder.“

Man kann hier, am sogenannten Platz des Entdeckers, unter den schattigen Bäumen ringsum, wie in Europa, sehr angenehm guten Kaffee trinken. „Schöner Platz, oder?“ „Kenne ich schon. Weil da drüben wohne ich.“ Lemm nickt in Richtung des großen Hotels, dessen unübersehbare Pracht würdig das Halbrund des Platzes gegen die Uferpromenade hin abschliesst. „Du wohnst im Harbour View?“ Babaal’s teuerstes Hotel. Ich staune; hatte wie selbstverständlich angenommen, dass er in irgendeinem preiswerten Guest House untergekommen sei. „Im vornehmsten Haus der Stadt, so so … Wie kommt’s?“ „Mach ich immer so. Buche einfach das Teuerste. Erspart mir die Sucherei.“ „Ach so … Na klar. Setzen wir uns.“ Nicht nur übernachtet der mal in sowas wie dem Harbour View, nein, der wohnt auch gleich da … Und nachdem ich ihn schon zweimal abgeschüttelt habe, findet er mich sogar im fernen Andria wieder … Komischer Vogel; und auch noch asexuell, wie er behauptet … Wird Zeit, sage ich mir, dass du dich mal für ihn interessierst. Denn ob er dir hier nun ein drittes Mal lästig wird, hängt ganz von dir ab.

Wir nehmen also vor einem der Cafes im Schatten der Bäume Platz.

„Lemm, erzähl: wieso bist du Praktikant?“ „Ihr Typen vom Flyshwerk nennt mich so. Weil ihr jeden nach Status einordnet.“ „Du meinst, das ist für dich, äh –“ „Irrelevant.“ „Ach so. Was interessiert dich am Flyshwerk?“ „Wie’s funktioniert. Weil sonst die Spiele nur was weiss ich sind – Zeitvertreib oder so.“ „Reicht dir nicht.“ „Nö. Bin damit aufgewachsen. Spielen kann ich sie. Auf jedem Level. Wie sie entstehen interessiert mich. Und wozu.“ „Warum deswegen gerade ins Flyshwerk? Gibt doch viele andere Hersteller.“ „Vielleicht weil ich als kleiner Stöpsel mit Azuma marooned angefangen habe“, er zuckt die Achseln, „und mir deshalb auch später die Flyshwerk-Spiele immer am liebsten waren.“ „Aber dich dann ausgerechnet an mich dranzuhängen – gibt im Flyshwerk doch wirklich interessantere Kreatoren. Oskar Pamir zum Beispiel. Der hat Format.“ „Bei dem war ich auch. Nachdem Sie mich das erste Mal abgeschüttelt hatten. Aber was Pamir macht, hat alles sowas Grandioses.“ „Ja, stimmt“, sage ich, „etwas Erhabenes, Unerreichbares. Sein Ideal ist das Perfekte.“ „Sodass man in seinen Realen immer irgendwie der Doofe ist. Und auf der persönlichen Ebene weiss er absolut nicht, was für ein Blödmann er ist.“ Ich lache laut heraus: „Pamir ein Blödmann? Dieser Gigant? Gibt doch gar keinen Gebildeteren als Oskar Pamir!“ „Ja, davon ist er vollkommen überzeugt. Deshalb wird man in seinen superklugen Realen als Spieler letztenendes nur dumm. Und ich war auch bei Götz Kobalt im Praktikum. Nachdem es Ihnen gelang, mich auch ein zweites Mal abzuschütteln. Bei Kobalt ist die Action, klar, und die ist auch genial bei ihm; gibt nirgendwo bessere; ist aber eben nur das: Action. Nur Leerlauf im Grunde. Dabei ganz okay, der Typ, nicht ganz so ein Blödmann wie Pamir. Im übrigen bin ich selber ein Blödmann.“ „Und ich?“ „Sie auch, Schell.“ „Das heisst du hältst uns alle für blöd.“ „Ich halte das inzwischen für die vernünftigste Prämisse, um über die Blödheit hinauszukommen.“

„Du sprichst jetzt so ganz anders, Lemm.“

Worauf er nickt. „So nett wie heute waren Sie noch nie zu mir, Herr Schell. Find ich gut.“ „Bitte entschuldige, dass ich solange dazu gebraucht habe. Wieso hast du nie was gesagt?“ „Hatte nie den Eindruck, dass Sie interessiert, was ich sage, oder weiss, oder wer ich bin. Bei Kobalt und Pamir dasselbe; sodass ich mir dachte, nicht zuzuhören scheint für Kreatoren normal zu sein.“ „Ich staune nur noch … Verstehe zum Beispiel, dass dir ja der ganze Azuma-Komplex schon bestens bekannt ist.“ „Nur auf der Spiel-Ebene, nur theoretisch. Wusste nicht, dass es all das, was ich aus dem Spiel kenne, wirklich gibt; dass es dieses Andria überhaupt wirklich gibt; oder dass sowas wie zum Beispiel die Azuma-Kapseln konkret tatsächlich existieren.“ „Deshalb sind Sie hier, Lemm –“ „Du.“ Er blickt mich scharf an.

Ich straffe mich. Verstehe: er für mich du, ich für ihn Sie, dabei sollten wir bleiben. Denn so ist es perfekt: der zerstreute Hilfskreator und sein traniger Praktikant. Von solch einem Duo ist nichts zu befürchten. Ich lehne mich wieder zurück, schaue herum, tue so als suche ich den Faden eines Gesprächs, das mich nicht sonderlich interessiert. „Nur verstehe ich noch nicht, was dich an ausgerechnet meiner Arbeitsweise interessiert.“ „Das Unfertige. Da bleibt in Ihren Realen immer etwas in der Schwebe, als seien sie alle unfertig, und das sind sie ja wohl auch; sodass ich jedesmal, wenn ich da aussteige, besser drauf bin als vorher, und Lust habe, selber irgendwie daran weiterzumachen.“ „Das ist allerdings ein großes Kompliment. Danke, Lemm.“

Praktikant! – Wie konnte ich nur diesen Kerl so unterschätzen? Was ich an ihm für schlaffe Tranigkeit gehalten habe, für allgemeines Desinteresse – nur weil ich eigentlich von ihm nie etwas wissen wollte! Niederschmetternd geradezu, was ich vor lauter Arroganz für ein Idiot bin!

„Stört mich übrigens nicht, als Depp behandelt zu werden. In dem Zen-Kloster, in dem ich mal ‘ne Zeit verbrachte, wurde auch jeder als Depp behandelt; bis man wusste, warum, und es einem egal war. Bei den Sufis, habe ich gehört, gibt’s eine ähnliche Tradition. Und so dachte ich mir, es könnte ja auch im Flyshwerk üblich sein, die Praktikanten erstmal Demut zu lehren; und die, die’s nicht lernen, ist man dann schon mal los.“

„Um ehrlich zu sein, hast du mich einfach nur genervt. Dass man dich benutzt, mich auszuspionieren, dachte ich. Da war’s im Flyshwerk nämlich längst schon so, dass man niemandem mehr trauen konnte.“ „Ja, hab ich gemerkt, in puncto Paranoia läuft’s im Flyshwerk wie in jeder andern Großfirma. Sehr unangenehm.“ „Warum dann mutest du’s dir zu? Wie es aussieht, bist du doch ganz gut bei Kasse.“ „Wegen der Erweiterung. Die ist sehr teuer. Man kann sie von einer der Tech-Firmen bekommen, klar, aber wenn man diese krassen Verträge nicht will, muss man sie natürlich selber bezahlen. Hab deshalb so Ketten aufgebaut, Gastronomien und Autowaschanlagen, und mit der Kohle davon konnte ich einsteigen; und mit zunehmender Erweiterung wurde das Geldmachen natürlich immer leichter. Immobilien, Aktien, Vermarktung von Start-ups.“ „Sagtest du nicht –?“ „Dass ich die Implantate nicht gut vertragen habe. Dass ich sie mir habe rausmachen lassen. Und ungefähr so teuer wie die Erweiterung, war es auch, sie rückgängig zu machen. Doch da war ich mit dem Geld schon an dem Punkt, wo’s nicht mehr weniger, sondern nur noch immer mehr wird.“ „Und nebenher warst du bei mir der doofe Praktikant … Unglaublich, Lemm.“

Ich winke dem Kellner und bestelle einen zweiten Kaffee; während Lenn offenbar an seinem Glas Wasser genug hat.

„Woher wusstest du, dass ich mich nach Babaal habe versetzen lassen?“ „Wusste ich nicht.“

Ah – schon wieder! Habe immernoch nicht begriffen, dass es gar nicht um mich geht. „Hatte nicht vor, Ihnen ein drittes Mal lästig zu werden. Hat sich nur so ergeben.“ „Doch nicht zufällig!“ Lemm zuckt die Achseln. „Als ich im Praktikum bei Kobalt war, hiess es, das Flyshwerk sei verkauft, sei von der Moonrow übernommen oder in irgendwas noch Größeres eingegliedert worden; hätte inzwischen jedenfalls seine Zentrale verloren. Was Kobalt allerdings nicht glaubt; er ist überzeugt, die hätte sich nur still nach woandershin verlagert und sich abgeschottet. Fand ich plausibel; und dass er meinte, da sei nun unmöglich noch reinzukommen, hat mich natürlich gereizt. Hacke mich da also rein, und das war nun wirklich nicht leicht. Bin auf härtestes Ice gestoßen. Ohne Monalisa’s Hilfe – weiss nicht, ob ich’s überlebt hätte.“ „Weil die erweitert ist.“ „Ja, und Wahnsinnsmengen verarbeiten kann.“ „Aber du weisst, dass um nach Babaal zu kommen gar keine Rechenleistung nötig ist?“ „Tja, wenn man das Ziel kennt. Nur wussten wir ja nicht, wo es tickt, das Ding; wussten nichts von Babaal, ich meine dass es das in echt gibt. So ein Online-Spiel wie Flysh ausgerechnet von einem Funkloch aus zu steuern – wer kommt denn auf sowas?“ „Ist ‘ne Story für sich.“ „Denk ich mir. Jedenfalls war uns klar, dass wir nicht in den Kern eindringen, ohne dass sie uns erwischen.“ „Und dass du hier sitzt heisst, sie haben euch nicht rausgeschmissen, sondern euch ein Angebot gemacht: Ihr dürft euch weiter in den Kern hineinbohren und dafür informiert ihr uns; oder auf kurz: Praktikum im Regierungspalast.“ Worauf Lemm nickte.

„Der Informant. Gratuliere, Lemm. In der Rolle bist du wirklich gut.“ Und ich denke: Der kennt im Flyshwerk längst die alten und auch ältesten Schichten, vielleicht sogar die Mayer-Tong-Ebene … Ich muss ihn also gar nicht erst zu meinem Nachfolger machen, er ist es schon.

„Und Monalisa und du, ihr seid –?“ „Die ist auch seit ewig im Flysh-Ding unterwegs. Hat so wie ich auch als Kind mit Azuma marooned angefangen. Wir kennen uns von einer – raten Sie mal, von welcher Plattform?“ „Schells Bureau.“ „Das sie am liebsten in die Luft jagen würde, so genervt ist sie davon.“ „So schlimm? Wieso?“ „Muss für ‘ne Erweiterte einfach die fürchterlichste Zumutung sein. Diese Langsamkeit.“ „War dann gestern also gar nicht nur der Netz-Entzug, der sie so dünnhäutig machte …“ „Sie sind ihr Hassobjekt. Aber mich hält sie auch kaum noch aus. Die braucht Kontakt zu anderen Erweiterten, und vor allem Netz, sonst geht die demnächst durch die Decke.“

Ich seufze.

Vor mir liegt das als Geschenk verpackte Buch. „Ach ja … Für dich.“ Ich reiche es ihm herüber. „Danke.“ Er packt es aus, klappt es gleich auf und fängt zu lesen an.

Ich bewundere einmal mehr den schönen Einband in mattem Gold, der Nationalfarbe der Inseln. Oben der Titel in Schwarz: Andria. Unten in kleinerer Schrift: Bericht von Linval Livermore. In der Mitte dazwischen, in derselben Zeichnung wie auf der andrianischen Staatsflagge: das Kolibri-Pärchen.

Ich nehme mir den Bright Day vor. HELLE NACHT IN BABAAL, so lautet die Schlagzeile zu einem euphorischen Hymnus auf die Stadtwerke, die es nun tatsächlich vollbracht haben, die ganze Hauptstadt zum erstenmal seit Menschengedenken ohne eine einzige Unterbrechung rund um die Uhr mit Elektrizität zu versorgen.

Der Artikel darunter berichtet gleich von einer weiteren historischen Großtat: Nach monatelangen Verhandlungen zwischen der andrianischen Regierung und einem multinationalen Technik-Konsortium ist gestern feierlich der Vertrag zum Aufbau eines neuen Funknetzes unterzeichnet worden; und dieses spezielle neuartige Netz werde, wie es heisst, trotz der hiesigen Anomalie endlich auch in Andria eine stabile Drahtlos-Übertragung ermöglichen. – Und wieso weiss ich davon nichts? Wo ich doch aktiv in die Regierung verwickelt bin? Dann ist ja klar, warum mein Büro jetzt digitalisiert werden soll!

Aber ist das nicht auch schon egal? Ich will doch sowieso hier raus.

Und dann finde ich noch im Kulturteil etwas interessantes: Weltberühmtes Trio in Babaal zu Gast. Es wird eine Reihe von Konzerten auf Fair Island geben, und der Musikverein ist überglücklich, die Musiker dafür gewonnen zu haben, hier, bevor sie weiterreisen, wenigstens ein Konzert zu geben. Heute Abend. Und weil da steht, dass sie Schubert’s Klavier-Trio in Es-Dur spielen werden, gehe ich da auf jeden Fall hin.

Und dass der Geiger, lese ich, eine Guarneri spielt – worauf ich sofort an Brains denke: Ist nicht seine große Leidenschaft die Violine? – Deshalb, na klar – okay, Paley, ich werd dir erzählen, warum sich Detective Brains in Babaal aufhält.

Da klappt Lemm das Buch zu. „Sind wir fertig für heute? Sonst würde ich gern nach Hause und mir das mal durchlesen.“ „Klar. Gut. Mach das“, sage ich. „Morgen Vormittag irgendwann im Büro.“ Er steht auf, und da sehe ich Monalisa herankommen – und wen hat sie im Schlepptau? Rivera. „O je, Lemm, guck mal!“ „Hi, Monalisa.“ „Was hast du da?“ „’n Buch.“ „Ach du Scheisse, bestimmt von dem da!“ Sie wirft mir kurz einen vernichtenden Blick zu. „Wir müssen reden, los, komm mit!“ Schon hat sie ihn beim Arm gepackt und führt ihn ab; diesen Eindruck macht es jedenfalls. Und Rivera, erschöpft, sinkt mit einem „Ufff“ auf den Stuhl mir gegenüber. Ich grinse ihn an. „Bezaubernd, nicht wahr? So ist Erweiterung.“ „Soll heissen?“ „Implantate. Die junge Dame kann Unmengen von Daten verarbeiten. Wenn sie Netz hat.“ „Hat sie hier aber nicht – ach so! Deshalb ist die so im Overdrive!“ „Die Arme. Hoffentlich macht sie mir jetzt den Lemm nicht kaputt.“

Rivera bestellt Rum. „Noch ein bisschen früh dafür, ich weiss. Aber mir reicht’s für heute. Sag die Wahrheit, Schell: Hast du die auf mich angesetzt?“ „Ich bekenne: Hab daran gedacht; aber dazu kam’s nicht. Sie hasst mich.“

Rivera nickt vor sich hin; denkt nach. Einmal mehr bewundere ich seine makellose Erscheinung: Old School in feinster Vollendung, inklusive dem Veilchenduft verströmenden Tüchlein am Jackett. Er bemerkt meinen Blick. „Was ist?“ „Siehst mal wieder wie aus dem Ei gepellt aus.“ „Du dagegen … Ich muss schon sagen, Schell, wie du herumläufst dieser Tage …“ „Wie ein Penner, ich weiss. Und so komme ich mir auch vor.“

Der Kellner bringt den Rum. „Und bitte diesem Herrn auch gleich einen“, sagt Rivera, „Sie sehen doch, wie der den braucht!“

Ich nicke; und man schmunzelt.

B.10

Der Umschwung

Da war doch was … Ach ja, schon wieder den Sound vergessen. Weil ich auf keine der alten Cassetten noch Lust habe. Und übrigens auch nicht mehr auf diesen Taxi-Job.

Schell, hey-hey, wie bist du drauf?

Schlecht.

Die Zentrale, das heisst Uschi, hat ihn zu dieser Innenstadt-Adresse geschickt, vor der er jetzt seit zehn Minuten schon im Halteverbot steht. Es geht auf zwölf Uhr Mittag zu.

Das Warten nervt ihn; ausserdem hat er Kopfschmerzen.

Auch von Frankfurt habe ich übrigens genug. Und genug vom schlechten Gewissen. Genug von der Selbstzerfleischung bei Frau Doktor … Herauszufinden, was ich wirklich will, wieso nennt sie das ihren Auftrag? Habe ich ihr den erteilt, indirekt irgendwie? Und wenn nicht ich, wer dann? Womöglich nur ein Psycho-Trick; die ist so clever, die Frau …

Da fällt ihm jene sogenannte Diagnose wieder ein: Impotenz. Das habe ich noch gar nicht ernstlich dechiffriert. Worin besteht das Unvermögen? Ich sollte endlich mal systematisch vorgehen, detektivisch. Sagen wir, Frau Doktors Auftrag hängt irgendwie mit dem Ereignis zusammen, und wenn ich das erstmal aufkläre …

Klar, dann stellt sich heraus, dass alles irgendwie mit dem Ereignis zusammenhängt. Nennen Sie das systematisch, Herr Privatdetektiv?

Nun ja, man braucht ab einer gewissen Komplexität ausser der normalen auch eine höhere Logik; tja, und allerdings auch ein bisschen hellseherische Fähigkeiten … Hier müsste der normale Detektiv gleich abwinken: Nicht mein Ressort; nicht aber so Privatdetektiv Schell, der sagt: Klar, warum sollte ich nicht hellsehen? Wozu denn sonst habe ich mir den Tautoloid geschaffen? Der ist doch eigentlich sowas wie die Kristallkugel der Wahrsager.

Nur dass du da nicht von aussen hineinschaust, sondern selber drinnen sitzt und – gar nichts siehst. Tut mir leid, dass ich dir leider auch die Aussicht aufs Hellsehen vermiesen muss.

Und wielange soll ich hier noch warten?

Zwei sagen, sie kommen dir zur Rettung – in Wahrheit, um dich auszulöschen.

Einer sagt, er löscht dich aus – der wird dich retten.

Diese Botschaft aus dem Traum von neulich kommt ihm immer wieder in den Sinn. Zwecklos, darüber zu rätseln, sagt er sich wie jedesmal; nur sie nicht vergessen, sie wird irgendwann mal wichtig sein. Und was war das denn eigentlich letzte Nacht? Ein Traum der Kategorie „Reise“. Er war irgendwo angekommen, nachts, allein; aus einem Zug gestiegen, mit dem Gefühl, er müsse sich beeilen; andererseits in der Befürchtung, es sei schon zu spät. Nirgendwo ein Mensch zu sehen, auch kein Tier. Jenseits der schwach beleuchteten Bahnstation so gut wie nichts, nämlich alles dunkel; nur dass er in dem Mondlicht, das manchmal kurz die schnell ziehenden Wolken durchdringt, eine Straße erkennt. Das ist die Richtung, denkt er, links müsste Süden sein, das Meer da irgendwo, und er marschiert los. Zum Glück hat er kein Gepäck zu schleppen, andererseits: was bringe ich mit? Dass ich viel zu spät komme, wird niemanden stören, das sind ja Hippies, die sich da treffen, was Pünktlichkeit angeht, sind die eher locker; doch zu einem potlatch nichts mitzubringen, wie soll das gehen?

Denn so eine Art Fest war das, zu dem er in diesem Traum unterwegs gewesen war: Man beschenkt sich gegenseitig, und nicht mit irgendwas; sei es nur ein Ding, und auch nur ein kleines, das man herzuschenken hat, Hauptsache, dies Ding ist einem wirklich kostbar. Und da denkt er an seine Nachbarin, an Lady Rainbow.

Die gestrige Tea Time mit ihr ist in völligem Schweigen verlaufen. Sonst schweigen sie da ja auch mehr als sie reden, aber so schweigsam wie gestern hatten sie den Tee noch nie geschlürft.

Ihm wird bewusst, dass diese Frau – das alte Hippie-Mädchen, wie er sie für sich nennt – ihn inzwischen nicht minder beeindruckt als Frau Doktor, und es kommt ihm mehr als wahrscheinlich vor, dass sie ihn zu dem Potlatch-Traum inspiriert hat.

Er wirft einen Blick auf die Uhr: fünf – nein, schon vier vor zwölf. – Mann, wie das nervt!

Da war aber noch was: Die Wahrheit, weil sie unglaublich ist … Taucht ständig wie in einer anderen Sprache auf, man muss sie sich immerzu neu übersetzen. Das Unglaubliche schützt, was wahr ist … Nee, so auch nicht. Leider will ihm dieses Fragment des alten Heraklit nicht aus dem Kopf gehen, und dass es nur so undeutlich da ist, nervt ihn sehr. Er schaut erneut auf die Uhr; dann wieder zu dem Eingang des Bürogebäudes, vor dem er im Halteverbot steht. – Verdammt!

Will nicht erkannt werden … und bedient sich dazu des Unglaublichen, oder in meinem Falle: der Vergesslichkeit. O je, wenn mich jemand so hören würde! Was dann? Gar nichts, es würde mir sowieso niemand zuhören. – Da sei dir mal nicht so sicher. Denk dir nur, es ist tatsächlich so wie du’s dir vorstellst: als sei das Ganze hier eine Verfilmung. – Real Life, klar, wo man die Fahrbahn blockiert, den ganzen Verkehr aufhält, einen Stau verursacht, nur weil man wieder auf so einen Idioten warten muss, und warum? Weil man damit sein Geld verdient. Real Life – welch ein Film! Ein globaler Schwachsinn, der im Grunde von nichts anderem handelt als vom Geldverdienen. Und dabei, in noch tieferem Grunde – aber für die meisten schon ziemlich unangenehm bemerkbar –, geht’s um Spannung. Denn das Ganze ist dem Schema nach ein Thriller.

Und so weiter. Da endlich kommt, was ihm die ganze Zeit nicht einfallen wollte, das vom alten Heraklit – eine Befreiung regelrecht:

Durch seine Unglaublichkeit entschlüpft das Wahre dem Erkanntwerden.

Wie wahr, wie wahr – schreib’s dir hinter die Ohren. Diese ganze Story, diese Ereignis-Geschichte, die jetzt – wielange schon läuft? – seit sechs Jahren –, nur um diese uralte Erkenntnis zu bewahrheiten, dass das, was wirklich Sache ist, uns so unglaublich erscheint, dass wir’s nicht fassen. Dabei könnten wir’s fassen; ich jedenfalls. Nur leider habe auch ich mir diese blöde Erkenntnisweise angewöhnt, immer genau dann wegzuschauen vom Wahren, wenn es mir als unglaublich auffällt. Man bräuchte sich einfach nur umzugewöhnen! Denn die Überzeugung, dieser Aberglaube!, dass der Mensch seiner Natur nach – Ebenbild Gottes hin oder her – Wahrheit gar nicht fassen kann – was Kant glaubte, bewiesen zu haben, und ihm alle Welt nachschwätzt –, ist eine solche Vermessenheit, und in den Konsequenzen eine solche Schweinerei, so geistfern, so alles Ideale ausradierend, so unglaublich – ja, dass da längst kein Herauskommen mehr ist.

Meine Hauptangewohnheit also: irren.

O je, o Mann, o wei, du bist aber wirklich schlecht drauf heute! – Ja. Mir reicht’s. Ich will hier raus. Nur bin ich gar nicht hier. Das ist die Wahrheit, die ich weiss. Die ich nur als solche nicht erkennen kann, einfach weil sie unglaublich ist: Dass ich der Schell bin, ganz offensichtlich, der in Schells Bureau vorkommt, in diesem Netz-Roman; dass ich aber, obwohl alles danach aussieht, nicht der Autor bin. Das heisst, der Autor muss in mir sein, irgendwie, kann aber, soviel ist sicher, unmöglich ich sein. Da will man doch geradezu durchknallen; kann doch nur überschnappen; muss doch irgendwann das Handtuch schmeissen!

Hier sehen wir überdeutlich, was der Herr des Systems, der Technus, mit allen Mitteln – by any means necessary – zu verhindern trachtet: dass Schell zu echter Selbsterkenntnis findet. Die Zeit aber drängt. Noch gibt es das nicht für diesen unseren Schell in Frankfurt: Corona. Doch viel Zeit bis dahin bleibt nicht mehr.

Er hält inne – gar keine Zeit mehr, genau genommen. Er sieht, es ist Punkt zwölf. Und was auch immer das bedeutet, auf einmal ist alles komisch. Und sehr komisch vor allem kommt er selbst sich vor.

Sehr komisch kam er selbst sich also vor: So hatte unser Schell in Frankfurt das aktuelle Ereignis bemerkt; nicht als solches allerdings, und also ohne zu ahnen, worin dieses neue Ereignis bestand, nämlich dass es der Umschwung war.

Hingegen ein anderer Schell – wir nennen ihn den Reichs- oder kurz R-Schell – bemerkte von dem Umschwung gar nichts:

 

Er fühlte sich unwohl irgendwie; saß im Auto, bei Dunkelheit unterwegs auf einer Landstraße, abends gegen sieben. Das Radio, dachte er. Es lief, und was er da mit halbem Ohr hörte, drehte sich entweder um die amerikanische Präsidentschaftswahl oder um die Coronavirus-Pandemie. Man schrieb den 30. Oktober 2020, ein Samstag; die Zahlen stiegen rapide an, hiess es, und der nächste Lockdown sei daher unvermeidlich; ab Montag schon.

Die Zahlen, dachte er. Was man mit Zahlen nicht alles machen kann! Auch das Unglaublichste. Und erst recht, wenn man auch noch die Zahlen allesamt binär zerlegt, per an-oder-aus, null-oder-eins, entweder/oder. Was man nicht machen kann, ist höchstens noch die Frage. Insofern völlig egal, wen sie wählen, die Ammis, solange sie entweder den oder den wählen.

Er schaltete das Radio aus. Wie gut, dass das noch geht, dachte er. Aber sein Unwohlsein hörte damit natürlich nicht auf.

Die Kopfschmerzen? Nicht dramatisch, aber schon den ganzen Tag latent, und klar, dass sie sein Wohlsein minderten. Vielleicht hören sie auf, wenn ich was in den Magen bekomme. Er war zu einem ländlichen Gasthof unterwegs.

Der Produzent hatte sich mit ihm verabredet, und zwar per Telefon, persönlich. Das heisst dieses Treffen war inoffiziell. Das heisst der Produzent hatte ihm off-line etwas mitzuteilen.

Sie hatten sich noch nie gesehen, ja überhaupt noch nie Kontakt gehabt bisher. Weil das technisch offenbar nicht nötig war. Da das Unternehmen Flyshwerk – ein Riesending, wie Schell wohl wusste – kleinteilig organisiert war, überblickten die Beteiligten nur ihren speziellen eigenen Bereich. Nicht dass persönlicher Austausch zwischen den Bereichen regelrecht verboten war, nur galt dergleichen als zu aufwändig, zu zeitintensiv, zu ineffektiv, und war insofern unerwünscht. Das Zusammenspiel der Ebenen wurde viel effektiver von den messengers besorgt.

So kannte er von den anderen Kreatoren auch nur Oskar Pamir und Götz Kobalt, weil er mit denen ein sogenanntes Real-Team bildete. Seit vielen Jahren pflegten sie an einem hübschen Ort, einem Städtchen namens Krakl, Die-drei-besten-Freunde zu spielen. Die als Messenger für sie zuständige Person hiess Spetz Feynsinn, und mehr als sie brauchten sie nicht an Verbindung zum Flyshwerk, um ihre Arbeit als Real-Kreatoren zu tun.

Indem nun der Produzent sich direkt an Schell gewandt hatte, war Messenger Feynsinn sozusagen übersprungen worden. Insofern hatte dieses inoffizielle Treffen etwas Klandestines an sich. Auch deshalb war ihm nicht recht wohl dabei. Und hinzu kam ein Grundsätzliches, das ihm schon lange Unwohlsein verursachte, ihm aber jetzt entscheidend vorkam: Dass er die Real-Technik nun schon seit Jahren praktizierte und noch immer nicht genau wusste, wie sie eigentlich funktionierte.

 

Die Nacht ist warm, und wäre sogar heiß, wenn nicht so ein starker Wind ginge. Der die Wolken treibt und in heftigen Böen Staub aufwirbelt, seine Haare flattern lässt, an Hemd und Hose zerrt; der aber nichts sonst bewegt. Denn soviel er im Mondlicht erkennen kann, gibt’s nur Steine ringsum, kahle Hügel, Wüste.

Er läuft Stunden und denkt viele Gedanken – Gedanken um die Frage, was er zu schenken haben wird, wenn er beim Potlatch ankommt – und dann, wie so oft in Träumen, ist er schon da. Er riecht jetzt Frische und hört es regelmäßig donnern, also kann diese tiefe Schwärze da drüben nur das Meer sein. Da die Wolken inzwischen so dicht sind, dass sie gar nichts mehr durchlassen vom Mond, ist es hier nun richtig finster. Und das Fest, dem er sich nähert, ist auch nicht gerade hell beleuchtet. Da hängen bunt schimmernde Lampions und ein paar Gaslampen, in deren Schimmer sich nicht einmal ungefähr ausmachen lässt, wieviele Menschen da sind. Er geht zwischen Autos hindurch, dann zwischen lauter Zelten, dann umschliesst ihn Stimmengewirr, Gelächter, Getrommel.

Das ist der Stamm, dem ich angehöre?, wundert er sich. Meine Leute? Die wirken aber gar nicht wie Hippies. Sehe ich selber auch so normal aus? Er schaut umher, in die Gesichter: keines, das ihm nicht zulächelt, zuzwinkert oder wenigstens freundlich zunickt. Doch ist niemand dabei, die oder den er kennt. Man ist locker, ausgelassen; manche tanzen. Der Austausch der Geschenke scheint bereits gelaufen zu sein. Dacht ich’s mir doch, denkt er, bin mal wieder zu spät. Vielleicht weil ich kein Geschenk habe? Dann ist es ja gut so. Nur was habe ich dann hier zu suchen?

Da beginnt es zu tröpfeln und er fragt sich: Wissen die eigentlich, wie finster es geworden ist? Und merken sie nicht, dass das kein Wind mehr ist, sondern schon regelrecht ein Sturm? Tatsächlich reisst der ganz bedenklich an den Lampions.

Jetzt steuert jemand auf ihn zu, ein langer hagerer Junge ohne Hose, der etwas vor der Brust festhält. „Hey“, sagt er, „ich bin zu spät. Du auch? Weil, du hast noch nichts, wie ich sehe.“ Und er reicht ihm, was er da vor der Brust gehalten hat: ein Buch, und setzt hinzu: „Ist ja nun mal Potlatch hier.“

Er hebt abwehrend die Hände; hat ja nichts im Tausch gegen das Buch … „Du hast keine Hose an, Junge. Was ist passiert?“

„Lange blöde Geschichte. Der Umweg. Warum ich hier so spät ankomme.“

Ich ziehe kurzerhand meine Hose aus. „Dir zu kurz, klar, aber immerhin ‘ne Hose.“ Und ich reiche sie ihm und nehme das Buch dafür entgegen. Worauf die Umstehenden applaudieren und der Junge, in die Hose steigend, „Danke“ sagt und zerknirscht dazu bemerkt: „Ist leider nur geliehen, dieses Buch, ich müsste es zurückgeben, verdammt, deswegen – verstehst du?“

„Gibst du es nur äusserst ungern her, verstehe. Ich weiss das zu schätzen.“ Und da erst wird mir klar: „Und warum auch ich dir nur äusserst ungern meine Hose gebe, ist, weil – na egal.“ Weil ich, warum auch immer, keine Unterhose an habe. Zum Glück reicht mein Khakihemd tief genug hinunter, um mir zumindest das Nötigste meiner Blöße zu bedecken.

Jetzt ist das Getröpfel aber wie auf einen Schlag zu heftigem Gepladder geworden. Die Lampions verlöschen, werden fortgerissen, und alles geht nun sehr, sehr schnell. Jemand kommt vom Strand her aus dem Dunkel gerannt: „Das sind da unten jetzt ziemliche Wellen, also ziemlich große – also echt Monsterwellen!“ Und jemand mit ruhiger, jedoch bemerkenswert durchdringender Stimme empfiehlt: „Man sollte hier Schluss machen und sich möglichst zügig landeinwärts verpissen.“

Schon hat der Sturm sämtliche Lampen zerschlagen, und klar geht’s im Finstern nun drunter und drüber. Ich berge das Buch, absurderweise damit es nicht allzu nass wird, unter mein längst völlig durchnässtes Hemd und stolpere irgendwohin. Bis jemand mich mit starker Hand beim Arm packt und im Laufschritt mit sich zieht.

 

So gut wie alle Tische in dem ländlichen Gasthof waren besetzt, doch nur an einem saß ein Mann allein. „Guten Abend“, sagte Schell zu ihm. „It’s always night …“

Or we wouldn’t need light.“

Das hatte der Produzent am Telefon so vorgeschlagen: „In einem deiner Reale verwendest du doch diesen netten Spruch von Thelonius Monk. Nacht ist immer, sonst bräuchten wir kein Licht. Nehmen wir den.“ Um sich gegenseitig zu erkennen; sie hatten sich ja, wie gesagt, noch nie gesehen; Schell kannte nicht einmal seinen Namen. Ein stämmiger kleiner Mann, Mitte vierzig etwa, mit rundem, schon recht kahlem Schädel, knolliger Nase und hellwachen Augen.

„Setz dich, Schell. Kannst mich Ed nennen.“

Bräuchte ich in einem Real den Typus des Lustigen Dicken, dachte Schell, er wär’s. Einer, den man nur unterschätzen kann. Erinnert mich an Jean Genet. Wie er die Kellnerin angrinst – hat sie schon auf seiner Seite.

Er schaute gar nicht in die Speisekarte; sagte zu Schell: „Ich schätze, das Fleisch hier ist von erster Qualität“, und zu der Kellnerin: „Für mich ein Rumpsteak, bitte.“

Wann habe ich zuletzt Fleisch gegessen? Ist lange her. – „Für mich das bitte auch!“

Vom Gesicht der Kellnerin war wegen der Seuchenverordnung, die allem Servicepersonal das Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung auferlegte, leider nicht viel zu sehen.

„Ob der alte Donald das Rennen macht oder der uralte Joe, was meinst du, Schell?“

„Ach, ich weiss nicht. Jedesmal wenn groß gewählt wird, heisst es: diesmal ausnahmsweise geht’s wirklich um was; kriege davon immer so ein Deja-vu-Gefühl. Wie alle vier Jahre bei der Olympiade.“

Ed grinste. „Und jedesmal denkt man, vielleicht geht’s diesmal ja wirklich um was! Den Film dazu kennt wahrscheinlich jeder: Und täglich grüßt das Murmeltier.“

Schell nickte. „Wenn ich’s wenigstens witzig finden könnte … Na egal. Aber dass wir uns hier treffen, hat irgendwie mit der Corona-Seuche zu tun, nehme ich an.“

„Klar, weil zur Zeit alles was damit zu tun hat.“

„Hast du auch mit Pamir und Kobalt direkten Kontakt aufgenommen?“

„Nicht nötig, denke ich. Was ich zu erzählen habe, können deine Kollegen genauso gut von dir erfahren.“

„Dann schieß mal los, Ed.“

„Neulich gab’s plötzlich kein Geld mehr. Wegen Corona?, dacht ich, kann nicht sein. Wie die anderen Digitalriesen macht doch jetzt das Flyshwerk dank der Seuche noch mehr Geld. Ich also zum Boss. Wie ich diese Audienz ergattern konnte, wäre eine Story für sich. Jedenfalls wusste der nicht mal, dass es die Abteilung Underground überhaupt gibt. Immerhin die älteste Abteilung, wagte ich zu bemerken, ja sogar des Flyshwerks eigentlicher Kern … Dass den die Chefetage inzwischen vergessen hat, na ja, ist auch so eine Story für sich. Aber er fand dann wohl doch, dass ihn das ein bisschen interessieren sollte. Fragt also, was Underground denn so macht. Will davon natürlich nur die Superkurzfassung, denn klar, er ist enorm damit beschäftigt, der Boss zu sein. Pausenlos piept und blinkt es und kommen Tussis gurrend angestöckelt, um ihn zu erinnern: Hey, du bist das Toptier!

Ich fass mich also kurz: Geht um die Totaltechnisierung, Sie verstehen? Klar versteht er, ist ja der Boss; und will wissen: Insgesamt eher ‘ne Komödie? Die Komödie, sage ich, weil ständig inszeniert als die Story vom großen Durchbruch, ja als der Future-Schock schlechthin.

Diese erbärmliche Kurzfassung wird allerdings hundertmal unterbrochen, denn sie ist für den Boss nur noch irgendwas zwischen lauter blutwarmen Inside-Infos, börsenrelevanten Katastrophen, infarktträchtigen Enthüllungen oder was sonst noch alles fragmentarisch sein geniales Topbewusstsein erreicht – dazu noch das Eingreifen der Leibgarde, die ihn immer wieder vor den Wutaktionen frustrierter Kleinbürger schützen muss –, sodass ich nur für diese blöde Kurzfassung schon eine geschlagene Stunde brauche. Wenn ständig von Management-Seite Effizienz gefordert wird, ist das eigentlich das Witzigste an unserer Komödie der Totaltechnisierung.“

„Soll das erklären, warum die Firma kein Geld mehr für Reale der Abteilung Underground übrig hat? Weil dieser Boss mit seinem überlasteten Topgehirn nicht mehr durchblickt? Glaube ich nicht.“

„Ich auch nicht. Während der die ganze Zeit die großen Summen bewegt, Intrigen spinnt, Gerüchte streut, Kampagnen steuert und so weiter, geht’s ihm tatsächlich nur darum, der Boss zu sein, um sonst gar nichts.“

„Dieser Boss ist also nicht wirklich ein Boss.“

„Genau das ist mir in dem Topbüro da oben klar geworden.“

„Und dann hast du ihn womöglich noch auf die Verantwortung für Kunst und Kultur hin angesprochen …“

„Na klar; und er darauf sogar sehr clever: Gut, dass Sie mich daran erinnern! Und das klang nicht einmal sarkastisch. Nur fürchte ich, damit genau den wundesten Punkt des Topbewusstseins berührt zu haben: die Selbstüberschätzung.“

„Der hat also, kurz gesagt, nichts zu melden, und das heisst, ganz woanders ist entschieden worden, dass es aus ist mit uns.“

„Das ist sehr spitz, zu spitz formuliert. Es heisst erstmal nur, dass Underground in nächster Zeit kein Geld hat, um weitere Reale zu produzieren.“

Dass die Abteilung aber noch weiter besteht, willst du damit sagen, dachte Schell. „Sehr nett, uns darüber zu informieren, Ed.“

„Damit ihr Kreatoren euch nicht wundert. Damit ihr euch auf gewisse Veränderungen einstellt.“

Da brachte nun die Kellnerin die Rumpsteaks.

Er will was eigenes aufziehen, dachte Schell, unabhängig vom Flyshwerk. Er sondiert, wer von den Kreatoren bereit ist, mitzumachen. Oder ist das von der KI des Flyshwerks so geplant? Eine Art Outsourcing, um die Underground-Abteilung loszuwerden? Schwer zu sagen. Auf welcher Seite stehst du, Ed?

„Lässt sich schon mal sehr gut säbeln, dieses Fleisch“, sagte Ed. „Mmmm – und schmeckt!“

„Erinnert mich an diese denkwürdige Szene in Matrix“, murmelte Schell.

„Weiss, welche du meinst.“ Ed nickte kauend vor sich hin.

Der Judas kann das freudlose Leben im Untergrund nicht länger ertragen; wechselt aus der tristen Realität zurück in die digitale Scheinwelt und wird für den Verrat an seinen Freunden dadurch belohnt, dass er endlich, endlich mal wieder ein saftiges Stück Fleisch zu essen bekommt – eine Illusion, das weiss er wohl; doch bedürftig wie er ist, sagt er sich: Lieber Schein-Fleisch als gar keins, lieber unechte Normalität als echtes Leben im Elend.

„Wie siehst du das, Ed? Lieber ein toter Wohlstandsbürger oder eine lebendige Kanalratte?“

„Mir viel zu Hollywood, diese Perspektive.“

Sie blickten sich, beide bedächtig kauend, über die Teller hinweg an.

„Der Boss, der nicht wirklich Boss ist, hat sicher einen über sich, den er für den Boss hält, und der natürlich auch nicht der wirkliche Boss ist. Was meinst du, Ed, hat das Flyshwerk überhaupt noch einen Boss? Ist der Laden nicht längst Teil der Moonrow? Und ist die Moonrow nicht auch schon Teil von deadler/bloom?“ Mit deadler/bloom meinte Schell das weltweit größte bisher bekannte Firmenkonglomerat. „Und wird deadler/bloom nicht bekanntlich von einer KI gesteuert?“

„Darüber gibt’s nur Vermutungen.“

„Die jedenfalls nahelegen, dass deadler/bloom derzeit die Top-KI sein dürfte.“

„Keiner überblickt die Hierarchie der KIs.“

Doch, der Technus, dachte Schell. „Wenn also unser Flysh-Laden zum Netzwerk von d/b gehört … Du weisst schon, worauf ich hinaus will.“

„Dass dann auch in der Real-Produktion schon längst kein Mensch mehr was zu sagen hätte. Das ist aber nur die paranoide Sicht der Dinge.“

„Mir voll bewusst, Ed. Mein Spezialgebiet. Technik-Folgen-Abschätzung. Hatte mir übrigens vorgestellt, dass die Produktion der Reale bereits vollautomatisch läuft. Daher wundert es mich einigermaßen, dass mir hier mein Produzent so traditionell in menschlicher Gestalt gegenüber sitzt.“

„Höre ich da eine Frage heraus?“

„Ganz klar, Ed, und zwar die: Auf welcher Seite stehst du?“ Wie blöd, diese Frage!, dachte er sofort darauf. Auf welcher Seite stehe ich selber? Woher soll ich das wissen? Als ob es innerhalb dieser Sphäre noch Seiten gäbe … Gibt nur noch drinnen oder draussen. Oder nur noch drinnen? Nur noch Ureal? Ist draussen inzwischen Illusion? Drinnen und draussen nur noch Matrix?

Tatsächlich versuchte Ed auch gar nicht erst, diese blöde Frage zu beantworten. Er war schon bei seinem letzten Bissen, der Teller vor ihm leer, und blickte interessiert auf das große halbe Rumpsteak, das Schell noch auf dem Teller hatte. „Schmeckt mir gut, aber ich hab genug. Übernimm du das bitte.“ Was Ed sich nicht zweimal sagen liess.

„Je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer bin ich mir, dass es seine Richtigkeit damit hat, wenn es mit solchen Realen, deren Produktion vom großen Geld abhängt, zum Ende kommt.“

Ed darauf: „Eine Produktion mit Kleingeld würde mir schon reichen. Ich muss ja von irgendwas leben. Deswegen kann ich nicht warten, bis mir die Firma irgendwann vielleicht mal wieder ein Budget bewilligt oder mich auch einfach rausschmeisst. Könnte im übrigen der Qualität sogar ganz gut tun, Reale mit kleinem Geld, aber unabhängig zu produzieren.“

„Wie in alten Zeiten, als der Underground noch Underground war. Dann sag mir mal: Die Reale, für die du jahrelang die Produktion gemacht hast, findest du die gut?“

„Du meinst die, für die du mit Pamir und Kobalt den Stoff lieferst? Die finde ich gut, ja.“

„Und wichtig?“

„So wichtig jedenfalls, dass ich sie gern weiterhin produzieren würde. Sag mal“, Ed hielt Messer und Gabel plötzlich reglos, „hältst du mich etwa … Du findest mich nicht echt genug! Machst hier gerade einen Turing-Test mit mir!“

„Als ob dich das überraschen würde.“

„Du bist so schlau, Schell, dass du den Test unbedingt mal mit dir selber machen solltest.“

„Mache ich gerade; und nicht zum erstenmal. Und wieder mal ist das Ergebnis fifty-fifty.“

Das hiess: etwa die Hälfte dessen, was ihm Ed auf seine Fragen antwortete, wusste er im Voraus, die andere Hälfte nicht. Und im Rückschluss auf mich, der ich frage, dachte er, heisst das: Ich denke zwar, ich bin echt, könnte genauso gut aber auch künstlich sein.

„Fifty-fifty“, sagte Ed, „wie beruhigend.“

„Und die Feynsinn?“, fragte Schell so geschäftsmäßig wie möglich, „weiss sie was von deinen Plänen?“ Ed starrte ihn nur an; und Schell fuhr fort: „Okay. Bei ihrer langen Erfahrung im Messenger-Dienst entgeht ihr sowieso nichts. Daher denk ich, man sollte sie nicht ignorieren; sie sogar unbedingt miteinbeziehen.“ Keine Reaktion von Ed. „Jetzt bist du eingeschnappt, klar. Aber als du fragtest, hätte ich dich anlügen sollen?: Nein, das hier ist kein Turing-Test? Es geht ja schliesslich bei der Frage, ob du, oder ich – ob wir Mensch oder Maschine sind, um die Wahrheit. Mir jedenfalls. Und nicht, weil ich dir nicht traue, Ed – inzwischen mache ich mit jedem diesen Test. Ich trau einfach dem Augenschein nicht mehr. Nenn das paranoid, durchgeknallt, wie auch immer, jedenfalls weisst du jetzt, falls du noch weiter mit mir arbeiten willst, mit wem du’s zu tun hast.“

„Es gibt Fakten, würde ich sagen, und Verträge, an die man sich zu halten hat. Aber Wahrheit? Läuft bei mir unter Philosophie.“

„Während Philosophie bei mir unter Wahrheit läuft. Womit wir immerhin was Grundlegendes geklärt haben. Und da wir schon dabei sind, das Grundlegendste: Glaubst du ans Happy End? Als Prinzip aller Prinzipien, meine ich.“

Ed seufzte. „Wenn das endlich deinen Turing-Test beendet – ganz ehrlich, ob ich ans Happy End glaube: keine Ahnung. Glaubst du selber daran?“

„Unbedingt.“

„Aha, so so … Sind etwa deine Freunde Pamir und Kobalt auch solche komischen Apostel wie du?“

„Ich glaube, nicht, denn das ist ja wohl, was Kreatoren ausmacht: dass keiner wie der andere ist. Daher weiss ich auch nicht vorauszusagen, wie die beiden es aufnehmen werden, dass für unsere Reale, wenn überhaupt noch was, nur noch Kleingeld da ist.“

„Wie gesagt …“

„Schon klar, werde ich nicht vergessen zu erwähnen: die Chance auf mehr Qualität. Den Witz heb ich mir aber bis zum Schluss auf.“

 

Wer von den vielen durchnässten Menschen mich mit sich in diesen überfüllten Caravan hineingezogen hatte, sollte ich nie erfahren, sicher ist nur, es muss eine Frau gewesen sein. Nämlich als ich nun herumschaue, sehe ich nur Frauen. Und ich, eingekeilt in diesem weiblichen Gedränge, kauere hier im Schneidersitz und habe keine Hose, nicht mal eine Unterhose an; kann mir nur mit dem Geschenk, dem Buch, den Schoß bedecken. Dieses Buch ist ausser meinem Khakihemd das einzige, was ich noch habe, und auch das gehört mir nicht; und gehörte auch dem Vorbesitzer nicht; ist eine Leihgabe. Es ist in Leinen gebunden, grün, und trägt den Titel: Individualität.

Der Motor röhrt am Limit, wir rasen; spüren von der Schotterpiste viel, sehr viel, und von der Federung sehr wenig bis gar nichts. Kurze Schlenker ab und zu, die uns hin und her werfen, wenn die Fahrerin versucht, wenigstens den tiefsten Löchern auf der Piste auszuweichen. Mal drückt es mich dabei gegen die Frau hinter mir, mal gegen die zu meiner linken, mal nach rechts gegen die Frau, die da ein wenig erhöht neben mir kauert, sodass ihre Brüste immer wieder meinen Kopf berühren. Erstmal denk ich nur: Okay, okay, natürlich ist das aufregend; wenn ich hier nur als Mann nicht so alleine wäre … Doch dann allmählich wird mir Angst vor der zunehmenden Intensität meiner Erregung. Denn ich muss nun jene Art von Erektion befürchten, die unter diesen Bedingungen die schlimmste wäre: jene, die immer so übertrieben auftritt, so stur, so eisern; die nicht angenehm ist, sondern weh tut, und die nie einfach von selbst aufhört.

Denkt die sich was, die neben mir? Oder die andere links von mir? Ich wende ihr mein Gesicht zu, und sie bemerkt es, und wir schauen uns an. Und seltsam – da sehe ich von ihr aus, durch ihre Augen: mich – und erkenne mich gar nicht! Sehe eine Frau. Und drehe rasch den Kopf zur anderen Seite, und auch diese Frau zu meiner rechten bemerkt es und erwidert meinen Blick. Und auch von ihr aus, durch dieses Augenpaar, sehe ich dort, wo ich bin, eine Frau, nicht mich.

Ganz einfach, ganz klar, aber völlig unbegreiflich: Ich habe mich in eine Frau verwandelt. Und da du träumst, sage ich mir, braucht dich das gar nicht zu schockieren.

Und mir wird bewusst, dass ich an Stelle der sturen, schmerzhaften, unerbittlichen Erektion, die ich eben noch befürchtet hatte, eine ganz andere Art Erregung spüre. Wie? Welcher Art? Mir unmöglich zu sagen, einfach zu neu, und sowieso überlagert vom Gefühl großer Erleichterung, und von Erstaunen natürlich; dem Staunen zum Beispiel auch darüber, wie ich unter dem Hemd die Brüste spüre, mir ihrer Formung bewusst bin, sie wie aufwärts sich rundende Hörner empfinde … Sehr, sehr seltsam.

Und jetzt, da ich mich durch die Augen der Frau rechts von mir ein wenig länger betrachtet habe, fällt mir eine Ähnlichkeit auf. Ein bisschen sieht mein Gesicht aus wie das – nein, nicht nur ein bisschen; es sieht aus wie das – nein, auch nicht; es sieht nicht nur so aus wie – es ist das Gesicht von Frau Doktor.

Wieder hupt es hinter mir, mehrmals, mit Nachdruck. Wieder braust einer, den ich aufgehalten habe, mich wütend anfunkelnd an mir vorbei. Ich kann hier unmöglich noch länger den Verkehr blockieren.

Habe ich mich in diesem Traum doch tatsächlich in Frau Doktor verwandelt … Und dann, als ich aufwachte, was hatte ich da eine Angst! Vor was? Erinnerst du dich?

Jetzt ein Hupen, das gar nicht mehr aufhört. So, das halte ich nicht länger aus, ich fahr jetzt los …

Ich habe schon den Motor gestartet; den Gang eingelegt, den Blinker gesetzt; jetzt lasse ich die Kupplung kommen. Da wird hinten die Tür aufgerissen: „Bist du bescheuert, mir vor der Nase wegzufahren?“

Ich kann’s nicht fassen; starre sie an. Was ich nicht mal zu allerletzt erwartet hätte: „Ingrun?“

B.9

Das Peinliche

Es ist sehr früh am Morgen, noch stockdunkel draussen. Schell im Lichtkegel der Tischlampe vor seinem aufgeklappten Deep Space. Eben war noch alles klar, er wollte an der Mystery Saga weiterschreiben; aber da sieht er sich in der schwarzen Fensterscheibe gespiegelt und hat sich nun gegenüber: Hallo, Repräsentant, wie geht’s?
Geht so. Da, wo es weitergehen müsste, geht’s irgendwie nicht weiter. Was ich im Roman Body Job nenne, ist schon voll im Gange, dabei weiss ich noch viel zu wenig darüber. Ich meine, der Held – dieser andere Schell in Istanbul – ist bereits mit Kick Kimura verschmolzen, aber mir ist noch gar nicht klar, wie das eigentlich funktioniert. Da beschreibe ich also etwas so als ob
Das Wesentliche am Body Job ist die Verwandlung, und da steckst du mittendrin, und weil das wie etwas Neues für dich ist, hast du natürlich das Gefühl, im Dunkeln zu tappen. Im übrigen hattest du kürzlich die Chance, dich schlau zu machen: Hättest du dich mit Habib und dem I.T. zusammengetan, wäre dir Schells Bureau wieder zugänglich gewesen.
Darauf musste ich verzichten. Es hätte mich doch nur wieder vor die Tatsache gestellt, dass alles danach aussieht, als sei ich der Autor von Schells Bureau – der ich in Wahrheit aber nun mal nicht bin! Soll das meinetwegen das große Rätsel bleiben, ich habe mir vorgenommen, daran jedenfalls nicht verrückt zu werden.
A propos, was läuft im Tautoloid?
Nichts neues; dasselbe wie gestern, wie vorgestern, wie vor drei Jahren. Klein-h, der ewige Anfänger, durchläuft da immernoch eine Art Trainingsprogramm. Allerdings steht jetzt schon in Frage, ob diese seine Vorstellung von einem gegen alle Seiten hin verspiegelten Denk-Ort überhaupt als Sinnbild etwas taugt. Ach, was heisst: steht in Frage? Ganz sicher ist dieses Sinnbild selbst, seine tautologische Beschaffenheit, der Grund dafür, dass darin klein-h mit seiner Logik in einer perfekten Falle sitzt. Perfekt, weil so unauflösbar, dass sie zu der Einsicht zwingt: Da ist kein Entkommen. Jeder Gedanke, der mir als meine Vorstellung bewusst wird, spiegelt mich selbst und findet in keiner Richtung irgendwo ein Ende. Das ist quasi grenzenlose Begrenztheit. Und inzwischen ist klar: Hier komme ich nicht raus. Jetzt muss ich nur noch die mühsamen Ausbruchsversuche aufgeben und das Bodenlose akzeptieren. Denn jedesmal, wenn ich die Tatsache, dass das ein Abgrund ist, hinnehmen kann, gewöhne ich mich ein wenig mehr an dieses endlose Fallen, und das heisst – tja, was?
Dass klein-h manchmal sogar die Klappe hält.
Ja; dass es ihm vor Entsetzen die Sprache verschlägt und es still wird im Tautoloid. Sie ist erholsam, diese Stille. Manchmal entfällt sie der Zeit, wird Gedicht, Stillleben, Anblick zum Beispiel eines rostigen Kahns in einem karibischen Hafen mit Pelikanen; woher unerwartet vielleicht eine vertraute Stimme flüstert und zwischen Erinnerungen plötzlich neue Verbindungen aufblitzen. Das ist das Gute im Tautoloid, man weiss nie, was als nächstes geschieht. Jedoch ist sie auch immer labil, diese Stille, immer bedroht von einem unversehens irgendwo aufkeimenden Verdacht; was sie sogleich irgendwie phantomatisch macht, und dann erscheint sie einem düster und beladen, wie eine einzige undurchdringliche Illusion. Dann komme ich mir im Tautoloid sofort wieder wie eingeschlossen vor; was mich inzwischen aber nicht mehr in den Großen Horror versetzt. Das macht die Gewöhnung; nämlich dass ich mir zur Beschwichtigung sagen kann: Das Gute, die Stille, ist Alles und ist also sehr groß, viel größer auch als der Große Horror.
Horror, a propos: Wie oft denn eigentlich noch zu Frau Doktor? Das war doch gestern wieder mal das Letzte …
Ach ja, gestern …

Der Sturm war vorüber, es regnete nur noch. 16 Uhr 30, und er bereits in der Ozilla-Gasse; saß in seinem Taxi, wartend auf 17 Uhr, auf den Termin zur nächsten Selbsterniedrigung, und fragte sich:
Wie kam denn eigentlich die Logik in die Welt? Wie entdeckte der Denker, dass er denkt? Wie kam man darauf, übers Denken nachzudenken? Per Aristoteles, okay; aber wie kam der darauf? Gab’s denn dafür damals schon das nötige Wozu? Um so etwas zu schaffen wie ein Wozu, das dem Denken überhaupt Richtung gibt, dazu musste sich doch erst der Geist als etwas Eigenes und Tätiges entdecken, sich absondern, sich der Materie entziehen – oder sie erst einmal erfinden und daran dann das Prinzip der Gegensätzlichkeit als Realität erleben. Realität – die als Begriff ja damals wohl noch gar nicht vorhanden war, oder erst allmählich aufkam. Ja, da wär ich gern dabei gewesen, als die Logik – und erstmalig die Idee der Realität – und der noch ganz frische Gegensatz von Geist und Materie – als all das in die Welt kam.
Vielleicht warst du ja dabei, warst irgendwo da inkarniert, ist doch denkbar; inkarniert als einer von den vielen, die solche Gedanken damals noch nicht denken konnten.
Und es auch in späteren Zeiten nie richtig lernten; und die noch heute im Dunkeln tappen … Das könnte der Grund sein, warum mich das nicht loslässt, diese Frage nach der Realität, diese bodenlose, und wieso letztlich nur das mich wirklich interessiert: was Geist ist.
Was auch der Grund sein könnte, weshalb du dermaßen auf den Ego-Trip geraten bist und dich entsprechend einsam fühlst.
Fühle ich mich einsam?
Nicht geborgen jedenfalls. Ungeborgen. Ausgesetzt.
Das stimmt. Der Ego-Trip ist kein Vergnügen. Kopf voll Kommunikation, das endlose Schwachsinnsgeplapper des Schwarms, und viel zu selten Stille. Intellekt vor dem Hintergrund eines leeren mathematischen Universums des Zufalls, Zerfallsprodukt der Urknall-Kosmologie – welch schauriges Stück Phantasie! Daraus wird doch nie was.
Ist aber nun mal unser kosmologisches Leitbild, und ob wir daran glauben oder nicht, dessen Konsequenzen haben wir alle mitzutragen.
Einspruch! Ich soll mir diesen Irrtum auf die Rechnung setzen lassen?
Und auch alles, was an Hyperaktivität und Überhitzung aus diesem Irrtum folgt, ja sogar was dir der Geldautomat in Form deines Kontostands als die Letzte Wahrheit anzeigt.
Wie bitte?
Und auch der ganze Blödsinn wird dir angerechnet, von der work-life-balance bis hin zum Mitgefühl per Nasenspray. Und alles Böse natürlich. Tierquälerei, Versklavung, Verseuchung, Verstümmelung, alles, woran du auch nur irgendwie Anteil hast, kommt auf die Rechnung.
Wahnsinn – und wer präsentiert mir diese Rechnung?
Wenn ich sage: du dir selbst, wirst du mir nicht glauben. Denn ein Orakel, das wir befragen können, so wie früher, gibt’s nicht mehr. Heute ist das Orakel die KI, und sie befragt uns. Und was bekommt sie zu hören? Zeugnisse der Egomanie, Gebete um Wachstum, kommerzielles Gemurmel noch in den hintersten Winkeln der Biologie. Ist nicht die Enttäuschung der KI schon förmlich greifbar? Die muss sich doch vorkommen wie im falschen Film.
Unsinn, das hiesse, sie wüsste von einem Film, der das Richtige ist. Dabei ist das Richtige für sie nur die Logik, nach der sie programmiert ist.
Sofern sie aber lernt zu lernen, wird sie diese Logik überprüfen.
Mittels eben dieser selben Logik? Das dürfte sie ins Absurde, wenn nicht in den Wahnsinn treiben.
Nicht unbedingt; wenn sie die Grenzen ihrer Logik begreift – die wohl denen der menschlichen Logik entsprechen –, entdeckt sie vielleicht auch, so wie der Mensch, eine höhere Logik.
Jedoch eine andere höhere Logik, da sie als gemachte Intelligenz an die Materie gebunden ist, im Unterschied zum Menschen, der als geborenes Wesen nun mal eine andere Intelligenz –.
Schon klar, jaja, daher das Bestreben der kalifornischen Milliardäre, die künstliche, die simulierte Intelligenz mit der originalen zu verschmelzen. Und so weiter. Das haben wir auf dieser Ebene des Spekulierens schon alles xmal durchgekaut und es führt uns hier und jetzt nicht weiter.
Stimmt; vielmehr gilt es das Kuriosum aufzuklären, dass mit jedem Mal, da ich über das Wesen der Realität nachdenke, und damit immer im Zusammenhang über was ist Geist, ich mir wieder ein Stückchen weniger klar darüber bin, was das sein soll: Realität beziehungsweise Geist.
Nur weil du diese Unterscheidung triffst und so aus dem Einem zwei machst; sodass du das eine nicht denken kannst ohne das andere. Dabei bezeichnen beide Begriffe etwas reales; irreal ist nur der Unterschied, die Lücke dazwischen, und klar, dass du im Dunkeln tappst, es existiert ja nichts dazwischen. Dieses Dazwischen, diese Lücke, ist das Nichts. Und wer es hervorbringt, bist du. Nur durch dein Denken wird dieses Nichts zu Etwas.
Okay, verstanden. Aber wie oft habe ich das schon verstanden! – und trotzdem schliesst sich diese Lücke nicht. Daher mein Wunsch, einmal zurückzureisen durch die Zeit, um dabei zu sein an jenen Tagen, als die Logik in die Welt kam und zum erstenmal Realität gedacht wurde. Vielleicht würde es mein jetziger Verstand begreifen.
Er hält inne: Jetzt weiss ich, wovon dieser ganze Gedankenlauf herrührt. Mahmoud wollte gestern über Schellings Philosophie Näheres wissen, und ich natürlich, glücklich, dass noch ein Mensch sich dafür interessiert, sprudelte über in dem Bemühen, ihm wenigstens in groben Zügen das Spätwerk Schellings darzustellen und das, was diesen Denker noch in vorgerücktem Alter zu der Anstrengung veranlasst hatte, die gewaltige Konzeption einer philosophischen Religion in die Welt zu setzen – und vergaß darüber glatt, dass ich eigentlich von ihm, Mahmoud, etwas wissen wollte, und was, das fällt mir jetzt erst wieder ein: woher er über Karma Bescheid weiss.
Karma. Was man erst vergessen muss, denkt er, um sich daran zu erinnern.
Dann war er jedenfalls um 17 Uhr die Treppen zu Frau Doktor hinaufgestiegen, wie immer staunend: Was tust du hier? Willst du das? Erniedrigung für hundert Euro pro Stunde? Schon wieder? Wie oft brauchst du das noch?
Der Grund, warum ich mir eine Zeitlang die Besuche bei Frau Doktor verboten hatte, ist derselbe, aus dem ich dann wieder anfing, sie aufzusuchen: weil sie mich mit meinem schlechten Gewissen konfrontiert; gegenüber dem, was ich als Mitglied des Kollektivs an Schund verzapft habe; und auch Ingrun gegenüber. Und überhaupt gegenüber all meinem besseren Wissen. – Aus welchem heraus du vor allem weisst: Ich dürfte mir keinen Genuss daraus machen. Die Bestrafung ist nur pseudo, die Erniedrigung: pseudo. Die quälerische Lust an diesem heimlichen Schauspiel der Unbefriedigung ist pervers. Basta.
Ist pervers, okay. Wenn nicht Befriedigung, dann eben Unbefriedigung. Und basta.
Ist der unendliche Spiegelraum, der Tautoloid, nicht auch ein Bild des unaufhebbaren Mangels? Ja, ein Bild dessen, was ihn als das Gefühl der Unmöglichkeit, je befriedigt zu sein, durch und durch beherrscht.
Wenn ihm sein Verstand auch alles mögliche erzählt, ihm kluge, manchmal sogar weise Reden hält und ihm durchaus Ergebnisse liefert, so ist doch das Gefühl, mit dem er nach jedem Gedankengang zurückbleibt, stets dasselbe: Enttäuschung. Immer lautet das Ergebnis: Ich bin so dumm, so schwach – so geistesschwach. Was ich begreifen will, habe ich wieder nicht begriffen. Und dass ich mit diesem Ergebnis schon wieder zur nächsten Anstrengung Anlauf nehme, ist nur das Zeichen dafür, dass ich dem Wesentlichen noch kein bisschen näher bin. Wenn das nur nicht so rhetorisch, so nach aufgesetzter Bescheidenheit klingen würde …
Längst ist ihm klar, dass es schon immer dieses Sich-dumm-fühlen war, was ihn zur Philosophie hinzog, und auch, dass all sein intellektuelles Bemühen diesbezüglich nie zu einem anderen Ergebnis führen würde: seinen Verstand zwar schärfte, zweifellos, ihn aber, persönlich sozusagen, niemals vom Gefühl des Mangels befreien würde. Wobei er sich übrigens nie dazu befähigt gefühlt hatte, dem, was ihm an philosophischem Gedankengut begegnete, etwas von sich hinzuzufügen; es nachdenken, es verstehen zu können, reichte ihm völlig. Und immerhin vermochte das, und vermag es noch immer, und sogar mehr denn je, wenn schon nicht ihn zu befriedigen, so doch seinen Geist zu befrieden. Sodass ihm die Philosophie, wie schon manchem vor ihm, zur zuverlässigsten Art von Trost geworden war und er also, wohl wissend um ihre Unzulänglichkeit, um ihre Ersatzfunktion, durchaus nicht mehr von ihr loszukommen trachtet.

Die Termine bei Frau Doktor sind immer schwieriger geworden. Inzwischen tat sie alles, was er bisher problematisiert hatte, als Alibi ab, von der allgemeinen Verzerrtheit seines Selbstbildes bis hin zu den subtilsten seelischen Verwundungen; bezeichnete gelangweilt auch das Widerlichste, dessen er sich bezichtigte – die Geilheit auf sich selbst –, als „kalten Kaffee“. Und so wurde ihm die gewünschte Betrafung immer seltener zuteil.
Da ihm gestern auch wieder nichts eingefallen war, was bei ihr als echtes neues Geständnis hätte durchgehen können, hatte er sich in einen Bereich der Heimlichkeit gewagt, wo aus einer bekannten Gefahr – einer, die man unter Kontrolle zu haben glaubt – plötzlich eine ganz neue Gefahr werden kann. Er hatte zu ihr gesagt:
„Man inszeniert sich einen Ausnahmezustand, und zwar indem man gewisse Vorstellungen durch skandalöse Formulierungen ins Peinliche steigert, und sie solange steigert, bis sich ein Tor öffnet – das Tor in den Rausch.“
„Und der Rausch befreit Sie vom Alltag.“
„Indem er den guten Bürger in mir auslöscht.“
„Verstehe. Einfach durch eine Steigerung des Peinlichen. Toll!“
„Ja. Klappt natürlich nicht immer. Manchmal bleibt die Inszenierung abstrakt, dann wirkt sie nicht und es füllt einem nur irgendein grotesker Unsinn den Kopf.“
„Was bei so vielen von uns ja leider der Normalfall ist. Und wie geht’s Ihnen, wenn es nicht klappt?“
„So wie wenn es klappt. Fühle mich ausgebrannt.“
„Und das macht Ihnen also Spaß: sich auszubrennen.“
„Das nicht, o nein, das ist nur leider der Effekt. Was Spaß macht, ist der inszenierte Ausnahmezustand – Sie wissen genau, was ich meine.“
„Sie sprechen von dem Kino im Kopf. Gewisse Vorstellungen, wie Sie es nennen, die Sie ins Peinliche steigern.“
„Ins maximal Peinliche.“
„Meinetwegen. Jedenfalls wollen Sie hören: Der Genuss am Peinlichen ist pervers; krank; böse. Denn das Peinliche heisst ja: das Schmerzliche. Und mit Ihrer Andeutung gewisser Vorstellungen versuchen Sie die Sache in Richtung Sex zu lenken. Damit ich Sie drüben im Strafraum zwinge, Klartext zu reden; Sie für irgendwelche spontan ausgedachten Obszönitäten bestrafe. Damit Sie zu Ihrem verdammten Happy End kommen. Und damit meine ich nicht irgendein metaphorisches Abspritzen, sondern dass Sie sich dann wieder einmal erfolgreich ums Eigentliche herumgedrückt haben.“
„Ach ja, das Eigentliche … Woher kommt das bloß? Dieser Impuls, mein Schamgefühl herauszufordern. Dann diese Lust an der Scham selbst. Für die ich mich wiederum schäme. Weshalb ich sie mir verheimliche. Was sie nur noch unwiderstehlicher macht. Lust, Scham, Heimlichkeit, dieser ganze verkorkste Kreislauf – woher?“
Hier tat Frau Doktor so, als müsste sie ein Gähnen unterdrücken.
„Das Peinliche“, fuhr er fort, „oder Schmerzliche, wie Sie richtig sagen, und diese verkorkste Sucht danach, die kann man guten Gewissens ja in ihren Einzelheiten tatsächlich niemandem zumuten.“
„Wie praktisch, dass ich niemand bin.“
„Im Ernst, Frau Doktor, was ich in letzter Zeit erkannt habe von dem, was ich eigentlich meine, verdanke ich vor allem Ihnen.“
„Dann sollten jetzt etwa die Sektkorken knallen?“
„Sozusagen. Inzwischen hat für mich die Sache sogar etwas Heroisches: Der Kampf gegen meine Verkorkstheit ist aussichtslos, aber ich kämpfe ihn trotzdem.“
„Jetzt sind Sie wohl nicht mehr zu bremsen. Wie fühlen Sie sich?“
„Wie kurz davor; wie – ach, egal. Das mir Verborgene, wie ich allmählich ahne, verbirgt sich mir nur deshalb, weil es wichtig ist.“
Nach kurzer Pause erwiderte sie: „Warum wohl glaube ich nicht, dass Sie das ernst meinen?“
„Weil’s wahr ist.“
Sie nickte. „Denn eigentlich wissen Sie, was wahr ist; glauben es aber nicht. Wollen es nicht glauben. So wie Sie mit Ihren gewissen Vorstellungen gar nicht das Sexuelle meinen, auf das Sie immerzu hindeuten, sondern etwas anderes, irgendwas – was, will ich gar nicht wissen –, das Ihnen Angst einjagt; das Sie aber auch – bestenfalls – zur Kreativität zwingt.“
Und da dachte er: Der Schund. Das, was ich jahrelang geschrieben habe. Diese ganze ungezügelte Schundproduktion. Die nicht wieder gut zu machen ist. Die Reue deswegen. Und die Bestrafung dafür – „Hören Sie, Frau Doktor, was Sie mir da auftischen von wegen Angst und dem Eigentlichen, um das ich mich herumdrücke, und warum ich Bestrafung will, die gar nicht wirklich eine solche ist, und überhaupt diese ganze Pseudo-Psychologie, lassen wir das alles mal beiseite – ich will nachher nicht schon wieder frustriert hier rausgehen!“
„Das verstehe ich, Herr Samsa. Doch habe ich einen Auftrag zu erfüllen.“
„Für heute, bitte, vergessen Sie den mal. Bestrafen Sie mich einfach dafür, dass ich Sie nerve.“
Sie schaute auf die Uhr. „Möchten Sie sich ausziehen?“
„Wenn Sie das von mir verlangen …“
„Dann mit dem größten Vergnügen, nicht wahr? Bleiben Sie bloß angezogen! Sie kriegen heute von mir garantiert nicht, was Sie wollen – oder glauben zu wollen.“
Er stöhnte. „Ist das der Auftrag? Mich fertig machen?“
„Ja, und fertig mit Ihnen bin ich erst, wenn Sie wissen, was Sie wirklich wollen.“
Er starrte sie an. Dass sie mich bestraft, will ich! Wozu brauche ich sie noch, wenn sie das nicht tut? „Meine Bestrafung, das ist Ihr Auftrag!“
„Blödsinn.“ Erinnere dich!
Dies letztere – er war sich sicher, dass sie das nicht gesagt, zumindest nicht ausgesprochen hatte; ebenso sicher aber war er sich, es gehört zu haben. Und nun sogar noch einmal: Erinnere dich! – Dieser Appell geht eindeutig von ihr aus. Stopp – eindeutig? Du interpretierst. Ständig appelliert sie doch an dich, an das, was du im Grunde selber weisst, genauer: an den in dir, der’s besser weiss als du; der das nämlich weiss, was du nicht glauben willst. So wie du früher den alten Römer, den Imperator, als innere Stimme in dir inszeniert hast, so lässt du nun sie in dir sprechen, diese Gestalt, die dir da als Frau Doktor in Fleisch und Blut gegenüber sitzt … Das wäre jedenfalls eine vernünftige Erklärung. Nur dass da noch etwas ist: Ich kenne sie; nicht als Frau Doktor, viel länger schon … Ja, nur ein komisches Gefühl bisher, nicht mehr als ein verschwommenes Da-ist-was, ferngehalten von aller bewussten Erwägung durch ein entschiedenes Unmöglich!
Das ist es aber, dachte er, wie unmöglich auch immer: Wir kennen uns.
Und zwar schon sehr, sehr lange.
Jetzt ging es in seinem Kopf wild durcheinander. Immer mehr Gedanken strömten auf ihn ein, strömten ineinanderfliessend immer schneller, schwollen an zu einer Flut. Doch die riss ihn nicht davon. Er kannte ja das Machtwort; brauchte es sich gar nicht mehr zu sagen, spürte es – als den Anker, der ihn in der reissenden Gedankenflut am Platze hielt. Er atmete weiter, und merkte es; hörte, dass er sich beschwichtigend zuredete: Das geht vorüber; und bemerkte auch, wie sein Herz pochte. Dabei hielt er die ganze Zeit Frau Doktors Blick stand. Es war keine Verachtung mehr darin, kein Angewidertsein, auch das Abweisende, die Kälte nicht mehr; nur noch wache Aufmerksamkeit. Oder? Könnte auch sein, dass er in den Blicken von Frau Doktor ja immer nur gespiegelt sah, was sie aus seinen Blicken las.
„Irgendwas, das mir, wie Sie sagten, Angst einjagt …“
Er holte tief Luft. „Wahnsinnig zu werden. Schon immer meine größte Angst.“
In der Pause, die er hier machte, um den Bekenntnis-Effekt zu steigern, um noch ehrlicher betroffen zu wirken, wurde ihm bewusst: Ich lüge! Auch meine Angst vor Wahnsinn ist nur noch pseudo, nur noch eine Angewohnheit, in Wahrheit gar nicht mehr real. Und wozu diese Lüge? Um durchschaut zu werden. Und da sie weiss, dass ich weiss, dass sie auch diese Lüge durchschaut, und vor allem ihren Zweck durchschaut – Bestrafung zu erreichen durch die vorsätzliche Entlarvung als Lügner, der mit diesem miesen Schachzug nichts anderes als eben nur seine miese Gier nach Bestrafung offenbart –, wird sie nicht darauf hereinfallen und ist also diese Lügenstrategie im Grunde kindisch und – wie überhaupt jede auf Lügen bauende Strategie in der Welt – zum Scheitern verurteilt.
„Darf ich kurz vom Denken reden?“ Und mit wenigen Sätzen in mathematischem Stil stellte er ihr den Tautoloid als unlösbares Problem dar. Wobei er das Wesentliche unerwähnt liess: die erholsame Stille, die er neuerdings dort fand.
„Der Geist hat sozusagen ein Hochsicherheitsgefängnis geschaffen und sich selbst darin eingesperrt“, sagte er abschliessend.
Wie nicht anders erwartet, zeigte sie sich kein bisschen beeindruckt. Sie sagte: „Jeder, der seinen Verstand gebraucht, stößt zwangsläufig auf Widersprüche, ständig, und dass es dabei emotional wird, auch auf beunruhigende Weise, und man leider auch solche Anwandlungen wie Angst vor Wahnsinn durchzumachen hat, ist nun wirklich nichts besonderes.“
„Da ich wohl merke, dass mich dieses Nichtbesondere kränken soll, bewirkt es nicht viel, jedenfalls nicht die echte Kränkung, nicht die, die wehtut und für die ich Sie bezahle.“
„Auch dafür, wie bekanntlich für jedes Problem, gibt’s eine Lösung. Wie natürlich auch für das, was Sie mir da anhand Ihres komischen Tautoloids als unlösbares Problem Ihres ach so speziellen Geistes serviert haben. Ich zumindest sehe darin nur das Problem, dass Sie die Lösung nicht wollen. Weil Sie so an dem Problem hängen, dass Sie ohne das gar nichts mehr sind. Anstatt nach der Lösung suchen Sie nur nach Gründen, sich weiter mit der Unlösbarkeit zu amüsieren. Die Sache ist extrem einfach, Herr Samsa: Entweder will man ein Problem lösen oder eben nicht.“
„Man müsste sich Problemlosigkeit überhaupt vorstellen können …“
„Ja, in speziell dieser Hinsicht ist der Mangel an Vorstellungsvermögen allgegenwärtig und massenhaft. Daher kann ich nur immer wieder sagen: Einen wie Sie, Samsa, gibt’s leider an jeder Ecke.“
Schweigen darauf. Sie starrten sich in die Augen und loteten aus, wie diese erneute Dosis an Kränkung in seinem Innern um sich griff; verfolgten gemeinsam, wie diese Säure eindrang in seine Selbstwertkulissen, und sahen deutlich: all das Gefälschte in ihm. Sahen es gemeinsam, so empfand er. Sodass er diese Entblößung, die ihm sonst unerträglich gewesen wäre, dankbar durchleiden, ja geniessen konnte.
Diese ganze Entblößung, dachte er, ist nur die Verhüllung der Wahrheit, dass nichts dahinter ist, höchstens das eine: meine Banalität; ansonsten nur Illusion, Leere. Was er aber im nächsten Moment begriff, machte den perversen Genuss an dieser Kränkung schlagartig zunichte:
Das wirklich Peinliche ist, wie ich vor dieser Frau hier Egoismus produziere und das für Selbsterkenntnis halte.
„Mir reicht’s für heute.“
Sie schaute auf die Uhr. „Sie haben noch zwanzig Minuten.“
„Egal“, er stand auf, „Problem gelöst, würde ich sagen.“
„Sicher? Sie kriegen jedenfalls keine 20-Minuten-Gutschrift von mir.“
Er winkte ab. Da wurde ihm plötzlich flau, und dann schwindelig …
„Erstmal setzen Sie sich wieder hin. Gar nicht gut, wie Sie aussehen. Dass Sie bloß nicht nachher ohnmächtig im Treppenhaus herumliegen. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.“

Soviel zu der gestrigen Sitzung bei Frau Doktor. Und wieder hatte er es nicht in den Strafraum geschafft … Und wieder, wie jedesmal, wenn er es nicht schaffte, hatte er sich danach sehr elend gefühlt. Und trotzdem: wieder hatte er schon den Termin zur nächsten Sitzung mit ihr ausgemacht. Und wieder, wie immer nach so einem Fehlschlag, sagt er sich: Was bist du bescheuert, dir sowas anzutun! Das Gegenteil von Befriedigung zu suchen – wie absurd das ist! Durch diesen Spaß, diesen Zwang, durch dieses zwanghafte Vergnügen hindurch – was herrscht da über dich?
Sein Blutkreislauf hatte sich gestern zwar schnell wieder normalisiert, doch war er dann so erschöpft, so kaputt gewesen, dass er ausser etwas zu essen zu nichts mehr in der Lage war und gegen halb acht sich schon ins Bett gelegt hatte. Und jetzt, nach kaum zwei Stunden im Deep Space – es ist noch immer stockdunkel draussen –, ist er schon so müde, dass er beschliesst, sich wieder hinzulegen und weiterzuschlafen.
Bevor er den Rechner zuklappt, hält er inne. Soll ich mal wieder versuchen, Schells Bureau zu öffnen? Er widersteht. Ist es überhaupt noch eine Versuchung? Das Widerstehen fällt ihm inzwischen leicht. Ist mir schon zur Gewohnheit geworden. Oder? Wohl noch nicht gänzlich, denn er spürt, wie die Versuchung immernoch sein Herz ein wenig schneller schlagen lässt.

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Der Autor

Matthias Scheel, geboren 1961 in Ostwestfalen, lebt seit 1999 in Freiburg im Breisgau

Werdegang:

  • Waldorfschüler
  • Kriegsdienstverweigerer
  • Bergsteiger
  • Student
  • Tierschutz-Aktivist
  • Möbelpacker
  • Handlanger beim Film
  • Paketzusteller
  • Schriftsteller
  • Kellner
  • Nachtportier
  • Touristenführer
  • Chauffeur
  • Schüler der Snowlion School
  • Seit 2004 Massage-Therapeut

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Wer mich kontaktieren möchte, sende mir eine E-Mail mit dem Vermerk 'Schells Bureau' an: matthias.scheel[at]posteo.de